Schüttelreim

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Der Schüttelreim ist ein Doppelreim, bei dem die Einzelphoneme oder Konsonantencluster im Anlaut der letzten beiden betonten Silben miteinander vertauscht werden. Im Englischen wird die Methode der Vertauschung als Spoonerismus bezeichnet, im Französischen als „contrepèterie“.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Schüttelreim ist eine im deutschen Sprachraum seit dem 13. Jahrhundert bekannte Gedichtform. Seit dem 19. Jahrhundert werden Schüttelreime hauptsächlich für vergnügliche Zweizeiler verwendet. Der Begriff „Schüttelreim“ wird seit Ende des 19. Jahrhunderts verwendet. Beliebt war die Form in Zeitschriften wie dem Kladderadatsch, den Fliegenden Blättern, dem Simplicissimus und der Jugend.

Schüttelreime sind weitgehend eine Besonderheit der deutschen Literatur. Verwandt ist der ungarische kecskerím. Hingegen stammen neulateinische versiculi quassati, englische und französische Beispiele meist von Autoren mit deutscher Muttersprache.[1]

Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ich fuhr mit meinem Leiterwagen,
wo Steine und so weiter lagen.

Die Kadenzen können stumpf oder klingend sein. Beispiel: „Er würgte eine Klapperschlang’, / bis ihre Klapper schlapper klang.“ mit stumpfer Kadenz.[2] Gängiger ist die Version „Es klapperten die Klapperschlangen, bis ihre Klappern schlapper klangen.“ mit klingender Kadenz.

Weitere Beispiele:

Du sollst ein krankes Nierenbecken
nicht mit zu kalten Bieren necken.
Auch sollte man bei Magenleiden
den Wein aus sauren Lagen meiden.
Glaub nicht, dass alle Zungen lügen,
die warnen vor den Lungenzügen!
[…]

(Eugen Roth)
Venedig[3]

Die Traumstadt muss zum Märchen passen,
nicht nur den Hochzeitspärchen-Massen,
wie meist man’s von Ven-edig liest.
Auch mancher, der noch ledig ist,
zu zweit sich eine Barke mietet,
wo Herrlichstes San Marco bietet.
[…]

(Eugen Roth)

Beim Saufen hocken Haferbrauer
im Haufen Socken braver Hauer.

(Dieter Brandl)

Die geschüttelten Buchstaben müssen nicht gleich sein. Es genügt, wenn sie gleich oder ähnlich lauten:

Frauengroll:
Grauenvoll!

(Clemens Plassmann; strenggenommen nicht ganz sauber geschüttelt, weil ein r verlorengeht)

Auch der Glottisschlag, der im Deutschen nicht geschrieben wird, kann geschüttelt werden:

Erst isst du mit den Indern Reis,
dann gibst du deinen Rindern Eis!

Bei Wörtern mit einer Konsonantengruppe am Wortanfang kann man auch nur einen dieser Konsonanten verschieben.

Ich brauche jetzt erst recht den Scheck,
sonst krieg ich einen echten Schreck!

Hier wird zum Beispiel nur das „r“ in Schreck verschoben anstatt „schr“. Außerdem verschmelzen manchmal hintereinander folgende, gleichklingende Konsonanten (hier im Beispiel „t“ und „d“) zu einem einzigen Konsonanten (im Beispiel „t“), da dies gleich bzw. ähnlich klingt oder es entfällt ein stummes „h“ und wird zu einem langen Vokal oder einem Doppelvokal.

Es wurden ganze Bücher in Schüttelreimform herausgegeben, wie beispielsweise Versionen des Faust oder ein Opernführer. Viele Sprachkabarettisten haben traditionelle Texte, etwa Volksmärchen, in Schüttelreimen erzählt.

Doppelter Überzwerch-Schüttelreim[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine Sonderform stellen vierfach abgewandelte Vierzeiler dar, bei denen auch die Vokale der Schüttelsilben vertauscht werden:

Ein Wagen fuhr in Gossensaß
durch a [d. i. eine] tiefe Soßengass,
sodass die ganze Gassensoß
sich über die Insassen goss.

Den Arm um sie geschlungen zag,
fragt er mit sanftem Zungenschlag:
„Was war das für ein Schlangenzug,
der mich in deine Zangen schlug?“

Oder mit Kreuzstellung der Schüttelpaare:

Es war einmal ein Leibesriese,
der machte eine Liebesreise.
Des Abends sprach er: „Reib es, Liese!“
Und Liese kam und rieb es leise.

(Johannes Rövenstrunck)

Auf ihre Fahnen warten Hisser
und trinken starkes Hirtenwasser.
Da urteilen die harten Wisser:
„Na, ihr seid keine Wirtenhasser!“

(Dieter Brandl)
Mythologische Momentaufnahme[4]

An dem Felsen Weiber lehnen,
eingehüllt in Weberleinen,
die Prometheus’ Leib erwähnen
und um seine Leber weinen.

Ein Schüttelreim kann auch in einen Liedtext eingeflochten sein, wie bei einem Vers im Lied „Macho Macho“ von Rainhard Fendrich: „Willst Du behaarte Männerbrust, Du nicht über den Brenner mußt.“[5]

Schüttelreimsammlungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Hans Arthur Thies (Hrsg.): Zwei Knaben auf dem Schüttelrost. Die schönsten und neuesten Schüttelreime, Klapphornverse, Leberreime, Schnadahüpfl und Limericks. Verlag Braun & Schneider, München 1954.
  • Benno Papentrigk (d. i. Anton Kippenberg): Schüttelreime. Insel Verlag, Leipzig 1939. (1942: Insel-Bücherei Nr. 219/3).
  • Werner Friedrich Braun: Zur mittelalterlichen Vorgeschichte des Schüttelreims. In: GRM 44 (1963), S. 91–93.
  • Manfred Hanke: Die schönsten deutschen Schüttelgedichte. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1967.
  • Clemens Plassmann (Pseudonym: C. Palm-Nesselmanns): Schüttelreime. DVA, Stuttgart 1967.
  • Franz Mittler: Gesammelte Schüttelreime. Hrsg.: Friedrich Torberg. 2. Auflage. Piper Verlag, München 1998, ISBN 3-492-21642-0.
  • Wendelin Überzwerch (Hrsg.): Aus dem Ärmel geschüttelt. J. Engelhorns Nachf. Stuttgart 1935, gekürzte Neuauflage Deutscher Bücherbund, Stuttgart 1967.
  • Leo Kettler: Die Rattenleier: Schüttelreime – Lieder – Holzschnitte. Aphaia Verlag, Berlin 1989, ISBN 3-926677-07-4.
  • Erich Mühsam: Mühsam’s Geschütteltes. Zusammengestellt von Reiner Scholz, Stadt- und Universitätsbibliothek der Stadt Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-88131-075-4.
  • Miguel Herz-Kestranek (Hrsg.): Gereimte Sammelschüttler. Mit Wortspenden geistreicher Schüttelgenossen. Brandstätter, Wien 1995, ISBN 3-85447-606-X.
  • Miguel Herz-Kestranek (Hrsg. und Mitschüttler): Mir zugeschüttelt. Neueste und allerneueste Schüttelreime aus österreichischem Volksmund von Apetlon bis Zürs. Brandstätter, Wien 1999, ISBN 3-85447-838-0.
  • Werner Sutermeister: Der fröhliche Apfelbaum. 2. Auflage. Gute Schriften, Bern 1973, ISBN 978-3-7185-0383-4.
  • Erwin Thieleke: Erwin macht ein Gedicht – dann brauch’ ich keine Rosen … Schuettel-Schuettel 1000 heitere Schüttelreime. Media Tec, Baden-Baden 2009, ISBN 978-3-931387-32-7.
  • Natalie Fischer (Hrsg.): Ferien, die schönste Zeit des Jahres. Schüttelreime. Mit Illustrationen von Klaus Päkel. MONS Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-946368-08-3.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Richard M. Meyer: Vom Schüttelreim. In: Deutsche Dichtung 21 (1896/97), S. 78 ff.
  • Manfred Hanke: Die Schüttelreimer. Bericht über eine Reimschmiedezunft. dva, Stuttgart 1968.
  • Ludwig Roman Fleischer: Edam und Ava. Ein Schüttelepos nach John Milton. (Die Schöpfungsgeschichte in Schüttelreimen). Klagenfurt 2004, ISBN 978-3-901960-24-6.
  • Ludwig Roman Fleischer: Der Büttelschrei. Die Ilias, die Äneis und die göttliche Komödie in Schüttelreimen. Klagenfurt, 2007, ISBN 978-3-901960-39-0.
  • Rudolf Kleinert: Schneizlreuther Schüttelreime. CD-ROM, Schneizlreuth bei Bad Reichenhall (2008), DNB 988657260.
  • Ulf Annel, Daniel Heide: Geschüttelt – nicht gerührt. Schüttelreime. Druckhaus Gera, Erfurt 2004, ISBN 3-9809040-6-7.
  • Wolfgang Sohrt: Schüttelreime für Familienfeste. Urania, Stuttgart 2007, ISBN 3-332-01954-6.
  • Heinrich Steinberg: Faust – geschüttelt. Ein vorwiegend heiteres Spiel in 12 Bildern ziemlich frei nach Faust I. Lax, Hildesheim 1984, ISBN 3-7848-8251-X.
  • Heinrich Steinberg: Reinke Fuchs. Ein sehr altes, sehr neues Levitenbuch in Schüttelreimen und Hexametern. Lax, Hildesheim 1989, ISBN 3-7848-8258-7.
  • Harald Weinkum: Der Struwwelpeter in Schüttelreimen. Edition Va Bene, Klosterneuburg 2010, ISBN 978-3-85167-239-8.
  • Simon Pichler: Berührt, weil geschüttelt. Selbstverlag des Österr. Kabarett-Archivs, Graz 2017, ISBN 978-3-9501427-9-2.
  • Günter Fischer: Alexander löst den gordischen Knoten. Schüttelreime. Mit Illustrationen von Klaus Päkel. Band 1, mit einem Nachwort versehen von Natalie Fischer. MONS Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-946368-01-4.
  • Bernulf Bruckner: Schüttelfieber. LW Werbe- und Verlags GmbH, Krems/Wien 2018, ISBN 978-3-9504163-7-4.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: Schüttelreim – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Neulateinisch zum Beispiel: Clemens Plassmann: Chronogrammata et versiculi. Tertia pars. Druck Busche, Dortmund 1965, Versiculi quassati, S. 43–46 (Latein). – Beispiele in Englisch, Französisch, Italienisch, Neulateinisch und in deutschen Dialekten sowie gemischtsprachige Beispiele: auf schuettelreime.at und ein weiteres Beispiel (eher österreichisch als bairisch).
  2. Schwänke aus heiterem Himmel. In: Das große Heinz Erhardt Buch. Fackelträger, Lingen 1970. S. 222.
  3. Ferien, die schönste Zeit des Jahres. Schüttelreime. In: Natalie Fischer (Hrsg.): Mit Illustrationen von Klaus Päkel. MONS Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-946368-08-3.
  4. Schüttler des Tages vom 01.10.2018. In: Schuettelreime.at. Herz-Kestranek & Futter, 1. Oktober 2018, abgerufen am 1. Oktober 2018.
  5. Songtext Macho Macho von Rainhard Fendrich | LyriX.at. Abgerufen am 18. Oktober 2022.