Kritikalität
Kritikalität bezeichnet in der Kerntechnik sowohl die Neutronenbilanz einer kerntechnischen Anlage als auch den kritischen Zustand eines Kernreaktors oder einer Spaltstoffanordnung.
Eine Anordnung ist kritisch, wenn pro Zeitspanne ebenso viele freie Neutronen erzeugt werden, wie durch Absorption und Leckage (d. h. Verlust nach außen) verschwinden. Der kritische Zustand ist der normale Betriebszustand eines Kernreaktors, in dem eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion abläuft. Der Neutronenfluss und damit die erzeugte Leistung, also die pro Zeitspanne freigesetzte Wärmeenergie, können dabei höher oder niedriger sein; Kritikalität bedeutet nur, dass diese Größen zeitlich gleich bleiben.
Neutronenbilanz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die Neutronenbilanz wird zahlenmäßig ausgedrückt durch den Multiplikationsfaktor k. Dies ist die Anzahl der Neutronen in der folgenden „Generation“ pro Neutron der jetzigen Generation, oder die Anzahl neuer Spaltungen pro gespaltenem Kern. In der Praxis wird statt k meist die Reaktivität
- Überwiegt in der Neutronenbilanz der Neutronenverlust (k < 1), handelt es sich um eine unterkritische Anordnung.
- Eine kritische Anordnung wird bei ausgeglichener Neutronenbilanz (k = 1) erreicht.
- Ist die Neutronenerzeugung größer als der Neutronenverlust (k > 1), spricht man von einer überkritischen Anordnung.
Mehr als 99 % der bei der Kernspaltung erzeugten Neutronen werden innerhalb von 10−14 Sekunden nach der Spaltung emittiert (prompte Neutronen), der Rest erst nach einigen Millisekunden bis Minuten. Diese verzögerten Neutronen tragen einen Anteil
Verzögert kritisch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Der oben beschriebene kritische Zustand mit konstanter Leistung, k = 1, bezieht sich auf alle Neutronen einschließlich der verzögerten. Er kann daher genauer als verzögert kritisch bezeichnet werden.
Verzögert überkritisch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Eine Anordnung mit 1 < k < 1 +
Prompt kritisch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Mit k = 1 +
Prompt überkritisch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Eine Anordnung mit k > 1 +
Die einzige Ausnahme bilden bestimmte Forschungsreaktoren, bei denen „Pulse“ prompter Überkritikalität (Prompt Bursts) erzeugt und genutzt werden. Dazu ist ein negativer Temperaturkoeffizient der Reaktivität erforderlich, der die Reaktivität bei steigender Temperatur schnell sinken lässt, wodurch ein solcher Reaktor genügend schnell wieder unterkritisch wird. Ein Beispiel ist der Forschungsreaktor-Typ TRIGA.
Kernwaffen sind zwischen Zündung der konventionellen Sprengladung und nuklearer Explosion sehr kurzzeitig aber weit prompt überkritisch.
Dollar[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Der Unterschied
Zum Beispiel werden die Reaktivitätswerte von Steuerstäben praktischerweise in Cent angegeben. Die Reaktivitätswerte sind näherungsweise additiv, d. h. das Einfahren zweier Absorberstäbe von z. B. je 5 Cent bewirkt eine Reaktivität von −10 Cent. Schätzungen gehen davon aus, dass beim Störfall von Tschernobyl für kurze Zeit eine zusätzliche Reaktivität im Bereich mehrerer Dollar vorlag.
Kritikalitätsstörfall[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Bei Reaktoren wird eine ungewollte oder leichtfertig herbeigeführte positive Reaktivitätszufuhr vom kritischen Normalbetrieb aus – also verzögerte oder gar prompte Überkritikalität – als Reaktivitätsstörfall bezeichnet. Der SL-1-Unfall[4] am Idaho National Laboratory im Jahre 1961 und die Katastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986 waren Reaktivitätsstörfälle, die den Reaktor zerstörten. Die meisten heute in Betrieb befindlichen Leistungs- und Forschungsreaktoren haben negative Rückkopplungen, welche physikalisch zwangsläufig eine einmal eingetretene Überkritikalität wieder rückgängig machen.[5] Am bekanntesten darunter ist der Dampfblasenkoeffizient, welcher beim RBMK („Tschernobyl-Typ“) positiv, bei den meisten anderen Kernreaktoren jedoch negativ ist.[6] TRIGA-Forschungsreaktoren können durch den stark negativen Temperatur-Reaktivitäts-Koeffizienten sogar gefahrlos für Sekundenbruchteile prompt kritisch werden, bevor sie sich selbsttätig durch physikalische Gesetzmäßigkeiten wieder herunterregeln.[7]
Bei anderen kerntechnischen Anlagen, die im Normalbetrieb weit unterkritische Anordnungen sind (z. B. Wiederaufarbeitungsanlagen oder Brennelementfabriken), ist der Begriff Reaktivität wenig gebräuchlich. Der Störfall durch (Über-)Kritikalität heißt hier Kritikalitätsstörfall, wie beispielsweise der Nuklearunfall von Tōkaimura 1999, bei dem zwei Techniker einer Brennelementefabrik tödliche Strahlenvergiftungen erlitten. Frühe Unfälle vergleichbarer Art mit tödlichem Ausgang ereigneten sich z. B. 1945 (Harry Daghlian) und 1946 (Louis Slotin) an der Versuchseinrichtung Demon Core im Los Alamos Laboratory. Zur Vermeidung derartiger Störfälle ist es üblich, den spaltbaren Materialien Neutronengifte beizumischen und alle Berechnungen und Messungen mit entsprechenden Sicherheitsmargen durchzuführen. Neutronenreflektoren und eine Veränderung der physischen Form (z. B. von Ring zu Kugel) können jedoch zu sehr drastischen Leistungsexkursionen führen.
Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Thomas P. McLaughlin, Shean P. Monahan, Norman L. Pruvost, Vladimir V. Frolov, Boris G. Ryazanov, Victor I. Sviridov: A Review of Criticality Accidents. 2000 Revision. Los Alamos Reports, Nr. 13638. Los Alamos National Laboratory, Mai 2000 (englisch, nrc.gov [PDF; 3,9 MB; abgerufen am 18. Januar 2019]): “This revision of A Review of Criticality Accidents represents a significant expansion of the prior edition with the inclusion of one Japanese and 19 Russian accidents. In the first two parts of this report, 60 criticality accidents are described. [..] Excursions associated with large power reactors are not included in this report.”
- Andreas Aste: Die kontrollierte Kettenreaktion. 29. September 2015, arxiv:1202.5461 [abs].
- David Loaiza, Daniel Gehman: End of an Era for the Los Alamos Critical Experiments Facility: History of critical assemblies and experiments (1946–2004). In: Annals of Nuclear Energy. Band 33, Nr. 17–18, November 2006, S. 1339–1359, doi:10.1016/j.anucene.2006.09.009 (englisch).
- Robert E. Rothe: The Critical Mass Laboratory at Rocky Flats. In: Nuclear Science and Engineering. Band 145, Nr. 2, Oktober 2003, S. 161–172, doi:10.13182/NSE03-A2372 (englisch).
Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Kritische Masse
- Godiva-Reaktor
- Vierfaktorformel
- Liste von Unfällen in kerntechnischen Anlagen
- Leistungsexkursion
Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- ↑ E. B. Paul: Nuclear and Particle Physics. North-Holland, 1969, S. 253
- ↑ Hugh C. Paxton: Glossary of Nuclear Criticality Terms. (PDF) In: LA--11627-MS. Los Alamos National Laboratory, 1989, abgerufen am 17. Januar 2019.
- ↑ Alvin M. Weinberg, Eugene P. Wigner: The Physical Theory of Neutron Chain Reactors. University of Chicago Press, Chicago 1958, ISBN 978-0-226-88517-9, S. 595.
- ↑ Joint Committee on Atomic Energy: SL-1 Accident, Investigation Board Report. (PDF) Congress of the United States, Juni 1961, abgerufen am 17. Januar 2019.
- ↑ Reactivity Coefficients - Reactivity Feedbacks | nuclear-power.com. Abgerufen am 21. Juni 2023 (amerikanisches Englisch).
- ↑ Technology Jargon Series: Void Coefficient. 2. Februar 2019, abgerufen am 21. Juni 2023 (englisch).
- ↑ PHYSICS AND KINETICS OF TRIGA REACTORS. IAEA, abgerufen am 21. Juni 2023.