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Der Judenexkurs des Tacitus - Ein antikes Zeugnis für die Kenntnisse über das Judentum

Der Judenexkurs des Tacitus (Historien 5, 2-5)
Ein antikes Zeugnis für die Kenntnisse über das Judentum

von Gabriele Gierlich

Tacitus macht im 5. Buch seiner Historien (zum Text), die er um die Wende des 1./2. Jh. n. Chr. verfasste, Ausführungen über die Religion der Juden. Anlass seines Exkurses ist der jüdische Krieg (66-70 (73) n. Chr.), der die Juden stärker ins Blickfeld der Römer rückte. Welche Kenntnisse Tacitus über das Judentum hat und was er uns u.a. über den Sabbat, das Fasten, die jüdischen Speisegesetze, den Opferkult und den Gottesbegriff der Juden mitzuteilen weiß, soll im Folgenden genauer betrachtet werden.

1) „Die Ruhe am 7. Tag, so sagt man, habe ihnen gefallen, weil sie ihnen das Ende der Mühen gebracht habe“ (V,4).
Die Einrichtung des Sabbat führt Tacitus auf den Auszug aus Ägypten zurück: Der Exodus, so schreibt er, habe nämlich 6 Tage gedauert, bevor die Juden am 7. Tag im Gelobten Land angekommen seien. Das sei der Grund, dass die Juden den 7. Tag heilig hielten (V,3). Ebenso äußert sich der antike Historiker Pompeius Trogus (36,2,1ff.), der zur augusteischen Zeit lebte.

Tatsächlich findet sich in jüdischer Tradition neben der Begründung des Sabbats aus der Schöpfungsgeschichte, weil Gott am 7. Tage ruhte, noch eine andere, durch die der Sabbat mit der Wüstenwanderung verknüpft wird. Im 5. Buch Mose (5,15) heißt es, dass Gott den Juden im Gedenken an den Exodus, die Einhaltung des Sabbats auferlegt habe. Natürlich ist in der Bibel nicht von einer 6-tägigen Wüstenwanderung die Rede, die am 7. Tage endet. Denn nach der Bibel hat die Durchquerung der Wüste ja 40 Jahre gedauert, nur existiert in der Tat eine inhaltliche Verknüpfung zwischen Einhaltung des Sabbats und dem Exodus.
Doch darf man bei Tacitus mit Sicherheit keine solch tiefer gehende Bibelkenntnis voraussetzen, sondern man muss davon ausgehen, dass er sich vom Offensichtlichen hat leiten lassen. Dass die Juden einen wöchentlichen Ruhetag hielten, war in der Antike außergewöhnlich. Warum also diesen nicht aus einem anderen spektakulären Ereignis der jüdischen Geschichte erklären, nämlich der Auswanderung aus Ägypten durch die Wüste ins Gelobte Land? Denn der Exodus war auch den Heiden geläufig, wie antike Quellen belegen, so dass Tacitus mit seiner Bemerkung, die meisten Autoren behaupteten, die Juden stammten ursprünglich aus Ägypten, durchaus richtig liegt (V,3).
Da seit 63 v. Chr. eine jüdische Gemeinde in Rom existierte, konnten die Römer etwas über die Kultbräuche der Juden aus eigener Anschauung erfahren. Dass dies natürlich nur der ungenaue Blick von außen war, zeigt sich an den Halbwahrheiten, die über die Juden im Umlauf waren.

Der wöchentliche Ruhetag, den die Juden einführten, fiel in der heidnischen Umgebung auf, weil die Heiden, obwohl sie viele Götterfeste feierten, keinen festen Ruhetag in der Woche kannten.
Deshalb unterstellt Tacitus den Juden in böswilliger Weise, dass der wahre Grund für die Einführung des Sabbat im Grunde die Faulheit der Juden sei - und mit diesem Vorwurf steht Tacitus in der Antike nicht allein. Wir haben auch Zeugnisse anderer antiker Autoren, die in dieselbe Kerbe hauen (Iuvenal, sat.14,96-106; Rutilius Namatianus, De redit. suo 1,391). Der römische Philosoph Seneca rechnet sogar auf, dass die Sabbatruhe einen Verlust von einem Siebtel des Lebens bedeute und warnt davor, dass das Nichtstun in wichtigen Dingen großen Schaden anrichten könne (Sen. zit. bei Aug. civ. dei. 6,11).

Als Gipfel der Faulheit interpretiert Tacitus, dass die Juden nicht nur einen Tag in der Woche nichts täten, sondern einen solchen Gefallen am Nichtstun gefunden hätten, dass sie sich sogar jedes 7. Jahr auf die faule Haut legten.
Obwohl Tacitus maßlos übertreibt, liegt seinen Ausführungen ein wahrer Kern zugrunde: Es ist nämlich die jüdische Institution des Sabbatjahres, auf die er sich hier beruft. Diese beruht auf der Vorstellung, dass die Natur jedes 7. Jahr ihre Erträge von sich aus, ohne Zutun des Menschen, hervorbringt, dass die Natur gewissermaßen alle 7 Jahre ein Sabbatjahr einlegt. Dies geht auf die Bibelstelle 3. Mose 25,2-4 zurück, wo Gott die Israeliten anweist, sie sollten nach der Ankunft im Gelobten Land 6 Jahre das Feld bestellen und die Weinberge beschneiden. Aber im 7. Jahr sollten Feldbestellung und Weinbergsarbeit ruhen, damit das Land eine vollständige Sabbatruhe zu Ehren des Herrn halten könne. Dass die Juden ein Sabbatjahr einhielten, war in der Antike bekannt. Denn ein Erlass Alexanders d.Gr. erließ dem Juden jedes siebte Jahr die Abgaben und auch Iulius Caesar verzichtete jedes 7. Jahr auf die Tributleistung
Ausgehend von diesem 7. Jahr heißt es weiter in der Bibel (3. Mose 25,8ff.), dass nach 7 mal 7 Jahren, also nach 49 Jahren, das 50. Jahr für heilig erklärt werden und als Jobeljahr gefeiert werden soll. Das hebräische Wort „Jobél“, das hier zugrunde liegt, bedeutet „Widderhorn“. Mit dem Schall des Widderhorns sollte diese Festzeit angekündigt werden. Von dem hebräischen Wort „Jobél“ leitet sich unser Wort „Jubel“ ab. Auch die katholische Kirche hat die Institution des Jubeljahres übernommen, in dem ein besonderer umfassender Ablass gewährt wird. Zunächst wie im Judentum alle 50 Jahre angesetzt, wird es in der Kirche seit 1475 alle 25 Jahre begangen.
Unsere Redewendung „alle Jubeljahre einmal“ geht darauf zurück!

2) „Durch häufiges Fasten bekennen sie noch die einstige lange Hungersnot...“ (V,4).
Tacitus schreibt den Juden also häufiges Fasten zu und in der Tat wurde seit der frühen römischen Kaiserzeit dem Fasten im Judentum ein solcher Stellenwert zuteil, dass die heidnische Umgebung, den Verzicht auf Nahrung als besonderes Charakteristikum des Judentums ansah. Doch mit der Begründung erliegt Tacitus einem Irrtum. Denn der Verzicht auf Nahrung an bestimmten Gedenktagen hatte seinen Ursprung nicht in der Erinnerung an die Wüstenwanderung. Dass sich die Heiden das häufige Fasten der Juden aus dem Andenken an den Exodus erklärten, war aus ihrer Sicht insofern nahe liegend, als der Exodus aus Ägypten als bestimmendes Ereignis der jüdischen Geschichte bekannt war. Mit der Wüstenwanderung ging die Vorstellung von ungeheuren Entbehrungen einher, wie des Erleidendes von Hunger und Durst, so dass der Gedanke, dieser Erfahrung könne man nur durch Fasten eingedenk sein, für die heidnische Umgebung nicht abwegig war.
Neben den im jüdischen Kult festgesetzten Fasttagen konnten z.B. Sühne- und Trauerriten Anlass zum Fasten geben. Durch Fasten konnte auch die Gnade des Herrn erfleht werden. Die Fastenbräuche der Juden mussten um so mehr in der heidnischen Umgebung auffallen, als Fastenübungen in den alten griechischen und römischen Kulten kaum gepflegt wurden. Weder für Priester noch für Laien existierten Fastenvorschriften, um sich würdig auf den Vollzug einer heiligen Handlung vorzubereiten. Nur in den griechisch-orientalischen Mysterienreligionen nahm der Verzicht auf Nahrung einen wichtigeren Platz als Bestandteil des Kultes ein.

3) „Sie enthalten sich des Schweinefleischs in Erinnerung an die Plage. Denn diese Räude, mit der dieses Tier behaftet ist, hatte sie einst selbst gequält“ (V,4).
Interessant ist die Begründung des Tacitus, warum die Juden kein Schweinefleisch essen. Er erklärt dies damit, dass das Schwein den Aussatz auf die Menschen überträgt, und die Juden einst selbst davon befallen gewesen seien. Denn nach seiner Überzeugung wurden die Juden aus Ägypten vertrieben, weil sie an Aussatz litten (V,3).
Die rituellen jüdischen Reinheitsgebote, zu denen auch die Speisegesetze gehören, sind in der Bibel ausführlich im 3. und auch im 5. Buch Mose niedergelegt. Nach den Ausführungen der Rabbinen ist diesen Geboten unbedingt Folge zu leisten, ohne nach Gründen zu fragen. Denn es genügt, dass es so in der Bibel steht. 3. Mose 11,3 heißt es, dass die Juden nur Tiere, die gespaltene Hufe haben, Paarzeher und Wiederkäuer sind, essen dürfen. Damit ist das Schwein ausdrücklich ausgeschlossen, denn es ist kein Wiederkäuer.
Obwohl die Speisegesetze nicht hinterfragt werden sollen, hat man in der Antike jedoch auch versucht, eine Rechtfertigung für diese Anweisungen zu finden. So erklärt z.B. der jüdische Autor Philo von Alexandria (um die Zeitenwende) das Schweinefleischverbot dadurch, dass das Schweinefleisch fettes und sehr schmackhaftes Fleisch sei und der Mensch beim Genuss desselben leicht zur Völlerei verführt werden könne. Um aber Mäßigung zu wahren, sei das Verbot, Schweinefleisch zu genießen, den Juden auferlegt worden (De leg. spec. IV,17).
Das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch war in den Augen der Heiden eine solche Auffälligkeit, dass sie die vielfältigen Speisege- und verbote, die bei den Juden existierten, auf das Verbot des Essens von Schweinefleisch reduzierten. Bei den Römern nämlich gehörte das Schwein zur üblichen Ernährung, war dort sehr geschätzt und wurde auch als Opfertier dargebracht.
Doch war die Meinung, die Tacitus hier in Bezug auf das Schweinefleisch vertritt, in der Antike nicht gänzlich unbekannt. Denn auch der Grieche Plutarch nennt denselben Grund für die Ächtung des Schweinefleischs bei den Juden, weil man bei Genuss von Schweinefleisch befürchte, dass sich Flecken und Aussatz der Schweine auf den Menschen übertrügen (Plut. Symp. 4,4). In seiner Schrift De Iside et Osiride (8) weiß Plutarch in Übereinstimmung mit dem antiken Schriftsteller Aelian (Hist. Animalium 10,16) zu berichten, dass der Mensch beim Trinken von Schweinemilch an Aussatz erkranken könne.
Bei einschlägigen antiken Agrarschriftstellern, die sich mit Schweinen, ihrer Zucht und ihren Krankheiten befassen, findet sich allerdings nichts Dergleichen. Doch gibt es in der Antike die Vorstellung, dass bei Ausbruch einer Epidemie Tiere wie Menschen davon befallen würden, und bei dem medizinischen Fachschriftsteller Aëtius (5. Jh. n. Chr.) lesen wir, das Fleisch von Schweinen sei schwer verdaulich und es sei deshalb möglich, dass es Aussatz, Räude und Fieber beim Menschen erzeuge.

4) „Den Widder schlachten sie, gewissermaßen um dem Gott Amun Schmach anzutun; auch der Stier wird geopfert, weil die Ägypter den Apis verehren“ (V,4).
Die Juden dürfen ihrem Gott Lämmer und Rinder opfern, weil diese zu den reinen Tieren gehören. Da nach Zerstörung des Tempels durch die Römer (70 n. Chr.) keine Tieropfer mehr dargebracht wurden, beruft sich Tacitus hier also auf eine zu seiner Zeit nicht mehr aktuelle Opferpraxis.
Der Grund für diese Opfer war aber nach Tacitus nicht die Tatsache, dass diese Tiere als Schlachtopfer erlaubt sind, sondern dass die Juden damit einzig und allein die Ägypter provozieren wollten.
Wie bekannt ist, verehren die Ägypter ja Götter in Tier-Menschengestalt oder ganz in Tiergestalt. Besonders verehrt wurden der Widder und der Stier. Widderköpfige bzw. widdergestaltige Götter gab es in Ägypten mehrere. Der Gott Amun, den Tacitus erwähnt, gehörte dazu, aber die Ägypter verehrten auch einen widderköpfigen Schöpfergott namens Chnum. In einem Stier verkörperte sich der ägyptische Gott Apis, wie Tacitus richtig bemerkt.
Schon Moses hatte vorausgesagt, dass die religiösen Bräuche der Juden bei den Ägyptern auf Ablehnung stoßen würden. In 2. Mose 8,22 reagiert Moses auf die Weigerung des ägyptischen Pharao, die Juden ziehen zu lassen, indem er auf den königlichen Befehl, das jüdische Opferfest in Ägypten statt in der Wüste durchzuführen, antwortet, dass dies nicht möglich sei. Denn wenn sie vor den Augen der Ägypter Schlachtopfer darbringen würden, die bei diesen Anstoss erregten, müssten sie fürchten, von den Ägyptern gesteinigt zu werden.
Dass Moses mit seinen Befürchtungen eine zukünftige Entwicklung voraussagte, zeigte sich gegen Ende des 5. Jh. v. Chr. in Ägypten, als es genau aus diesen Gründen zum Konflikt zwischen den Juden und den Ägyptern kam, und zwar in der oberägyptischen Stadt Elephantine, in der es eine jüdische Ansiedlung gab. In Elephantine verehrten die Ägypter nämlich den widderköpfigen Schöpfergott Chnum. In der Nachbarschaft befand sich nun auch das Heiligtum der jüdischen Gemeinde, in dem zu Pessach ein Lammopfer dargebracht wurde. Die ägyptischen Priester des Chnum fühlten sich durch dieses Lammopfer provoziert und so liegen uns Quellen vor, dass das jüdische Heiligtum durch ägyptische Soldaten zerstört wurde.
Diese Ereignisse spielten sich z.Zt. der Fremdherrschaft der Perser über Ägypten ab. Die Perser waren als Fremdherrscher bei den Ägyptern wenig beliebt. Während die Ägypter den Persern vorwarfen, beim Einmarsch in das Land am Nil ihre Tempel geschändet zu haben, blieb das jüdische Heiligtum vor Plünderung und Zerstörung verschont. Auch dies trug zu den Spannungen zwischen Ägyptern und Juden bei. Doch war die jüdische Gemeinde in Elephantine nicht nur wegen ihres Tempels, der der Zerstörung entgangen war, und der darin gepflegten Opferpraxis den Ägyptern ein Dorn im Auge. Die Tatsache, dass die Juden auch noch die Söldner stellten, mit denen die persischen Unterdrücker das Land besetzten, brachte die Juden bei den Ägyptern vollends in Misskredit.

5) „Dem Bild des Tieres, durch dessen Hilfe sie ihren Durst vertrieben hatten, als sie umherirrten, ließen sie im Innersten des Heiligtums göttliche Verehrung zukommen...“ (V,4). „Die Juden dagegen glauben nur an eine Gottheit und diese
stellen sie sich rein abstrakt vor“ (V,5).

Über den Gottesbegriff der Juden liefert Tacitus zwei widersprüchliche Informationen. Die eine Auskunft, die er uns gibt, handelt vom Monotheismus der Juden und ihrem rein geistigen Gottesbegriff. Dass die Juden an einen einzigen Gott glaubten im Gegensatz zu ihrer heidnischen Umwelt mit den vielen Göttern, ist eine richtige Beobachtung. Dass dieser Gott nicht körperlich gedacht wurde, ist ebenfalls richtig. Wie Tacitus weiter ausführt, sahen die Juden diejenigen, die Götterbilder aus vergänglicher Materie nach dem Ebenbild des Menschen herstellten, als Götzenanbeter an. Dass Gott nicht dargestellt werden durfte, war ohnehin selbstverständlich, doch die Juden gingen sogar so weit, jede rundplastische Darstellung des Menschen zu scheuen, um sich nicht in Verdacht zu bringen, sie beteten diese Statuen wie Götzen an. In der Malerei, die nur ein zweidimensionales Medium darstellt und den Menschen nicht naturgetreu wiedergeben kann, wurde das Verbot figürlicher Darstellung nicht so streng gehandhabt.
Die zweite Angabe, die uns Tacitus über die jüdische Gottesvorstellung zukommen lässt, ist seine Behauptung, die Juden beteten ein Tier in ihrem Tempel an. Bei diesem Tier handelt es sich um einen Esel, wie Tacitus an anderer Stelle seines Exkurses berichtet (V,3). Denn als die Juden auf ihrer Wüstenwanderung kurz vor dem Verdursten waren, habe ihnen eine Herde Wildesel den Weg zu einer Quelle gewiesen. Aus Dankbarkeit hätten sie dann dem Esel eine Statue im Tempel errichtet.

Der Spott des Tacitus darüber, dass die Juden einen Esel als Gott verehren, erscheint uns in dem Wissen um deren abstrakte Gottesvorstellung als vollkommen absurd und unbegründet. Doch gibt es für den Eselsgott eine Erklärung, die aus Ägypten kommt.
Die Ägypter haben nämlich die Fremdländer einem ihrer Götter als Zuständigkeitsbereich zugewiesen. Dieser Gott war der Gott Seth. Er trat entweder in Tier-Menschengestalt mit einem Eselskopf auf oder aber in Tiergestalt ganz als Esel.
Da er für alle Ausländer zuständig war, war er in den Augen der Ägypter auch Gott der Juden. Wir finden bei antiken Autoren des Öfteren den Hinweis auf deren Eselsgottverehrung. In gräkoägyptischen Texten wird außerdem der jüdische Gottesname Iahwe als Iao wiedergegeben. Zwischen Iao und dem ägyptischen Wort für Esel stellte man ein klangliche Ähnlichkeit fest.
Doch blieb der Vorwurf der Eselsgottverehrung in der Antike nicht allein auf die Juden beschränkt. Da die Heiden keinen Unterschied zwischen Juden- und Christentum erkennen konnten, war für sie das Christentum eine jüdische Sekte. In der Tat behielten auch die Heidenchristen des 1./2. Jh. den Sabbat als wöchentlichen Feiertag bei, bevor dieser vom Sonntag abgelöst wurde. Heidnische Texte sprechen von jüdischer Sitte, wenn sie christliche Riten meinen. Das hatte zur Folge, dass die Anschuldigungen, die die Heiden gegenüber Juden und Christen erhoben, z.T. identisch waren.
In einem uns aus dem 2./3. Jh. überlieferten, lateinischen Dialog eines Heiden mit einem Christen, wirft der Erstere dem Christen vor: „Höre ich doch, dass sie (die Christen) den Kopf eines Esels, dieses äußerst garstigen Tieres, weihen und – ich weiß nicht, in welcher wahnwitzigen Überzeugung – verehren“ (Minucius Felix, Octavius 9,3).
Damit findet auch die Spottzeichnung vom Palatin in Rom aus dem 3. Jh. ihre Erklärung. Sie stellt einen Gekreuzigten mit Eselskopf dar, zu dem ein Mann in anbetender Haltung emporschaut. Die Beischrift lautet „Alexamenos betet seinen Gott an“.
Obwohl die Christen den Vorwurf der Eselsgottverehrung nie gegen das Judentum erhoben haben, weil sie sich dessen rein geistigen Gottesbegriffes bewusst waren, hat der Esel in der Folgezeit bei der christlichen Auseinandersetzung mit den Juden jedoch leider nicht völlig ausgedient. Die Störrigkeit und Dummheit des Esels machte ihn von christlicher Seite geradezu zu einem Symboltier des Judentums. Christliche Predigten und Schriften zeugen davon und auch in mittelalterlichen Darstellungen wird dies offenbar, wenn Kirche und Synagoge in der Gestalt zweier Frauen einander gegenüberstellt werden. Nicht selten reitet hier die Synagoge auf einem Esel. So wird durch die Symbolik des Esels das Judentum weiter verspottet, zwar nicht mehr von den Heiden, doch dafür jetzt von den Christen.

6) „Dort ist alles unheilig, was bei uns heilig ist; andererseits ist bei ihnen erlaubt,
was bei uns ein Frevel ist“ (V,4).
Als Fazit des Judenexkurses ist folgende Vorgehensweise des Tacitus in seinem Argumentationsgang festzustellen: Er erklärt die jüdischen Riten aus einer rein negativen Sichtweise: Alles, was die Juden tun, ist verwerflich.
Gemäß der Überzeugung des Tacitus, dass das jüdische Brauchtum dem der übrigen Sterblichen entgegengesetzt ist, sieht er den eigentlichen Antrieb jüdischer Kultpraxis im Anderssein als die Anderen und damit in der Provokation der heidnischen Umwelt. Da er die Juden beschuldigt, sie pflegten exklusive Riten, hat dies zur Konsequenz, dass er sie des Menschenhasses anklagt.: „Weil sie in Treue fest zueinander stehen, üben sie bei sich selbst Mitleid, aber feindseligen Hass gegenüber allen anderen“ (V,5). Mitleid und Sorge für die Armen sind in der Tat ein hohes Gut im Judentum. Die Behauptung des Tacitus aber, dass die Juden im Gegenzug alle anderen Menschen hassen, ist eine böswillige Verleumdung. Misanthropie wird den Juden wiederholt in der antiken Literatur vorgeworfen, so bei Diodor 34/5,1,1-5; Pompeius Trogus 36,2,1ff.; Hekataios bei Diodor 40,3. Da in der Antike nicht zwischen Juden- und Christentum unterschieden wurde, trifft der Vorwurf des Menschenhasses auch die Christen. Es ist derselbe Tacitus, der in seinem zweiten Geschichtswerk, den Annalen, die Christen des „odium humani generis“ (Ann.15,44,4) beschuldigt.

Literatur in Auswahl:
R. Arbesmann, Art. „Fasten“ in: Reallexikon für Antike und Christentum 7,1969, Sp.447-493
J. Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München-Wien 1996
Ders., Moses der Ägypter, München-Wien 1998
I.M. Lau, Wie Juden leben. Glaube, Alltag, Feste, Gütersloh, 4.Aufl.1997
K.L.Noethlichs, Das Judentum und der römische Staat, Minderheitenpolitik im antiken Rom, Darmstadt 1996
G. Stemberger, Jüdische Religion, München, 4. Aufl. 2002
P. Cornelius Tacitus, Die Historien, Kommentar von H. Heubner, Band V (Fünftes Buch v. Heubner-Fauth), Heidelberg 1982

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Gabriele Gierlich: Judenfeindliche Äußerungen in der Antike und ihre Nachwirkungen