Die dramatischen Wochen, die hinter ihnen liegen – man sieht sie der kleinen Milena und ihren Brüdern Andrej und Gleb auf den ersten Blick nicht an. Wild toben sie jetzt, Ende April, umher auf dem Marktplatz von Bremen, verstecken sich mal hinter ihrer Mutter, mal hinter den Bremer Stadtmusikanten, mal zwischen den Touristen, die die Bronzeplastik fotografieren.
Die Flucht aus der Ukraine, der ältere Bruder, der dort gerade im Osten kämpft, es wirkt beinahe wie ein surrealer Albtraum. Die fünfjährige Milena und die achtjährigen Zwillinge Andrej und Gleb sind in diesem einen Moment einfach Kinder voller Vorfreude – auf ein kleines Stück Alltag.
Ranzen? "Gute Idee! Ich bin dabei"
Wenige Wochen ist es her, dass die Stiftung stern und das Deutsche Kinderhilfswerk zu einer ganz besonderen Spendenaktion aufgerufen haben: Wir wollen den aus Ukraine geflüchteten Kindern die Ankunft in Deutschland etwas leichter machen. Etwas Normalität vermitteln. Wir wollen ihnen Schulranzen schenken.
Unser Aufruf traf einen Nerv. "Gute Idee! Ich bin dabei", schrieb uns ein Spender. Ein anderer: "Möge dieser Ranzen einem Kind etwas Freude machen und helfen, den Schrecken des Krieges und der Flucht zu überwinden." Die Hilfsbereitschaft war – und ist – riesengroß. So groß, dass wir schon 100.000 Euro an Spenden in Schulranzen investieren konnten – und demnächst weitere 150.000 Euro in das Projekt stecken werden. 100.000 Euro davon wird die Stiftung RTL beisteuern. Insgesamt also eine Viertelmillion Euro für geflüchtete Mädchen und Jungen.
Fast 1800 Ranzen konnte das Deutsche Kinderhilfswerk inzwischen (Stand Mitte Juni) an Einrichtungen verschicken, die sich um Geflüchtete kümmern: Schulvereine, Nachmittagsbetreuungen, Elterninitiativen oder auch Deutsch-ukrainische Hilfsvereine – wie "Ein Herz für die Ukraine e.V." aus Bremen, deren Mitstreiter:innen sich auch um Milena, Gleb, Andrej und ihre Eltern kümmern.
Die Geschichte der kleinen Milena Owtschninikowa und ihrer Familie gleicht der von Tausenden, die hier Schutz suchen – und hat doch eine besonders tragische Wendung. Denn es ist schon die zweite Flucht der Familie. 2014 verließen sie Donezk, damals, als prorussische Separatisten die Stadt im Osten der Ukraine übernahmen. Sie zogen nach Dnipro, etwas weiter in den Westen – "und jetzt mussten wir schon wieder weg", sagt Mutter Victoria.
Mehrere Tage dauerte ihre Odyssee in Richtung Sicherheit. Erst mit dem Zug bis nach Polen, manchmal mussten die Wagen stundenlang im Dunkeln wegen der Gefahr von Fliegerangriffen stehen bleiben. Dann mit dem Bus nach Hannover, schließlich hierher nach Bremen.
Victoria Owtschninikowa wirkt gefasst, wenn sie von der Flucht erzählt. Doch plötzlich kommen ihr die Tränen – als sie auf dem Handy das Foto ihres ältesten Sohnes Victor zeigt: Er kämpft als Soldat in Charkiw. "Ich bekomme nur alle paar Tage eine Nachricht von ihm", erzählt die 39-Jährige, "ich habe einfach wahnsinnige Angst um ihn."
Mit ihren drei jüngeren Kindern ist sie in Bremen erstmal in den Messehallen untergekommen, auch ihr Mann Dimitri ist hier – aus gesundheitlichen Gründen wurde er von der Armee freigestellt. Noch ist nicht klar, wo die Familie am Ende blieben wird. Und auch nicht, wann die Kinder hier eingeschult werden. Doch etwas Unterstützung auf dem Weg, das soll ihnen und den zwölf anderen Kindern, die hierher auf den Marktplatz von Bremen gekommen sind, der Schulranzen geben.
Auch Bremens Sozialsenatorin ist von der Aktion begeistert
Die fünfjährige Milena hat ihren schon bekommen, "sie will ihn gar nicht ausziehen", sagt ihre Mutter Victoria. Den anderen Kindern übergeben Marc Goergen von der Stiftung stern und Tetyana Chernsyava von "Ein Herz für die Ukraine" vor dem Rathaus in Bremen die Ranzen. Auch Bremens Sozialsenatorin Anja Stahmann schaut vorbei.
Insgesamt 45 Schulranzen werden Chernyavska und ihr Verein in den kommenden Tagen in Bremen und Umgebung verteilen; schon seit acht Jahren, seit der Besetzung der Krim, kümmert sich "Ein Herz für die Ukraine" um Geflüchtete – und hilft jetzt, die Ranzen vor Ort an die Jungen und Mädchen zu verteilen.
Es sind diese Organisationen vor Ort, die erst den Erfolg von "Ein Ranzen für Dich" möglich machen, dieses Netzwerk, das das Deutsche Kinderhilfswerk seit vielen Jahren unterhält. Auch in Marienhafe bei Aurich in Ostfriesland. Hier hat Jurij Ils vom Jugendwerk die Übergabe von 30 Ranzen in einer Wohngegend organisiert. Der Sozialpädagoge stammt selbst aus der Ukraine und hilft gerade, wo er kann.
Die kleine Maria, genannt Mascha, hält ihren neuen Ranzen ganz fest. Sie hat sich einen türkisfarbenen mit Pferden ausgesucht, an den Rändern ist er pink abgesetzt. Neugierig probiert sie die vielen Reißverschlüsse, inspiziert das Federmäppchen und das Etui mit den Buntstiften, dann entdeckt sie die Sporttasche. Die Sechsjährige strahlt über das ganze Gesicht, plötzlich ist alle Verlegenheit und Zurückhaltung vergessen.
"Mascha liebt Pferde", erzählt ihre Mutter Anna Bardash – so wie viele Mädchen in ihrem Alter. Mutter und Tochter sind vor rund sechs Wochen aus Sumy im Nordosten der Ukraine nach Ostfriesland gekommen. Vier Tage waren sie mit einem Hilfskonvoi auf der Flucht.
Marienhafe ist eine beschauliche Gemeinde mit 2200 Einwohnern, umgeben von vielen sattgrünen Wiesen. Rund 80 Geflüchtete hat der Ort aufgenommen, darunter mehr als 30 Kinder und Jugendliche. "Die Hilfsbereitschaft bei uns ist groß. Wir haben viele Ehrenamtliche, die helfen", sagt Bürgermeister Gerhard Ihmels. Auch er ist zur Übergabe der Ranzen in das Wohngebiet gekommen ist, wo einige der Frauen und Kinder zunächst in zwei großen Einzelhäusern untergekommen sind. "Angesichts der schrecklichen Bilder in den Medien freuen wir uns über jeden, der dem Krieg entfliehen konnte", sagt er. In den nächsten Tagen sollen die Kinder und Jugendlichen nach und nach in die Schulen gehen. "Kita und Schulen stehen offen, wir wollen alle integrieren."
Die Kinder lernen schnell – durch Kontakt mit Gleichaltrigen
Während sich die Kinder einen Ranzen aussuchen, und sich auch die Schüchternen unter ihnen zunehmend von den schützenden Händen ihrer Mütter lösen, sind einige Erwachsene schon dabei, Transportdienste für die Schule zu organisieren – denn ein Mädchen sitzt im Rollstuhl. Sprachbarrieren werden dabei per Übersetzungs-App und mit Händen und Füßen überwunden. Neben dem regulären Unterricht sollen die Kinder und Jugendlichen in den Schulen zusätzlichen Deutschunterricht erhalten. Das habe sich bereits 2015 bewährt, als Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan nach Marienhafe kamen, erzählt der Bürgermeister. "Die Kinder lernen in der Regel schnell Deutsch, einfach durch den Kontakt zu Gleichaltrigen, einige schnacken dann sogar Plattdeutsch."
Violetta, 15, und ihre Schwester Daria, 13, haben ihre Ranzen den jüngeren Kindern überlassen, sie werden in den nächsten Tagen einen Schulrucksack bekommen. Ihre Schulsachen haben die Geschwister bei der Flucht aus Kiew nicht mitgenommen.
Violetta freut sich zwar schon auf die Schule, sie sei aber etwas angespannt, gibt sie zu. Sie fragt sich, wie es wohl werde mit den neuen Mitschülerinnen und Mitschülern. In Kiew mochte Violetta besonders Geschichte, ukrainische Literatur und Sport. Seit drei Jahren macht sie Breakdance, hat sogar schon Meisterschaften gewonnen. Eben ein ganz normaler Teenager. Viel Deutsch können sie alle noch nicht, aber zum Schluss rufen sie: "Vielen Dank!"