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Ein Meister der Anreise | NZZ

Ein Meister der Anreise

Auf einer Lesereise durch Bosnien kommt Thomas Hettche 2005 in Tuzla mit jungen Germanistinnen und Germanisten ins Gespräch. Sie erzählen ihm von den schwierigen Studienbedingungen nach dem Krieg. Die Infrastrukturen sind kaputt, Bücher gibt es kaum oder nur für teures

Samuel Moser
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Auf einer Lesereise durch Bosnien kommt Thomas Hettche 2005 in Tuzla mit jungen Germanistinnen und Germanisten ins Gespräch. Sie erzählen ihm von den schwierigen Studienbedingungen nach dem Krieg. Die Infrastrukturen sind kaputt, Bücher gibt es kaum oder nur für teures Geld. Bei sich denkt er: «Ich habe keine Geschichte.» Doch dann besinnt sich der Romancier auf den Beitrag, den die Literatur leisten kann: «Romane sind transportable Welten. Jeder Roman eine Welt für Orte, wo nichts ist.» Geschichten nähren die Sehnsucht der Menschen, nicht nur in Tuzla. Darin erweist sich die Realität des Kunstwerks. Was Hettche in seinem «Fahrtenbuch», in dem der Bosnienbericht steht, aber umtreibt, ist die Ambivalenz dieser Formel: Auf ihrer Rückseite enthält sie die Fiktionalisierung der Wirklichkeit.

Erzählung und Analyse

Hettches «Fahrtenbuch» versammelt verstreut erschienene Texte seit seinem Romandébut «Ludwig stirbt» von 1989. Sie sind gruppiert nach Gattungen, die man behelfsmässig mit Zeitbetrachtungen, Kulturkritik, Reisebericht und Ästhetischem bezeichnen könnte. Spannend wird diese Differenzierung, wenn man ihr die Einheitlichkeit des Stils gegenüberstellt: das Miteinander von unaufgeregter Erzählung und messerscharfer Analyse. Das eine übersetzt sich dabei zwingend ins andere – und zurück. Kurze Beschleunigungen des Denkflusses oder umgekehrt die Verlangsamung der Wahrnehmungen markieren jeweils die Übergänge. Der Erzähler Hettche verfügt in hohem Masse über das Handwerk eines erstklassigen Journalisten: Sinn für Zusammenhänge und «Subtexte», eine niemals selbstzweckliche Universalbildung, eine schöpferische Sprache und eine leider selten gewordene Interventionslust. Seine unbestechlichen privaten Wahrnehmungen übersetzt er mit Überzeugungseleganz ins Allgemeine. Sowohl die kürzlich entstandene Venedigreportage als auch der frühe Bericht über die Entstehung der Gartenarchitektur auf der Pfaueninsel sind Beispiele dafür, wie souverän er Geschichte und Gegenwart zusammenbringt.

Hettche ist nicht ein Landschaftsbeschreiber, sondern ein Landschaftserzähler: einer, der Raum in Zeit übersetzt. Dabei beginnt er niemals am Ende, bei den Resultaten, bei den Reisezielen sozusagen. Aufregend ist es, mit seinen Texten mitzufahren, noch ohne zu wissen, wohin sie gehen. Hettche ist ein Meister der Anreise. Wunderbar im Bericht über den Künstlerort Marfa in der texanischen Wüste, aber auch anderswo.

So verschafft er sich Boden unter die Füsse, wenn er hinter dem her ist, was ihn in seinen Forschungen von Augustin über Meister Eckhart bis zum Zwischengas beschäftigt: das Verschwundene. Oder mehr noch das Verschwinden selber. Er sucht nicht einfach ein Original, das wie etwa Piero della Francescas «Madonna del Parto» gerade durch seine Restaurierung verschwunden ist, sondern die Spur der als pornografisch und kannibalisch diagnostizierten Verdrängung der Realität durch die unendliche Kopierbarkeit der virtuellen Welt, deren vorläufigen Höhepunkt er im Attentat auf das World Trade Center sieht.

Als Autor weiss Hettche, in welcher Weise er selber an diesem Prozess beteiligt ist. Die Kritik der «Bildindustrie», die sich unserer Wahrnehmung bemächtigt, sie gar ersetzt, ist ohne Bilder nicht zu leisten. So beendet er den letzten Essay des Bandes mit den Sätzen: «Wenn ich durch Berlin gehe und dabei die Wege meiner Figuren kreuze, ist mir das so unangenehm, als spräche ich auf offener Strasse mit mir selbst oder begegnete Gespenstern.» Doch im Unterschied zur Bildindustrie ist der Erzähler kein Verkürzer, sondern ein Verlängerer: «Geschichten beginnen dort, wo Bilder die Wirklichkeit immer schon amputieren. Erzählen heisst, Arme, Strassen, Rümpfe, Häuser zu verlängern, die der Bildrand abschneidet.» Darin äussert sich der kritische Wahrheitsanspruch der literarischen Imagination.

Entdeckung der Endlichkeit

Die Bildbetrachtung einer monumentalen Gebirgslandschafts-Fotografie von Balthasar Burkhard im Aargauer Kunsthaus beginnt mit einer solchen Verlängerung, mit einer Text-«Anreise». Der Essay trägt den Titel «Der Affe Gottes». Bevor der Autor sich vor die Fotografie stellt, die sowohl den «Nachäffer», wie man den Künstler einst nannte, als auch Gott wegzuräumen scheint (indem Burkhard dem Betrachter die erhöhte, Gott zukommende Perspektive gibt), betritt er einen Dachboden, den es nicht gibt. Hier betrachtet er auf alten Skizzen, die es auch nicht gibt, Bleistiftstriche – die Spuren der Künstlerhand. Mit so geschärftem Blick tritt er dann vor die Fotografie und bemerkt die zwei Rahmen, in die sie aufgeteilt ist, blickt also über deren Bildrand hinaus, entdeckt ihre Endlichkeit, entdeckt das Werk des «Nachäffers» und verlängert es gerade so in die Wirklichkeit. Die Fotografie erwacht aus ihrer «Trauer über die eigene, schöpferlose Schöpfung, die das getreue Abbild unserer säkularen, nicht länger erschaffenen Welt ist». Der Bild-«Erzähler» Hettche gibt dem Kunstwerk seine Aura und der Welt ihre Transzendenz zurück.