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Im Spiegel der Dekadenz | NZZ

Im Spiegel der Dekadenz

«Unterwerfung» heisst der demnächst auf Deutsch erscheinende neue Roman von Michel Houellebecq. Der Starautor entwirft darin die Vision eines islamischen Frankreich. Das Attentat auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» dürfte den Wirbel um das Buch verstärken.

Jürgen Ritte
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Trotz dem Ennui, den Michel Houellebecq mit dem Protagonisten seines neuen Romans teilt, beweist er ungebremste Provokationslust. (Bild: Hugo Ortuno / Keystone)

Trotz dem Ennui, den Michel Houellebecq mit dem Protagonisten seines neuen Romans teilt, beweist er ungebremste Provokationslust. (Bild: Hugo Ortuno / Keystone)

Nach Lektüre von Joris-Karl Huysmans' Roman «A rebours» von 1884 («Gegen den Strich»), der als Bibel der Décadence gilt und als das berüchtigte «gelbe Buch» durch Oscar Wildes «Dorian Gray» geistern wird, schrieb Jules Barbey d'Aurevilly, der sich in so mancher Teufelei auskannte, dass dem Schriftstellerkollegen Huysmans nach einem solchen Buch nur noch die Wahl bleibe «zwischen der Mündung eines Pistolenlaufs oder den Füssen des Kreuzes». Wie sein Held, der dem historischen Dandy Robert de Montesquiou nachempfundene Des Esseintes, wählte Huysmans das Kreuz und rekonvertierte zum Katholizismus.

Transzendental obdachlos

Vor eine ähnliche Wahl gestellt sieht sich 130 Jahre später der französische Hochschullehrer und Huysmans-Spezialist François, der neueste Antiheld, den Michel Houellebecq soeben mit dem Roman «Unterwerfung» («Soumission») in die literarische – und nicht nur die literarische – Welt gesetzt hat. Freilich, François, ein Melancholiker und Lonesome Rider, der sein Leben zwischen seiner Hochhauswohnung im 13. Pariser Arrondissement, dem – natürlich! – sehr trostlosen Chinatown der französischen Hauptstadt, und den Tiefkühlregalen des nahen Supermarkts fristet und sonst sexuell frustriert seine Schleifspur durchs Leben zieht (so weit, inklusive dreier Hardcore-Szenen mit Fellatio usw., nichts Neues im Houellebecqschen Universum), dieser François also, dem auch als Professor für französische Literatur an der Sorbonne (Paris 3) nicht mehr viel einfällt und dem bestenfalls die Kürze der Röcke der Studentinnen auffällt: François leidet, wie die Décadents, an Überdruss, Ennui, Lustlosigkeit und transzendentaler Obdachlosigkeit. Doch hält er, so viel Lebenslust oder Hoffnung ist ihm immerhin geblieben, den Selbstmord für eine «verfrühte Lösung». Das Kreuz also?

Einen Versuch ist es wert. François begibt sich in die Benediktinerabtei von Ligugé, wo schon Huysmans als Oblate (eine Art Laienbruder) den Weg zum Heil fand. Allein, die entsetzliche Moderne hat auch dieses Refugium eingeholt: Durch den Garten rauscht längst ein der Meditation abträglicher TGV, und der Mönch beim Empfang sieht aus wie der französische EU-Kommissar Pierre Moscovici. François kehrt zuletzt nach Paris zurück und spielt ernsthaft mit dem Gedanken – dass er mit dem Gedanken nur spielt, ist manchem französischen Rezensenten in seiner Aufregung entgangen – einer Konversion zum Islam (was so viel meint wie, daher der Titel «Unterwerfung», «Hingabe an Gott»). Der Roman schliesst mit dem Satz: «Ich hätte nichts zu bereuen.»

Paris anno 2022

In der Tat hätte er nichts zu bereuen, stehen ihm, François, doch im inzwischen islamisierten Frankreich mindestens drei Frauen zu (die er, Utopie aller männlichen Houellebecq-Helden, nicht einmal erobern muss, denn Hochzeiten werden arrangiert) und darüber hinaus auch noch ein verdreifachtes Professorengehalt (was die notorisch unterbezahlte Fakultät kaum freuen dürfte).

Und damit sind wir aus der Plausibilität einer geradezu hyperrealistisch erzählten Wirklichkeit ausgetreten und mitten in der spekulativen Dimension des Romans angelangt, die ganz darauf angelegt ist, im Hühnerhof der politischen Correctness einen – wie sollte es bei Houellebecq auch anders sein – Skandal auszulösen: Die Geschichte des Professors François nämlich spielt in naher Zukunft, im Jahre 2022, nach einem zweiten, nicht weniger katastrophalen Mandat des jetzigen Staatspräsidenten Hollande. Bei den Präsidentschaftswahlen erreicht Marine Le Pens rechtsextremer Front national (ja, es gibt ihn noch – und mehr denn je) über 31 Prozent der Stimmanteile, und sie zieht somit als stärkste Kandidatin in die Stichwahl. Ist diese Extrapolation gegenwärtiger Verhältnisse und Stimmungen im krisengeschüttelten, an sich selbst zweifelnden Land (leider) noch schlüssig, so trägt Houellebecq im nächsten Schritt dicker auf: Herausforderer nämlich der Madame Le Pen, die sich daraufhin zum letzten Bollwerk von Republik und Laizität erklärt, ist ein gewisser Mohammed Ben Abbes, Chef der 2017 gegründeten Partei der «Fraternité musulmane». Mit gut 21 Prozent der Stimmen liegt er knapp vor dem sozialistischen Kandidaten und weit vor dem Prätendenten des klassischen bürgerlichen Lagers, das seine mit Sarkozys Wahlniederlage aus dem Jahre 2012 begonnene Talfahrt noch nicht beendet und seine Glaubwürdigkeit wohl endgültig verspielt hat. Um aber die Machtübernahme durch die Rechtsextremen zu verhindern, schliessen Sozialisten und Konservative ein historisches Bündnis zur Unterstützung des smarten, moderat islamischen Kandidaten, der daraufhin die Wahl gewinnt . . .

An genau diesem Punkt – und dem, was dann folgt (zum Beispiel: Aufweichung des laizistischen Unterrichtswesens zugunsten konfessioneller Schulen, und zwar nicht nur muslimischer, sondern auch christlicher) – entzündet sich, nun sind wir wieder in der Jetztzeit, der Realität, die Empörung. der politischen Tugendwächter des heutigen Frankreich. Im Internetportal «Mediapart» sieht Sylvain Bourmeau in «Unterwerfung» Houellebecqs «literarischen Selbstmord», und Laurent Joffrin, Chefredaktor der linksliberalen «Libération», der bisher nicht als Literaturkritiker hervorgetreten ist, wirft Houellebecq gar vor, im Verein mit dem in der Tat unsäglich reaktionären Publizisten Eric Zemmour Marine Le Pen auch intellektuell salonfähig machen zu wollen.

Das entbehrt nicht der Pikanterie, entwirft Houellebecq in seinem Roman doch gerade ein Szenario zur Verhinderung einer Marine Le Pen im höchsten Staatsamt – was wiederum andere Kommentatoren als Wahl zwischen «Pest und Cholera» bezeichnen! Joffrin scheint auch zu übersehen, dass der Front national von Vater und Tochter Le Pen nicht erst eines Houellebecq bedurfte, um sich dauerhaft in der französischen Landschaft zu etablieren und, wie bei den letzten Regionalwahlen, zur stärksten politischen Kraft des Landes zu avancieren. Nein, die hilfreichen Agenten der sukzessiven «Lepenisierung» des politischen Klimas sind seit Jahrzehnten jene populistischen Kräfte zur Rechten und zur Linken, die das Heil des Landes unter der miefigen, xenophoben, europhoben Käseglocke des Nationalismus suchen.

Doch springen wir wieder zum Jahr 2022, in dem Houellebecqs «Muslimische Bruderschaft» triumphieren soll. Was eine zukünftige Wirklichkeit angeht, ist diese Entwicklung unwahrscheinlich. Der Anteil der Muslime an der französischen Bevölkerung liegt heute bei geschätzten zehn Prozent und wird sich innert sieben Jahren nicht verdoppeln. Selbstverständlich sind längst nicht alle Muslime praktizierend; ebenso selbstverständlich bilden sie keine homogene, geschlossen wählende Masse.

Es handelt sich bei Houellebecqs Zukunftsvision um – angesichts der gegenwärtigen Hysterie vielleicht ratsam, daran zu erinnern – Literatur. Um eine politische Parabel, die von Überzeichnungen lebt. Houellebecq entwirft die Islamisierung des Landes nicht als finsteres Bedrohungsszenario. Sein Mohammed Ben Abbes ist kein Gotteskrieger, kein Jihadist, nicht einmal ein grimmiger Islamist. Mit dem neuen Präsidenten gelingt die EU-Erweiterung auf die Türkei und die nordafrikanischen Staaten, und dank dieser mediterranen Ausrichtung besetzt Frankreich wieder ein geopolitisches Zentrum in der weltweiten Machtbalance. Auch wirtschaftspolitisch renkt sich langsam wieder alles ein: Die Frauen verschwinden aus dem Berufsleben, das schafft Arbeitsplätze. Selbst die marode Sorbonne blüht, dank den Petrodollars aus der saudischen Ölmonarchie, wieder auf. Dafür ist sie jetzt eine islamische Universität.

Seismograf einer Epoche

Das Land gleitet langsam und seltsam schmerz- und widerstandslos unter die Decke der Religion – und genau darum geht es wohl. Als Seismograf seiner Epoche verleiht Michel Houellebecq einem französischen Malaise Ausdruck, das mit Barbey d'Aurevillys Alternative zwischen Pistole und Kreuz auf seine zugespitzte Formel gebracht ist: Dereinst könnte sich dann tatsächlich die Wahl zwischen politischem Suizid (etwa durch die Wahl eines rechtsradikalen Staatspräsidenten) oder Unterwerfung unter einen wie auch immer gearteten religiösen Zauber aufdrängen. Die französischen Republiken haben solche Situationen schon erlebt – und überstanden, etwa Ende des 19. Jahrhunderts, zu Zeiten der «Dekadenz», des Traumas der Niederlage gegen Preussen, der ersten grossen und globalen Finanzskandale, der Dreyfus-Affäre, dieser Geburtsstunde des modernen Antisemitismus.

Unter anderem in diesem fernen Rückspiegel sieht Houellebecq Gegenwart und Zukunft eines zutiefst verunsicherten Landes. Wie sein Held François ist Houellebecq mit dieser Zeit seit langem vertraut: Sein erstes, stets übersehenes Buch war eine Anthologie des dekadentistischen Lyrikers, Essayisten und Dandys Rémy de Gourmont, eines Zeitgenossen von Huysmans.

Michel Houellebecq: Unterwerfung. Roman. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek. Dumont-Buchverlag, Köln 2015. 279 S., Fr. 33.90. – Auf Deutsch erscheint das Buch am 16. Januar.

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