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Laudatio auf Wolfgang Schorlau
anlässlich der Verleihung des ‚Stuttgarter Krimipreises 2014’
von Julia Schröder

James Carville heißt der Mann, der vor 22 Jahren Bill Clinton dazu verhalf, 42. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden. Carville erfand einen Slogan, der zum Geflügelten Wort wurde, weil er ganz einfach sagt, was der Fall ist: „(It’s) the economy, stupid!“ Also: Es geht um Wirtschaft, Dummchen. Damit gewann Clinton die Wahl. Um seinen Laden wirtschaftlich in Schwung zu bringen, setzte er Anfang der Goldenen Neunziger die globale Deregulierung der Finanzmärkte durch. Und heute, eine alles andere als überstandene globale Krise der Finanzmärkte später, haben wir uns fast daran gewöhnt, in den Abgrund zu blicken, den Clintons Wahlkampfslogan „It’s the economy, stupid!“ markiert.

Es sind Folgen wirtschaftlichen Handelns, die das Leben jedes Einzelnen bestimmen. Mit ökonomischen Notwendigkeiten begründet die Politik nicht nur ihre Entscheidungen, sie kann es sich tatsächlich in keiner Hinsicht leisten, gegen die vermeintlichen oder tatsächlichen Bedürfnisse und Forderungen dessen zu verstoßen oder auch nur aufzurebellen, was man so „die Märkte“ nennt ­ wie man früher „die Herrschenden“ und noch früher „die Götter“ gesagt hat.

Wolfgang Schorlau weiß das schon lange. Und seit einem Jahrzehnt öffnen seine Romane seinen Lesern die Augen dafür. Was hat die Treuhand nach der Wiedervereinigung tatsächlich gemacht?, fragte 2003 sein erster Krimi „Die blaue Liste“. Wer hat davon profitiert, wie die Produktionsstätten in Ostdeutschland abgewickelt wurden? Warum wurden alle Einwände und Alternativen vom Tisch gewischt? In „Fremde Wasser“ wird sein Ermittler Georg Dengler aufgeklärt, was passiert, wenn die kommunale Trinkwasserversorgung verscherbelt wird, wer daran verdient und wer verliert. Im vierten Fall der Dengler­Reihe, „Brennende Kälte“, lernt der Leser viel über die neusten technischen Geistesblitze der Rüstungsindustrie und das Geschäft mit der Biometrie. Und „Die letzte Flucht“ – der bis dato vorletzte Dengler – bezieht einen Gutteil seiner Spannung daraus, wie mit dem Fortschreiten des Falls skrupellose Machenschaften der Pharmabranche nach und nach zu Tage treten.

Dass dieser Autor immer wieder die ökonomische Basis jenes politischen Überbaus aufspürt, den wir als unsere Gesellschaftsordnung kennen, ist kein Zufall. Und es hat sehr früh angefangen – als der 17­jährige kaufmännische Azubi Wolfgang S. im Freiburg der späten Sechziger in Berührung mit den aufbegehrenden Studenten kam und Teil der Lehrlingsbewegung wurde: Dort, erinnerte er sich einmal in einem Beitrag für die „Stuttgarter Zeitung“, gab es, so wörtlich, „Lehrlingsschulungen, in denen ein leibhaftiger Geschichtsprofessor mit uns die Werke von Franz Mehring las. Die besten Volkswirtschaftsstudenten schulten uns in Marx’ ,Kapital’ und gleich auch in den Schriften von Max Weber und Adam Smith.“
So etwas prägt fürs Leben. Und so etwas kann einen zum Kriminalschriftsteller machen – allerdings nur in Verbindung mit dem Willen zur Recherche, Disziplin beim Bau des Spannungsbogens, der Lust am Schreiben, und der Begabung, sich der eigenen Einbildungskraft zu überlassen.

Und nun also „Am zwölften Tag“, das Buch, für das Wolfgang Schorlau heute ausgezeichnet wird: mit dem Ebner­Stolz­Wirtschaftskrimipreis – und mit vollem Recht. Mein Kollege Thomas Klingenmaier hat in seiner Rezension des Romans an Upton Sinclairs „Dschungel“ erinnert ­ Sinclairs literarischer Durchbruch und eine flammende Anklage der Zustände in den Schlachthöfen von Chicago. Erschienen ist „The Jungle“ 1906, vor mehr als einem Jahrhundert. Wenn man heute Schorlau liest, beschleicht einen das Gefühl, es habe sich seither nicht viel verändert, jedenfalls nicht zum Besseren. Was bei Sinclair der bedauernswerte litauische Einwanderer in den USA, ist bei Schorlau der rumänische Arbeitsmigrant, der seinen Versuch, im reichen Deutschland gutes Geld für schwere Arbeit zu verdienen, erst mit seiner Menschenwürde und am Ende mit seinem Leben bezahlt. Wo Sinclair allerdings die abscheulichen hygienischen Zustände und die himmelschreiende Ausbeutung der Arbeiter im Dschungel der Schlachthöfe schildert und seinen Protagonisten am Ende das Heil im Sozialismus finden lässt, weitet Schorlau den Blick auf die Fleischindustrie als Ganzes.

Er wirft seine Schlaglichter auf alle Schritte dieser globalen, allumfassenden Nahrungskette bei der industriellen Erzeugung von Fleisch. Er macht anschaulich und unvergesslich, wie diese florierende Industrie nicht nur massenhafte Tierquälerei zum Geschäftsmodell erhoben hat, sondern auch die De­facto­-Versklavung derer, die in den Produktionsstätten schuften. Er erinnert daran, was die Überschwemmung der Märkte in Afrika mit Billighühnerteilen bedeutet, und er führt uns vor Augen, wie wir Verbraucher mit Medikamenten und anderem Dreck, den die Tiere fressen, gleich mit verseucht werden.

Die Zeiten von Upton Sinclair sind vorbei. Dass es die Wirtschaft ist, die unser Leben bestimmt, wird in der so genannten Schönen Literatur unserer Tage selten wirklich, gar wirksam zur Geltung gebracht. Nur das kriminelle Genre scheint sich dafür nicht zu schade zu sein. Warum?

Vielleicht lohnt die Erinnerung an einen deutschen Dichter, der sich von Sinclairs “Dschungel” zu seinem eigenen Stück über die Verhältnisse in den Fleischfabriken Chicagos, zur “Heiligen Johanna der Schlachthöfe” inspirieren ließ: Bertolt Brecht. Im Libretto der “Dreigroschenoper” benennt Brecht just das, was dem Kriminalroman, also der Erzählung von Verbrechen, die Beschäftigung mit der Welt der Wirtschaft nahelegen könnte: “Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie?”, heißt es da, und, wie Sie wissen: “Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?”

Wolfgang Schorlau hat bereits den einen oder anderen Preis bekommen. Aber was sind diese Auszeichnungen gegen den Wirtschaftskrimipreis der Stuttgarter Kriminächte? Ich freue mich auf seine nächsten Bücher, empfehle Ihnen allen seinen Roman “Am zwölften Tag” zur Lektüre und gratuliere dem Autor von Herzen.