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Sexuelle Belästigung in Ägypten: Fast jede Frau betroffen - DER SPIEGEL
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Nour

Nour

Foto: Roger Anis

Gewalt gegen Frauen - Frauen in Ägypten Teil 1 "Als Ägypterin kämpfst du ein Leben lang mit sexuellen Übergriffen"

Sexuelle Belästigung ist in Ägypten Alltag, auch Mob-Vergewaltigungen sind keine Seltenheit. Woher kommt die exzessive Gewalt?

Wann sie zum ersten Mal sexuell belästigt wurde? Nour zieht energisch einen Schluck Minzlimonade durch ihren Strohhalm. "Mit acht Jahren", sagt sie und mustert eine Gruppe junger Männer, die laut diskutierend vorbeiziehen und sie dabei unverhohlen anstarren.

Es ist ein schwüler Abend in Kairos Innenstadt, Hunderte Autohupen veranstalten ihr übliches Konzert, Nour muss laut sprechen, um sie zu übertönen. Aber genau das will sie, reden, gehört werden, anders als viele ihrer Leidensgenossinnen.

Sie sei im Shubra-Bezirk östlich des Nils unterwegs gewesen, um Malpapier für die Schule zu kaufen, erinnert sie sich. Ein etwa 60-jähriger Mann kreuzte ihren Weg, in den Händen zwei schwere Einkaufstüten. "Hilf mir mal!", rief er, und Nour schleppte brav die Taschen zu seinem Haus. Auf dem Weg dorthin legte der Mann zunächst eine Hand auf ihre Schulter. Dann sei seine Pranke über ihren ganzen Körper gewandert. "Ich war wie versteinert", sagt Nour. "Er wollte mich in seine Wohnung mitnehmen, da habe ich angefangen zu weinen."

Nour hatte Glück, zumindest dieses Mal. Freunde ihrer Eltern kamen vorbei und stellten den Grapscher zur Rede. Es folgte eine heftige Auseinandersetzung, kurz darauf sei der Mann aus der Nachbarschaft weggezogen. Niemand erstattete Anzeige oder sprach über den Vorfall. Auch von Entwarnung konnte keine Rede sein - das alltägliche Spießrutenlaufen durch die Straßen fing für Nour damals gerade erst an.

"Als Ägypterin kämpfst du ein Leben lang mit sexuellen Übergriffen", sagt die 24-Jährige. "Meine Mutter ist Mitte 50 und wird immer noch belästigt." Laut einer Uno-Studie aus dem Jahr 2013 wurden mehr als 99 Prozent aller Ägypterinnen mindestens einmal Opfer von Belästigung - also quasi alle.

Kairo ist der Thomson Reuters Foundation zufolge derzeit die gefährlichste Megastadt der Welt für Frauen.

Niemand weiß, wie oft Kinder Opfer von Übergriffen werden. Der Twitter-Hashtag "Das erste Mal, dass ich mit sexueller Belästigung konfrontiert wurde, war ..." machte 2014 erstmals das Ausmaß deutlich. Zahlreiche Frauen berichteten, bereits im Vorschulalter Opfer von Übergriffen geworden zu sein.

Die #MeToo-Debatte zeigt, dass sexuelle Gewalt selbst in Gesellschaften mit funktionierenden demokratischen Kontrollinstanzen verdrängt, verheimlicht und verharmlost wird. Ägypten ist ein Beispiel dafür, wieviel schwerer die Bekämpfung einer patriarchalischen Kultur in einer Autokratie ist, einem instabilen, von Terror geplagten Land, das in zahlreiche Konflikte verstrickt ist, wo Opposition unterdrückt und Menschenrechte missachtet werden.

Präsident Abdel Fattah el-Sisi hat 2017 zum "Jahr der ägyptischen Frau" erklärt. Das ist in vielerlei Hinsicht zynisch. Oft bleibt es nicht bei lautem Zungenschnalzen und Zischeln, vulgären Anmachen oder Grapschereien. Die Gruppen-Vergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz während der Demonstrationen für die Absetzung des Autokraten Hosni Mubarak und seines islamistischen Nachfolgers Mohamed Morsi lösten weltweit Entsetzen aus - und waren doch nur die Spitze des Eisberges.

Seit vielen Jahren sind solche kollektiven Gewalttaten bei öffentlichen Versammlungen zu beobachten. Immer wieder sind unter den Tätern auch staatlich gedungene Provokateure, die - ganz gleich, wer an der Macht ist - Proteste aufmischen, um Oppositionelle zu diskreditieren oder Frauen durch systematische Angstmache von politischer Teilhabe auszuschließen. Von der Regierung eingesetzte Kriminelle, sogenannte Baltagiya, habe es schon in den Neunzigerjahren gegeben, heißt es in einem Bericht der Internationalen Liga für Menschenrechte (FIDH). Sexuelle Gewalt sei eine "historische Waffe der ägyptischen Behörden", unabhängig von der herrschenden Politik.

Mob-Vergewaltigungen sind oft brutaler und lebensbedrohlicher als Übergriffe durch Einzeltäter, ihre Dynamik greift Experten zufolge häufig auf Zuschauer über. Die Täter stacheln sich gegenseitig an, erniedrigen und entmenschlichen ihre Opfer. Nach der Tat stelle sich ein Hochgefühl ein, vergleichbar einem Triumph nach einem sportlichen Sieg.

Doch es sind nicht nur solche Exzesse, die Angst machen. Es ist die zermürbende alltägliche Gewalt, die Verachtung, die ein Frauenleben in Ägypten zur Hölle machen kann.

Nour

Nour

Foto: Roger Anis

"Ich gebe mich selbstbewusst", sagt Nour, "aber sobald ein Mann mich anstarrt, werde ich nervös." Im Sommer besuchte sie eine Party in Faisal, einem Viertel in Gizeh, weitab vom Zentrum Kairos. Es war der Tag des Fastenbrechens nach Ramadan, in den Straßen drängten sich ausgelassen Feiernde. Gegen zwei Uhr morgens wollte Nour mit einem Taxi nach Hause fahren, als ein Mann, den sie zuvor abgewiesen hatte, sich in das Fahrzeug drängte und versuchte, sie an ihren Beinen und der Halskette aus dem Wagen zu zerren.

"Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, der Taxifahrer hat versucht, den Angreifer aus dem Auto zu werfen, doch der hat ein Messer gezogen und gedroht, uns zu töten." Rings um das Taxi standen Gaffer, die, statt zu helfen, in die Gewaltorgie einstiegen, ebenfalls versuchten, Nour aus dem Auto zu ziehen und dann die Heckscheibe zertrümmerten. "Es war das totale Chaos, ich war voller Glassplitter, habe nur noch geschrien, bis ich mich in die Autorikscha eines Ehepaars retten konnte, das mich dann vor der Meute beschützt hat."

Danach war nichts mehr wie zuvor. Nour versteckte sich, ging zwei Wochen lang nicht aus dem Haus. Sie hatte Albträume, bekam Panikattacken und verfiel in Depressionen. Ein Arzt verschrieb ihr Medikamente, die sie inzwischen abgesetzt hat. "Sie tun mir nicht gut, ich muss wach sein, klar im Kopf." Nour ist durch die Übergriffe unfrei geworden. Sie vermeidet Orte, Menschen und angsteinflößende Situationen. Die Furcht bestimmt ihr Leben.

Nour ging nicht zur Polizei, warum auch. "Wenn du um zwei Uhr nachts allein unterwegs bist, giltst du als Prostituierte. Wenn du dann überfallen wirst, bist du selbst schuld." Der Taxifahrer ging erbost zur Wache. Dort sagte man ihm: "Stell dich nicht so an, wegen so eines Mädchens schreiben wir doch keinen Bericht." Dann schickte man ihn nach Hause.

Militärregierung

Laut Paragraf 306 des ägyptischen Strafgesetzbuches kann sexuelle Belästigung mit Geldstrafen bis zu 50.000 ägyptischen Pfund (rund 2400 Euro) sowie Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis fünf Jahren geahndet werden.

Die Feministin Mozn Hassan hat lange dafür gekämpft, dass der Gesetzestext 2014 entsprechend erweitert wurde. "Gesetzliche Sanktionen funktionieren, weil sie ein Stigma für den Täter bedeuten", sagt sie. Sie nützten aber wenig, wenn übergriffige Männer nicht verstünden, warum sie im Unrecht sind. "Wir leben in einer Kultur der sexuellen Gewalt. Unsere Gesellschaft akzeptiert den respektlosen Umgang mit Frauen. Das muss sich ändern."

Mozn Hassan

Mozn Hassan

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In Ägypten, wo mehr als 85 Prozent der Frauen Opfer von Genitalbeschneidung sind und häusliche Gewalt an der Tagesordnung ist, wird der weibliche Körper nur allzu oft zur männlichen Verfügungsmasse degradiert. Die Überlebenden sexueller Übergriffe werden laut Hassan zu allem Übel auch noch stigmatisiert. "Keine Frau wird über ihre Erlebnisse sprechen oder gar Anzeige erstatten, wenn sie weiß, dass ihr persönliches Umfeld sie dafür verachten wird."

Die Folge: Viele Täter kommen ungestraft davon. "Das Regime interessiert sich nicht für die Umsetzung dieser Gesetze", sagt Hassan. Aber sie lassen sich offenbar gut als Reformbemühung der Autokratie verkaufen.

Victim Blaming

Eine Umfrage der Gleichstellungsorganisationen UN Women und Promundo zum Geschlechterverhältnis im Nahen Osten und Nordafrika ergab: 43 Prozent der ägyptischen Männer sind davon überzeugt, dass Frauen es mögen, sexuell belästigt zu werden, angeblich, weil sie die "Aufmerksamkeit" genießen. Knapp zwei Drittel der männlichen Befragten gaben zu, schon einmal Frauen belästigt zu haben, mehr als drei Viertel machten die "aufreizende Kleidung der Frau" verantwortlich für ihr Handeln.

Auffällig ist, wie wenig Solidarität Frauen untereinander zeigen: 84 Prozent der Ägypterinnen sind der Meinung, dass Geschlechtsgenossinnen, die sich "provozierend" anziehen, es verdienten, belästigt zu werden.

Die Gewaltbereitschaft scheint generell hoch zu sein: Die Hälfte der Männer gab zu, schon einmal gewalttätig gegen die Ehefrau geworden zu sein. 90 Prozent der männlichen, aber auch 70 Prozent der weiblichen Befragten erklärten, dass Frauen Schläge tolerieren sollten, "um die Familie zusammenzuhalten".

Mit ihren tradierten Überzeugungen befeuern Frauen Ungleichheit und Gewalt: So waren 60 Prozent der weiblichen Befragten der Meinung, eine Frau solle nach einer Vergewaltigung den Täter heiraten.

Vermeintliche Gründe für Vergewaltigungen gibt es angeblich viele: So erklärte ein Anwalt namens Nabih al-Wahsh in einer Talkshow, Frauen in löchrigen Jeans könnten getrost missbraucht werden: "Solche Mädchen sexuell zu belästigen, ist eine patriotische Pflicht, und sie zu vergewaltigen, eine nationale Pflicht." Der darauffolgende Aufschrei in den sozialen Medien zeigte, dass in Teilen der Gesellschaft durchaus ein Bewusstsein über die Gefahren eines so menschenverachtenden Denkens herrscht. Und die Behörden reagierten: Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen den Anwalt, der Anfang Dezember zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Wie tief verwurzelt das "Victim Blaming" in der Tradition ist, wie früh die Stereotypen geprägt werden, zeigt ein Video, in dem sich Heranwachsende in Ägypten über sexuelle Belästigung äußern.

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Frauen sind Staatsangelegenheit

Das Regime von Präsident Sisi tut alles, um sich das Primat über die Frauenfrage zu sichern. Als Flaggschiff dient ihm der Nationale Rat der Frauen (NCW), der 2000 auf Betreiben des damaligen Präsidenten Hosni Mubarak und seiner Frau Suzanne gegründet wurde.

Die Ex-Diplomatin Mervat Tallawy von der liberalen Sozialdemokratischen Partei ist die Grande Dame der ägyptischen Frauenpolitik. Eine Vertreterin des alten Regimes und enge Freundin von Suzanne Mubarak, deren Engagement für Frauen sie ausdrücklich lobt. Tallawy leitete den NCW von 2012 bis 2016. "Die Muslimbruderschaft hat während ihrer einjährigen Regierungszeit, aber auch schon vorher alles unternommen, um eine Gleichstellung der Frauen zu verhindern", sagt die 80-Jährige. Die religiösen Extremisten hätten das Rad der Zeit zurückgedreht: "Es ist schrecklich - wir waren in den Sechziger- und Siebzigerjahren liberaler als heute."

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Die Muslimbrüder wollten demnach das Mindestalter für Eheschließungen von 18 auf 12 senken, Frauen das Recht auf Scheidung verwehren und die strafrechtliche Verfolgung von Ärzten, die Genitalbeschneidung praktizieren, aufheben. Die Sorgerechtsdauer der Mutter sollte von 15 auf 7 Jahre reduziert werden.

Tallawys Nachfolgerin beim NCW, Maya Morsy, beschönigt die Situation der Frauen im Land: Sie erklärte, nur 9,6 Prozent der Ägypterinnen seien im Jahr 2016 belästigt worden, die Zahlen der Uno eindeutig tendenziös. Das Regime Sisi präsentierte 2015 ein Programm zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen. Amnesty International bezeichnete es allerdings als "rein symbolisch".

In der Auseinandersetzung mit konservativen und islamistischen Kräften scheint die Verteidigung der Frauen das Erste zu sein, was die Regierung auf dem Altar der Machtsicherung opfert. Sisi hat zu seiner Zeit als Leiter des Militärgeheimdienstes 2011 "Jungfräulichkeitstest" an Revolutionsaktivistinnen ausdrücklich gebilligt. Die Armeeärzte hätten nachweisen müssen, dass die Frauen nicht von Soldaten vergewaltigt worden seien, so die haarsträubende Begründung.

Der Nationale Frauenrat gilt heute als verlängerter Arm der Militärregierung. Es mangele an politischem Willen, effizienten Maßnahmen und Transparenz, sagen Kritiker. Sexualstraftaten innerhalb der Sicherheitskräfte würden nicht angemessen verfolgt. Als Human Rights Watch Anfang September weitverbreitete Folter durch Polizei und Staatssicherheit anprangerte, hieß es aus dem Menschenrechtskomitee des ägyptischen Parlaments, es handele sich um "einen Haufen Lügen, die darauf abzielen, dem Ruf Ägyptens zu schaden".

Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen berichten, sie würden massiv in ihrer Arbeit behindert. Mozn Hassans NGO Nazra, die Opfern sexueller Gewalt seit 2007 rechtlich, medizinisch und therapeutisch zur Seite steht, wird vom Regime mit Repressionen bekämpft: Seit Juni 2016 darf Hassan nicht mehr ausreisen, ihre persönlichen und die Geschäftskonten wurden eingefroren.

Ein im Mai in Kraft getretenes Gesetz ermöglicht es den Behörden, die Arbeit und Finanzierung von NGOs zu überwachen und gegebenenfalls zu unterbinden. "Es geht darum, unsere Arbeit zum Erliegen zu bringen, aber auch, unseren Ruf zu zerstören. Die Regierung will uns als korrupte Diebe darstellen", sagt Hassan.

Die Feministinnen von Nazra kämpfen an vielen Fronten: Sie werden als Huren bezeichnet, von regierungsfreundlichen Medien verunglimpft, von Salafisten und Muslimbrüdern als verwestlichte Verräterinnen beschimpft. Als Nazra sexuelle Belästigung und Vergewaltigungen bei den Protesten der Revolutionsbewegung von 2011 anprangerte, warf man ihnen vor, den Idealen der Revolution zu schaden. Die Arbeit läuft weiter, aber sie ist mühsam. Die Repressionen lähmen das Land spürbar.

Welche Rolle spielt Religion?

Nour ist eine junge Christin, die sich westlich kleidet und ungern bevormunden lässt. Spielt das bei sexuellen Übergriffen in dem muslimischen Land eine Rolle?

"Sexuelle Belästigung hat in Ägypten nichts mit Religion zu tun", sagt die Journalistin und koptische Christin Karoline Kamel. Hijabtragende Musliminnen würden ebenso belästigt wie Frauen anderen Glaubens oder Atheistinnen. Gleichwohl steigt das Risiko offenbar, je westlicher und freizügiger sich eine Frau kleidet.

Kamel wurde im Alter von fünf Jahren erstmals von einem Mann unsittlich berührt und musste in den unruhigen Zeiten nach dem Sturz Mubaraks 2011 weitere schlechte Erfahrungen machen. "Während der Revolution haben wir von Freiheit geträumt, davon, endlich im Minirock durch die Straßen gehen zu können, ohne belästigt zu werden", sagt die 32-Jährige. Diese Träume seien geplatzt. "Die Situation der Frauen in Ägypten hat sich, seit ich denken kann, nur verschlechtert."

Der Grund? "Es geht um Macht. Ägyptische Männer glauben, dass sie Frauen besitzen. Deshalb behandeln sie sie wie Objekte, die sie nach Gutdünken hin- und herschieben und benutzen können." Die Umfrage von UN Women und Promundo ergab: Weit über 90 Prozent aller Ägypter wollen zu jeder Zeit wissen, wo sich ihre Frau aufhält, kontrollieren, wann sie das Haus verlässt und was sie anzieht. 96 Prozent der Männer erwarten, dass die Frau einwilligt, Sex zu haben, wenn sie dies wünschen.

"Schuld sind die Aliens"

Die Anthropologin Angie Abdelmonem von der Arizona State University führt an, westliche Kleidung könne von ägyptischen Männern als Provokation empfunden werden , weil sie Ausdruck eines Liberalismus sei, der drohe, muslimische Werte zu überrollen. Solche Männer hätten Angst vor Identitätsverlust.

Auch die wirtschaftliche Situation im Land trägt Soziologen zufolge zu Verunsicherung bei. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und Armut könnten Männer ihre Rolle als alleiniger Ernährer nicht mehr erfüllen. Ehen würden aus finanziellen Gründen immer später geschlossen, der Eintritt ins Erwachsenenleben verzögere sich. Sexuelle Belästigung sei in einer solchen Krise der Männlichkeit ein Weg, sich in der Öffentlichkeit als ganzer Kerl darzustellen.

Mozn Hassan empfindet solche Erklärungen als Versuch, die Täter zu entschuldigen. "Die Familien sind nicht in der Lage, ihre private Welt und die öffentlichen Übergriffe miteinander zu verknüpfen. Es ist ein bisschen so, als würden Aliens in Ägypten landen, Frauen begrapschen, demütigen und vergewaltigen und dann in ihre Ufos steigen und davonfliegen. Es sind nie die Väter, Brüder, Söhne, die belästigen, es sind irgendwelche Fremden."

Landkarte der Schande

Eine Konstante im Kampf gegen sexuelle Belästigung in Ägypten ist "HarassMap", eine Website, auf der Frauen und Männer anonym Ort und Zeit markieren können, wo sie belästigt wurden. Es ist so etwas wie eine digitale Landkarte der Schande, die viel dazu beigetragen hat, das Ausmaß des Problems öffentlich zu machen.

"Als wir 2010 angefangen haben, war sexuelle Belästigung ein totales Tabu", sagt Alia Soliman von "Harassmap". "Die Leute hatten Angst, darüber zu sprechen, sowohl privat als auch öffentlich." Dies habe sich geändert. "Die Menschen sind eher bereit, Straftaten anzuzeigen und in den sozialen Medien darüber zu schreiben."

Die zahlreichen Berichte und Kampagnen zur Bewusstmachung des Problems hätten dazu geführt, dass Augenzeugen jetzt eher einschreiten, wenn sie Belästigung oder Gewalt gegen Frauen beobachteten. "Das Eingreifen von Passanten hat sich als sehr erfolgreich im Kampf gegen Belästigung erwiesen."

"HarassMap" gibt online Tipps für alle, die in Zukunft nicht mehr hilflos zuschauen wollen, wie Frauen belästigt werden. "Gemeinsam können wir diese Epidemie bekämpfen", glaubt Soliman.

Es ist beachtlich, was unabhängige Aktivisten im Kampf gegen sexuelle Gewalt leisten. Mindestens ebenso beachtlich ist die Energie, mit der der Staat versucht, sie davon abzuhalten. Das gefährdet nicht nur die Sicherheit der Frauen und den sozialen Frieden, sondern stärkt auch radikale Kräfte. "Ob in Ägypten oder anderen arabischen Gesellschaften - wenn wir die Situation der Frauen nicht verbessern, wenn wir ihr Potenzial nicht nutzen, wird es keinen Fortschritt geben", sagt die ehemalige Frauenratsvorsitzende Mervat Tallawy. "Das ist gefährlich. Sehr gefährlich."

Impressum

Autorin: Annette Langer

Fotos: Roger Anis

Redaktion: Benjamin Schulz, Patricia Dreyer

Grafiken und Programmierung: Dawood Ohdah

Bildredaktion: Ireneus Schubial

Layout: Hanz Sayami

Dokumentation: Almut Cieschinger, Mara Küpper

Schlussredaktion: Lena Ekelund

Weitere Fotos: AFP, Reuters Getty Images/Corbis