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Grünen-Parteitag beschließt Spitzenkandidaten-Urwahl - DER SPIEGEL
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Grünen-Parteitag beschließt Urwahl Alle Macht der Basis

Die Grünen-Mitglieder dürfen die Spitzenleute im Bundestagswahlkampf küren - eine Premiere in Deutschland. Das hört sich nach einem Bekenntnis zur Basis an. Aber die Parteiführung handelt auch aus purer Not: Sie kann sich nicht auf ein Kandidaten-Duo einigen.
Abstimmung in Berlin:

Abstimmung in Berlin: "Eine super Idee"

Foto: Sebastian Kahnert/ dpa

Berlin - Eines gibt es auf Grünen-Parteitagen im Überfluss: Redebeiträge. Wenn alles besprochen ist zum Thema X, tritt eigentlich immer jemand ans Mikrofon, der einen bis dato unbeleuchteten Randaspekt vorbringt oder - noch häufiger - bereits Gesagtes rhetorisch recycelt.

Umso bemerkenswerter ist es, wie rasch die Grünen an diesem Sonntag die Spitzenkandidaten-Urwahl beschlossen haben. Es ist Viertel nach vier am Nachmittag, als die Damen vom Parteitags-Präsidium beinahe ungläubig in den Saal schauen. Will sich wirklich niemand mehr zum Tagesordnungspunkt 5 äußern? Ein einziger Redner, der Bundestagsabgeordnete Toni Hofreiter, tritt schließlich unter großem Gejohle vor die Delegierten. "Ich bin ja ursprünglich nicht begeistert gewesen von der Idee der Urwahl", sagt er. Aber das habe sich grundlegend geändert, berichtet Hofreiter. "In den Kreis- und Ortsverbänden hält man das für eine super Idee." Und inzwischen glaube auch er, dass die Partei jetzt nichts Besseres tun könne.

Das sieht inzwischen nahezu jeder so bei den Grünen. Und weil nach Hofreiter tatsächlich keine Frau mehr etwas zu dem Thema beisteuern will - wie es die strenge Redner-Quotierung verlangt - ist die Debatte beendet. Es wird direkt abgestimmt. Das Ergebnis: Fast hundert Prozent für die Urwahl, bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung.

Erste "Primary" in Deutschland

Das klingt nach einem beeindruckenden Votum in den Weddinger Uferhallen, einst Hauptwerkstatt der Berliner Verkehrsbetriebe. "Aufbruch 2013 - Richtungswechsel jetzt!" ist auf dem grünen Bühnenhintergrund zu lesen. Als ob sich die Partei auf diesem Weg wirklich etwas trauen würde. "Maßstäbe" wolle man damit setzen, hat Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke im Vorfeld gesagt, die Grünen sind mächtig stolz auf die bevorstehende Urwahl.

Tatsächlich ist es ein Novum in Deutschland, dass eine Partei ihr Spitzenpersonal für eine Bundestagswahl in einer solchen "Primary" bestimmt. Das klingt nach einer Menge Mitbestimmung und einem hohen Maß an Verantwortung für die Grünen-Basis.

Aber es ist auch die pure Not, die sich in dieser Urwahl ausdrückt. Denn die möglichen Spitzenkandidaten konnten sich untereinander nicht darauf einigen, wer die Grünen in den Bundestagswahlkampf führt.

Dabei schien eine Personalie schon lange klar: Jürgen Trittin, der mächtige Chef der Bundestagsfraktion, sollte Spitzenkandidat werden - vielleicht sogar alleine. Doch als Parteichefin Claudia Roth einen weiblichen Spitzenplatz reklamierte und gleich ihre eigene Kandidatur ankündigte, war die Duo-Lösung gesetzt. Da Roth und Trittin beide vom linken Parteiflügel kommen, wollten die Realos diese Kombination allerdings nicht akzeptieren. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt erschien vielen Realos als geeignete Kandidatin, aber Roth hielt an ihrer Kandidatur fest. Und dann war da ja auch noch Trittins Co-Fraktionschefin Renate Künast, die ebenfalls gerne Spitzenkandidatin werden will.

Nun treten die vier gegeneinander an, auch zwei Basis-Grüne haben sich noch für die beiden Spitzenkandidatenplätze beworben. Zwischen 90.000 und 100.000 Euro wird das Urwahl-Abenteuer kosten. Wochenlang werden die Kandidaten durch die Landesverbände ziehen und sich vor den knapp 60.000 Mitgliedern präsentieren, bis 30. Oktober kann die Basis abstimmen.

Schaulaufen hat begonnen

Das Schaulaufen der vier hat natürlich längst begonnen. Jeder von ihnen darf auf dem kleinen Parteitag in Berlin ans Rednerpult bevor es am Ende um die Urwahl geht. Dafür bieten sich bei den stundenlangen Debatten zur Energiewende und der Zukunft der deutschen Sicherheitsbehörden genügend Gelegenheiten. Auf dem Hof vor den Weddinger Uferhallen tingeln sie von einem Kamerateam zum nächsten.

Fraktionschef Trittin gilt als klarer Favorit bei der Urwahl. Möglicherweise kommt er deshalb so lässig daher an diesem Sonntag, mit schwarzer Kapuzenjacke, einer hellen Cargohose und Turnschuhen. Der Mann, der seit einigen Jahren so staatsmännisch auftritt wie kein Grüner seit Joschka Fischer. "So laufe ich am Wochenende immer rum", sagt Trittin. Vielleicht will der frühere Umweltminister aber auch zeigen, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehört, wie ihm manche Kritiker vorwerfen. Auch die drei Frauen Roth, Künast und Göring-Eckardt stehen nicht für die Generationenwechsel bei den Grünen. Sie hatten schon zu Zeiten der Regierung Gerhard Schröders wichtige Posten inne. Das, befürchten manche, könnte die Grünen zu altbacken erscheinen lassen.

Von den drei weiblichen Bewerbern werden Künast und Roth die besten Chancen ausgerechnet, Göring-Eckardt gilt als Außenseiterin. Aber das sind nur Einschätzungen zur Beliebtheit bei der Basis. Erhebungen dazu gibt es keine, zudem sind in den vergangenen Jahren Tausende neue Mitglieder bei den Grünen eingetreten. "Eigentlich weiß keiner, wie die ticken", hört man immer wieder.

Doch das eigentliche Problem ist ein anderes: Jeder der Kandidaten muss bei der Basis für sich werben, ohne die anderen schlecht aussehen zu lassen. Je schmutziger der innerparteiliche Wahlkampf wird, umso mehr schadet es den Grünen.

Wie das funktionieren soll, das erkennt man im Gespräch, ist ihnen selbst noch nicht so recht klar.