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Libyen: Eine unmögliche Familie - DER SPIEGEL
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Libyens Gadaffi-Clan: "Heiliger Krieg gegen Nescafé und Birchermüesli"

Foto: epa ansa Ettore Ferrari/ picture-alliance/ dpa

Libyen Eine unmögliche Familie

Misshandelte Dienstboten in Genf, Prügeleien in Paris: Der Clan der Gaddafis führt sich auf, als könne er sich im Westen alles erlauben. Und genau so ist es auch: Europa übt sich in Appeasement.

Es ist ein eher kleingewachsener, doch von seiner Größe berauschter Mann, der gegen die Berner Eidgenossen in den Krieg zieht. Der Mann entwickelt mit den Jahren einen Hang zu flamboyanten Uniformen und nennt sich selbst einen Revolutionär. Dabei denkt er spät in seinem Leben vor allem daran, eine eigene Dynastie aufzubauen, wird zum Tyrannen und endet als tragische, von seinen Gegnern verlachte Gestalt.

Die Rede ist von Napoleon Bonaparte und dem bislang letzten Kampf der Schweizer gegen eine fremde Macht, der Schlacht am Grauholz im März 1798 gegen napoleonische Truppen.

Seither haben die Schweizer ihren Frieden mit Tyrannen geschlossen, hüten allenfalls deren Konten und halten sich ansonsten aus jedem Streit heraus.

Damit ist es jetzt vorbei.

Denn wieder hat ein Revolutionär, ein selbsterklärtes Genie, den Eidgenossen den Krieg erklärt, diesmal von Bengasi aus, der libyschen Hafenstadt.

"Jeder Muslim, der mit der Schweiz zusammenarbeitet, wo auch immer das sei, ist ein Ungläubiger und stellt sich gegen Mohammed, Gott und den Koran", verkündete vorvergangene Woche. Während sich mancher Zuhörer noch fragen mochte, ob jetzt auch an den mehr als 350 "Tamoil Suisse"-Tankstellen im Besitz Libyens die Zapfschläuche niedergelegt würden, rief der "Leader" die "muslimischen Massen" bereits auf, sich landenden Swiss-Maschinen in den Weg zu stellen und allen Schiffen unter eidgenössischer Flagge die Häfen zu versperren - für eine Seefahrernation wie die Schweiz eine ernste Drohung. Auch müssten, so Gaddafi, alle Schweizer Produkte aus den Läden verschwinden.

Ein "Heiliger Krieg" gegen Nescafé und Birchermüesli.

Leader Gaga?

Der Schlachtruf von Bengasi ist der vorläufige Höhepunkt einer diplomatischen Groteske, die in den europäischen Außenämtern mit wachsender Ratlosigkeit beobachtet wird. Ein Clan führt Krieg gegen eine ganze Nation - weil er sich beleidigt fühlt.

La guerre c'est la guerre

Schon im September hatte Gaddafi bei der Uno die Auslöschung der Schweiz beantragt. Die Eidgenossenschaft sei kein Staat, "sondern eine Mafia, die den internationalen Terrorismus finanziert", und müsse deshalb zwischen Frankreich, Deutschland und Italien aufgeteilt werden.

In einer ersten Attacke wurden einige Büros von Schweizer Firmen geschlossen, Konten gesperrt und eine Visasperre verhängt. Zwei Schweizer Geschäftsleuten verweigerte Libyen die Ausreise; als die beiden sich in die Botschaft in Tripolis flüchteten, spitzte sich die Lage so zu, dass mehrere EU-Botschafter in die Schweizer Vertretung fuhren, um einen Übergriff zu verhindern. Einer der beiden Schweizer, der ABB-Angestellte Max Göldi, sitzt inzwischen in Haft. Er hatte sich der libyschen Polizei gestellt. Am vorigen Montag bekam er im Gefängnis Besuch von Hannibal, dem fünftältesten Sohn Gaddafis, eine obszöne Propaganda-Farce - als habe der mit der Sache überhaupt nichts zu tun.

La guerre c'est la guerre.

Begonnen hatte die Geschichte am 12. Juli 2008 mit einem Notruf aus dem Genfer Luxushotel "Président Wilson". Zwei Domestiken meldeten der Polizei, sie seien von ihrer Herrschaft mit Kleiderbügeln und Gürteln verprügelt worden. Einer der beiden gab an, er sei über Jahre hinweg beleidigt, regelmäßig getreten und geschlagen worden.

Alarmstufe Rot auf europäischen Polizeiwachen

Die Beamten nahmen die Verletzungen zu Protokoll, ebenso wie die Personalien der Beschuldigten: die Eheleute Hannibal al-Gaddafi und Alina, auf Kurzvisite in Genf, um dort ihr zweites Kind zur Welt zu bringen.

Muammar al-Gaddafi hat eine Tochter und sieben Söhne von zwei Frauen. Auf europäischen Polizeiwachen gilt: Sobald ein Gaddafi ausländischen Boden betritt, herrscht Alarmstufe Rot. Der Clan ist explosiv. Besonders explosiv ist Hannibal.

Mal wirft er, so italienische Zeitungen, sturzbetrunken mit Flaschen nach römischen Polizisten, mal rast er mit Tempo 140 im Porsche über die Pariser Champs-Elysées, betrunken und in der falschen Richtung. Im Jahr 2005 schlug er, ebenfalls in Paris, seine Geliebte (und spätere Gattin) Alina zusammen und wurde deswegen in Frankreich zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, auf Bewährung.

In Genf aber geht am 12. Juli alles schief. Diesmal zeigt eine eidgenössische Dienststelle Flagge, wie einst in der Schlacht am Grauholz.

Es kommt zu einem Handgemenge zwischen der Polizei und den Bodyguards der Gaddafis. Rund 20 Beamte stürmen die Hotelsuite mit vorgehaltener Waffe: "Polizei! Zeigen Sie Ihre Hände!" Hannibal wird in Handschellen fortgeschafft und verbringt zwei Tage in einer Arrestzelle im Genfer Justizpalast. Erst nach Zahlung einer Kaution von 500.000 Franken können die Gaddafis die Schweiz wieder verlassen. Hannibal bestreitet alle Vorwürfe.

Reich, skrupellos, dünkelhaft

Als die "Tribune de Genève" wenig später seine Polizeifotos veröffentlicht, gerät der Clan in Rage. Seither schlägt er zurück. Devisenrücklagen werden abgezogen, Visa verweigert, mit Ölsperre wird gedroht.

Die Gaddafis sind eine unmögliche Familie. Sie sind so unermesslich reich wie skrupellos und dünkelhaft. Ihre Macht scheint ungefährdet. Und wie oft bei Familiensagas bleibt als einziger Lichtblick die Hoffnung auf interne Fehden nach dem Abtritt des Patriarchen.

Nur dass die Söhne des "Bruders Führer" weniger dessen verblichenen revolutionären Elan geerbt haben als dessen grenzenloses Ego und seinen Hang zum Exzess.

Die einzige Tochter, Aischa, "Libyens Claudia Schiffer", schön und gebildet, ist Anwältin. Die 33-Jährige gehörte zum Verteidigerteam von Saddam Hussein und wirkt als Spindoktorin der Familie, vor allem, wenn ihre Brüder wieder etwas angestellt haben. Davon sind nicht nur die Schweizer, sondern auch die Bayern betroffen. Der Freistaat hat schon seit Jahren Ärger mit den Gaddafis.

"Der verrückte Hund des Nahen Ostens"

Im Jahr 2006 ermittelte die Münchner Staatsanwaltschaft gegen den 27-jährigen Saif al-Arab, den zweitjüngsten der Gaddafi-Söhne, weil der einen Türsteher der Disco "4004" verprügelt haben soll. Saif al-Arab und seine Begleiterin waren aufgefordert worden, das Lokal zu verlassen. Die Dame hatte sich beim Tanzen angeblich ihr T-Shirt und ihren Büstenhalter ausgezogen. Später prüfte die Staatsanwaltschaft den Vorwurf einer "versuchten Anstiftung zu einem Verbrechen", denn Saif al-Arab soll einen seiner Bodyguards aufgefordert haben, dem Türsteher das Gesicht zu verätzen. Im August 2007 wurde das Verfahren mangels Tatnachweis eingestellt, es stand Aussage gegen Aussage.

Saif al-Arab war an der TU München eingeschrieben, als Studentenbude diente ihm zunächst eine Suite im "Bayerischen Hof". In der Tiefgarage stand die Wagenflotte, ein Hummer, ein Bentley und ein Ferrari F430. Den konfiszierte die Münchner Polizei, als Saif al-Arab zum zweiten Mal mit 110 Dezibel durch die Innenstadt röhrte.

Im Sommer 2009 erwarb der libysche Staat, offenbar für Saif al-Arab, in München-Bogenhausen die frischgebaute Villa des Ex-Vorstandsvorsitzenden der Hypo Real Estate, Georg Funke. Auf acht Millionen Euro schätzte die "Süddeutsche Zeitung" das Anwesen.

Sachverständige und Anwälte der libyschen Botschaft reisten an, um den Kauf abzuwickeln. Und obwohl die Farbe an den Mauern der Villa noch kaum getrocknet war, ordnete Saif al-Arab gleich die nächsten Umbauten an. Der Vorgarten wurde umgepflügt und die Garage abgerissen, um einer Tiefgarageneinfahrt samt Lastenaufzug für die Nobelkaros-sen des Studenten Platz zu machen. Kaum war der Umbau beendet, entschieden sich die Gaddafis anders. Es war ihnen alles zu klein, Saif al-Arab zog gar nicht ein.

Inzwischen sei Saif al-Arab etwas ruhiger geworden, heißt es in Münchner Sicherheitskreisen. Allerdings bewege er sich "in einem sehr problematischen Umfeld", zu dem Dealer aus der Türsteherszene gehörten.

Gaddafi lädt 100 schöne Italienerinnen zur Islamkunde

Gaddafi senior ließ sich bei seinem letzten Italien-Besuch im November einige hundert schöne Römerinnen bestellen, alle bitte mindestens 1,70 Meter groß und zwischen 18 und 35 Jahren alt. Zur Überraschung seines Gastgebers Silvio Berlusconi beglückte Gaddafi sie dann nur mit einer Belehrung über den Islam.

Saadi

Feste Größen des internationalen Jetset sind Gaddafis Söhne , 36, und Mutassim, 34. Saadi buchte 2006 , für 500.000 Dollar, die Pussycat Dolls für eine Party in St. Tropez. Für eine "Libysche Nacht" in Venedig ließ "der sympathische Wüstensohn" (so Klatschreporter Michael Graeter) sich den Rapper 50 Cent aus New York einfliegen. Im Übrigen ist Saadi Chef des libyschen Fußballverbands, wozu ihn die Tatsache qualifizierte, dass er als Profifußballer sein Gehalt aus eigener Tasche zahlte. Er spielte bei AC Perugia, Udinese Calcio und Sampdoria Genua und brachte es zusammengerechnet auf nicht einmal 90 Minuten Spielzeit.

Gaddafis Ältester Mohammed, 39, ist Chef des Olympischen Komitees und kontrolliert die staatlichen Telekommunikationsunternehmen. Weil seine Mutter in Ungnade gefallen ist, rechnet Mohammed sich keine Chancen auf eine Nachfolge aus und meidet die Öffentlichkeit.

Saif al-Islam genießt als Einziger ein gewisses Respekt im Westen

Saif al-Islam

Geiseldrama auf der Philippinen-Insel Jolo

Ganz anders der Zweitälteste, der Architekt, Ingenieur und Ökonom , 37. Er hat es als Einziger der Gaddafis zu einem gewissen Respekt im Westen gebracht. Er steht der "Gaddafi-Stiftung" vor, die im Jahr 2000 im vermittelte und das Lösegeld auch für die deutsche Familie Wallert zahlte.

Saif al-Islam ist ein eleganter Schlaks, er ist das Fashion Model seiner Generation: geschorener Schädel, blaues Hemd, blauer Anzug, spitz zulaufende Schuhe. In traditioneller Berbertracht, die sein Vater trägt, sieht man ihn selten, auch farblosen Nagellack verwendet er nicht.

Sein Kosmos ist nicht der von Abuja, Lagos und Dakar, in dem sein Vater kreist, es sind auch nicht die Hotelsuiten in Genf, Rom und London, wo seine Brüder ihre Sommer verbringen. Saif al-Islam fährt zu seinen eigenen Kunstausstellungen nach Berlin und Sydney, zum Opernball nach Wien und zum Weltwirtschaftsforum in Davos.

Dort hat er vor ein paar Jahren den Harvard-Ökonomen Michael Porter kennengelernt und ihm den Auftrag erteilt, den libyschen "Volksmassenstaat" mit den Mitteln moderner Unternehmensberatung zu untersuchen. Worauf Porter herausfand, dass die 3 Prozent der Libyer, die im Ölsektor beschäftigt sind, 60 Prozent des libyschen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Im Übrigen sei das Land unproduktiv und stünde, könnte es kein Öl exportieren, unmittelbar vor einem Desaster.

In der eigenen Familie muss ein Gaddafi sich beherrschen können

In der Affäre um fünf bulgarische Krankenschwestern, die acht Jahre lang in einem libyschen Gefängnis saßen, weil sie Hunderte Kinder angeblich mit HIV infiziert hatten, brüskierte Saif al-Islam seinen Vater öffentlich. Er hatte zugegeben, dass die Unschuldigen gefoltert worden waren. Danach verschwand er für einige Zeit von der Bildfläche.

Denn in der eigenen Familie muss ein Gaddafi sich beherrschen können. In Europa aber führt sich der Clan auf, als könne er sich alles erlauben - und westliche Regierungen üben sich in Appeasement. Auf dem libyschen Öl scheinen alle Prinzipien ins Rutschen zu geraten.

Im Jahr 1984 wurde aus der libyschen Botschaft in London heraus eine britische Polizistin erschossen. Der Mord wurde nie aufgeklärt.

Lockerbie-Attentäter Abd al-Bassit al-Mikrahi

Im August 2009 wurde der zu lebenslanger Haft verurteilte freigelassen. Angeblich, weil er an Prostatakrebs im Endstadium erkrankt war. Heute lebt er auf einem Anwesen am Rande von Tripolis. Die Freilassung habe aus "überwältigendem Interesse des Vereinigten Königreiches" zu erfolgen, hatte der britische Justizminister Jack Straw formuliert. Monate vorher hatten, wie Saif al-Islam zugab, Libyen und Großbritannien über einen Öl-Deal verhandelt.

Berlusconi habe von dem "großen Weisen" aus Tripolis viel gelernt

Tony Blair war der erste europäische Regierungschef, der Gaddafi nach seiner Ankündigung, künftig auf Massenvernichtungswaffen verzichten zu wollen, besucht hatte. Ein halbes Jahr später folgte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, später lud Frankreich den Alleinherrscher zum "Tag der Menschenrechte" nach Paris ein.

2006 nahmen die USA wieder volle diplomatische Beziehungen mit Libyen auf. Bereits 2004 lobte selbst Präsident George W. Bush den einstigen Gottseibeiuns der amerikanischen Außenpolitik, den "verrückten Hund des Nahen Ostens" (Ronald Reagan). Da hatte Gaddafi gerade den Dissidenten Fathi al-Dschahmi aus dem Gefängnis entlassen. Später verschwand der Mann wieder, diesmal in einer psychiatrischen Anstalt.

Silvio Berlusconi rühmt sich seiner Freundschaft zu Gaddafi und erklärte in vollem Ernst, er habe von dem "großen Weisen" aus Tripolis viel gelernt. Italien hat Argumente für seinen Opportunismus. Das Land hängt nicht allein am Öl seiner ehemaligen Kolonie. Gaddafi bestimmt maßgeblich, wie viele afrikanische Flüchtlinge halbtot an den Stränden Lampedusas und Siziliens landen.

In der arabischen Welt ist der Dschihad-Appell von Bengasi weitgehend verhallt. Man kennt die libyschen Launen, und tatsächlich fällt auf, dass die Geschäfte mit der Schweiz insgeheim weiterlaufen. Schon im Januar wurde wieder Gaddafi-Öl im Wert von 71 Millionen Franken an die Schweiz geliefert. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr.

Auch das Embargo gegen Schweizer Produkte war nicht von Dauer. Im Januar exportierte die Schweiz schon wieder Pharmazeutika, Uhren und Maschinen nach Libyen, wie vor der Krise. Und die Raffinerie in Collombey am Ostufer des Genfer Sees produziert weiter, trotz Minarett-Verbot und Kränkung des Hannibal. Sie ist in libyschem Besitz.