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Sozialpsychologin Melanie Joy: Warum essen Menschen Fleisch - DER SPIEGEL
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Karnismus-Forscherin Joy "Bio-Fleisch ist ein Mythos"

Die Sozialpsychologin Melanie Joy beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, warum Menschen Fleisch essen. Ihre provokante These: Wir leben im Karnismus, in einem gewalttätigen System, in dem es normal und notwendig erscheint, Tiere zu töten.
Biofleisch: Für Joy ein Hoffnungszeichen - mehr aber nicht

Biofleisch: Für Joy ein Hoffnungszeichen - mehr aber nicht

Foto: Frank Leonhardt/ picture alliance / dpa

Frage: Frau Joy, Sie haben Ihre Studenten gefragt, warum sie Hunde lieben und Schweine essen. Welche Antworten haben Sie bekommen?

Joy: Die Studenten sagten oft: Weil es halt einfach so ist. Für Schweine finden die meisten negative Begriffe, für Hunde überwiegend positive. In der Psychologie spricht man vom Gesetz der Ähnlichkeit - je mehr Gemeinsamkeiten wir mit jemandem wahrnehmen, desto mehr Empathie bringen wir ihm entgegen.

Frage: Bin ich also ein schlechter Mensch, wenn ich Fleisch esse?

Joy: Nein. Ich selbst habe mein halbes Leben lang Fleisch gegessen. Mein Anliegen mit dem Buch ist es, den einzelnen Fleischesser zu destigmatisieren und stattdessen das System dahinter in den Mittelpunkt zu rücken. Ich nenne es Karnismus.

Frage: Hört sich bedrohlich an. Was soll denn Karnismus sein?

Joy: Karnismus ist ein Glaubenssystem, eine Ideologie. Wir sind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es richtig ist, Tiere zu essen. Das ist eine soziale Norm, an der kaum gerüttelt wird. Der Karnismus hält uns davon ab, diese Norm zu hinterfragen. Wir haben also die Logik eines höchst unlogischen Systems verinnerlicht.

Frage: Sie nennen den Karnismus in Ihrem Buch eine "gewalttätige Ideologie". Ist es wirklich so schlimm?

Joy: Ohne Gewalt, ohne das Töten gibt es kein Fleisch. Karnismus ist also logischerweise eine gewalttätige Ideologie. Sie ist komplett auf Gewalt aufgebaut. Alles dreht sich darum, dass eine Gruppe von Individuen eine andere Gruppe von Individuen zu ihrem eigenen Vorteil benutzt. Dahinter steckt eine Geisteshaltung, die der Idee einer gerechten Gesellschaft von Gleichen, für die wir uns ja eigentlich einsetzen, völlig entgegensteht.

Frage: Sie essen kein Fleisch mehr. Wie sind Sie zur Veganerin geworden?

Joy: Damals war ich 23. Ich hatte einen verdorbenen Hamburger gegessen und musste ins Krankenhaus. Ich hörte also auf, Fleisch zu essen, weil es mich anekelte. Erst später begann ich mich für die Hintergründe der Nutztierindustrie zu interessieren. Was ich herausfand, schockierte mich. Ich fragte mich, wie ich so lange an einem so schrecklichen System Teil haben konnte.

Frage: Sie schreiben, dass wir in einer Fleisch-Matrix leben, die uns, wie im gleichnamigen Film, zwingt, an unserer eigenen Unterdrückung mitzuwirken. Wer ist der Erlöser Neo in diesem Bild?

Joy: Wir alle sind Neo - oder könnten es sein. Mit diesem Bild will ich verdeutlichen, dass Karnismus ein dominantes System ist, das alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt. Werden wir in ein dominantes System wie den Karnismus hineingeboren, verinnerlichen wir die Logik dieses Systems. Wir lernen, die Welt durch die karnistische Brille zu sehen. Mein Ziel ist es, ein Bewusstsein dafür zu wecken. Denn ohne dieses Bewusstsein können wir keine wahrhaft freien Entscheidungen treffen.

Frage: Ein veganes Leben mit Tofu und Seitan muss man sich aber auch leisten können, oder?

Joy: Es ist ein karnistischer Mythos, dass eine vegane Ernährung teuer ist. Viele Menschen auf der Welt leben von Reis, Bohnen oder Mais - gerade weil sie sich nicht mehr leisten können.

Frage: Gibt es noch andere karnistische Mythen?

Joy: Nehmen wir den Protein-Mythos. Die Industrie redet uns ein, ohne Fleisch würden uns Proteine fehlen, um groß und stark zu werden. Dabei ist Patrik Baboumian, der stärkste Mann Deutschlands, bekennender Veganer. Selbst Elefanten sind es. Wir ignorieren, dass die Tiere, die wir essen, ihre Masse mit pflanzlicher Ernährung aufbauen.

Frage: Woher kommen diese Mythen?

Joy: Diese Mythen sind Verteidigungsmechanismen des Karnismus. Sie lassen sich zusammenfassen als die drei Ns der Rechtfertigung, nach denen Fleischkonsum normal, natürlich und notwendig ist. Mit denselben Argumenten wurde in der Geschichte versucht, schon alle möglichen gewalttätigen Ideologien zu rechtfertigen: vom Patriarchat bis zur Sklaverei.

Frage: Sie erwähnen in Ihrem Buch auch den Nationalsozialismus. Im Vorwort der deutschen Ausgabe steht, dass einige Passagen darin nicht auftauchen, da sie bei deutschen Lesern zu Missverständnissen führen könnten.

Joy: Mir ist es wichtig, Ideologien nicht gleichzusetzen, sondern Vergleiche zu ziehen. Keine zwei Ideologien sind gleich, da die Erfahrung der Opfer niemals dieselbe ist. Aber sie ähneln einander. Alle gewalttätigen Ideologien sind ähnlich aufgebaut, da hinter ihnen dieselbe Mentalität steckt, die Gewalt überhaupt erst hervorruft.

Frage: Was halten Sie von Bio-Fleisch?

Joy: Auch Bio-Fleisch ist ein Mythos. Die Verbraucher sind kritischer geworden, darauf hat die Industrie mit Bio-Fleisch geantwortet. Aber auch das ist Teil des Karnismus. Trotzdem: Dass Menschen bereit sind, mehr Geld für weniger Leid auszugeben, ist ein gutes Zeichen. Diskussionen um Bio-Fleisch gehören zu den wichtigsten Gesprächen, die Menschen jetzt führen können. Bleibt nur die bittere Wahrheit, dass es grausam ist, einem Wesen nur wegen seines Geschmacks das Leben zu nehmen - erst recht, wenn es dieses genießen und weiterleben möchte.

Frage: Ihr Argument gegen Karnismus ist die Leidensfähigkeit aller Lebewesen?

Joy: Das Leiden ist eine Seite. Aber es geht auch um Moral. Tiere sind wie wir fühlende Lebewesen, ob Hund oder Huhn.

Frage: Oder Fisch und Hummer. Wo ziehen Sie die Grenze? Vielleicht haben Pflanzen ja auch Gefühle.

Joy: Wir wissen heute, dass Tiere fühlende Wesen sind. Sollte sich herausstellen, dass Pflanzen es auch sind, haben wir erst recht die moralische Verpflichtung, uns vegan zu ernähren - und zwar direkt, ohne den Umweg, Tiere mit Pflanzenfutter zu Fleisch hochzupäppeln.

Frage: Sie schreiben, dass auch wir Menschen Opfer des Karnismus sind. Wie meinen Sie das?

Joy: Nehmen wir zum einen die Schlachter. In Europa sind das zumeist osteuropäische Einwanderer. Sie werden ausgebeutet und arbeiten in einem gefährlichen Umfeld voller Leid und Tod. Sie erkranken häufig an Süchten und posttraumatischen Stress. Auf der anderen Seite sind wir Konsumenten Opfer des Karnismus, da wir nicht nur unsere Körper vergiften, sondern auch unser Mitgefühl abstumpfen lassen. Der Karnismus zwingt uns, gegen unsere Grundwerte zu handeln.

Frage: Wie können wir unser Mitgefühl wiederbeleben?

Joy: Es ist ja nicht so, dass wir unsere Empathie verloren hätten. Nur haben wir gelernt, sie regelmäßig auszuschalten. Einige Menschen besuchen Tierheime oder Gnadenhöfe. Für viele ist das eine bewegende Erfahrung, die hilft, ihr Herz zu öffnen. Andere informieren sich über die Zustände in Schlachthöfen, engagieren sich, werden Veganer. Allein dieser Schritt ist schon ein wichtiges Statement.

Frage: Sie haben aber auch drastischere Vorschläge.

Joy: Die Regierungen könnten Warnhinweise auf Fleisch, Eiern und Milch anbringen. Wir würden weniger Tierprodukte kaufen, wenn wir wüssten, woraus unser Fleisch eigentlich besteht. Oft sind da krebserregende Stoffe drin, Antibiotika, immer wieder auch Hormone, Blut, Schleim, Fäkalien. Das landet dann auf unseren Tellern.

Frage: Eigentlich wissen wir das alles ja längst. Warum ändert sich nichts?

Joy: Auf Fleisch und Milchprodukte zu verzichten, erfordert mehr als eine Verhaltensänderung. Es braucht einen ganzheitlichen Bewusstseinswandel.

Frage: Werden wir den jemals erleben?

Joy: In den letzten Jahren sind immer mehr Menschen Veganer geworden, denn die meisten Menschen mögen Tiere und legen auch Wert auf Gerechtigkeit. Ich halte es mit Peter Singer, einem Pionier der Tierrechtsbewegung: Man muss Tiere nicht lieben, um die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt, abzulehnen. Das finde ich auch. Wir sind mit allen anderen Lebewesen in der Natur verbunden - streiten diese Verbindung aber seit Jahrtausenden ab. Wenn wir erkennen, dass wir Teil einer großen Gemeinschaft sind, verbinden wir uns mit einer Kraft, die sehr viel größer ist als wir selbst.

Frage: Jeder kann für sich auf Tierprodukte verzichten, aber was ist mit dem System, das sie ansprechen?

Joy: Der Wandel muss auf beiden Ebenen erfolgen, individuell und gesellschaftlich. Aber der Karnismus ist nun mal fest verankert. Denken Sie allein an die Agrarsubventionen. Wir bezahlen sie mit unseren Steuern, obwohl viele Menschen dagegen sind. Man könnte die Subventionen streichen, gerecht sind sie ohnehin nicht. Man könnte Fleisch auch höher besteuern - ähnlich wie Tabak und andere Dinge, die schädlich für uns sind.

Frage: Sie schreiben, die Medien stärkten den Karnismus, da sie das System nicht hinterfragen. Dabei ist das Thema doch ständig in den Nachrichten.

Joy: Die Medien stützen den Karnismus, indem sie vermeintlich normale Bilder von Fleisch zeigen, zum Beispiel Grill-Tipps für den Sommer. Wagen sie den seltenen Blick hinter die Kulissen, geht es meist um einen bösen Betrieb, nicht aber das karnistische System als solches.

Frage: Und wie ist das in Deutschland?

Joy: Ich bin um die ganze Welt gereist - kein Land ist in Sachen Umwelt und Gesundheit so offen und fortschrittlich wie Deutschland. Ich denke, dieses offene Bewusstsein überträgt sich. Wenn Deutschland so weitermacht, könnte es meiner Meinung nach bei der Neuordnung des Mensch-Tier-Verhältnisses eine Führungsrolle übernehmen.

Dieser Text stammt aus dem Magazin "enorm - Wirtschaft für den Menschen". 

Das Interview führte Felix Brumm für "enorm".