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"Human Brain Project": Forscher basteln an der Hirnmaschine - DER SPIEGEL
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"Human Brain Project": Wie das Hirn im Rechner entstehen soll

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"Human Brain Project" Forscher basteln an der Hirnmaschine

Ein Forscherteam will das menschliche Gehirn im Computer nachbauen. Das "Human Brain Project" hofft auf eine Milliardenförderung der EU. Der Kampf gegen Alzheimer und Parkinson soll endlich vorankommen - nebenbei sollen neue Supercomputer und Roboter entstehen.
Von Christoph Seidler und Cinthia Briseño

Ein Terabyte pro Sekunde rauscht gerade durch Henry Markrams Hirn, vielleicht auch mehr. Beim Blick nach links sieht er den schlanken Berliner Fernsehturm, vor sich hat er ein halbes Dutzend einigermaßen aufmerksamer Journalisten im Auge. Markram, er wirkt ein bisschen übernächtigt, kann ihre Stifte auf dem Papier der Notizbücher kratzen hören, den Straßenlärm der Karl-Marx-Allee. Er kann den Großstadtfrühling im Berliner Zentrum riechen, kann über seine Arbeit sprechen. Alles gleichzeitig. Und bei alldem verbraucht sein Gehirn noch nicht einmal ein Zehntel der Energie des Laptops, der vor ihm steht.

Wegen dieser Leistungen, wegen dieser Effizienz ist der Neuroforscher von der École Polytechnique Fédérale im schweizerischen Lausanne so fasziniert von unserem Denkorgan. An der Spitze eines Wissenschaftlerteams aus neun europäischen Staaten will er ihm in einem riesigen Forschungsprojekt seine Geheimnisse entlocken. Das Ziel ambitioniert zu nennen, ist zurückhaltend: Das "Human Brain Project" (HBP) will nichts weniger als das menschliche Gehirn in einem Computer zu modellieren. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollen unter anderem den Kampf gegen Krankheiten wie Parkinson oder Alzheimer voranbringen - und nebenbei die Entwicklung neuer Supercomputer ermöglichen.

Zusammen mit einem Dutzend deutscher Kollegen wirbt Markram an diesem Mittwoch für diese Forschung: "Das ist eine der drei großen Herausforderungen der Menschheit. Wir müssen die Erde verstehen, den Weltraum - und das Gehirn. Wir müssen verstehen, was uns menschlich macht." Der in Südafrika geborene Forscher tingelt zurzeit durch Europas Metropolen, schließlich bewirbt sich das von ihm geleitete Projekt um Geld aus einem EU-Förderprogramm, der sogenannten FET-Flagship-Initiative. Und dafür braucht es politische Unterstützung.

Es geht um nicht weniger als eine Milliarde Euro, verteilt über zehn Jahre. Fünf weitere Konsortien sind noch im Rennen um Förderung aus Brüssel. Sie befassen sich unter anderem mit dem Einsatz von Graphenen in der Computertechnik, mit robotischen Assistenzsystemen oder mit sogenannten virtuellen Patienten, mit denen individuelle Therapien kreiert und getestet werden. Im kommenden Jahr werden zwei Projekte ausgewählt. Wenn man die EU kennt, weiß man, dass neben wissenschaftlicher Exzellenz auch geografischer Proporz eine wichtige Rolle spielen wird.

"Es ist Zeit, diese Teile zusammenzufügen"

Die Forscher des "Human Brain Project" - Neurowissenschaftler, Genetiker, Informatiker, Robotikexperten, Ethiker - zeigen sich trotzdem optimistisch. Sie werben auch damit, dass ihr Projekt helfen kann, bereits existierendes Wissen besser zu nutzen. Aktuell gibt es etwa 200.000 Neurowissenschaftler weltweit, die Millionen wissenschaftlicher Veröffentlichungen produziert haben. "Das Wissen ist fragmentiert", sagt Markram. "Es ist Zeit, diese Teile zusammenzufügen."

Die Rhetorik ist gut, gar keine Frage. Doch gibt es nicht ein entscheidendes Problem? Milliardenschwere Großvorhaben von der Art des "Human Brain Project" wecken große Erwartungen, allen voran auf medizinische Fortschritte bei bisher unheilbaren Erkrankungen. Die großen Genomprojekte vor einigen Jahren haben das auch getan. Doch in der Praxis ist bis heute für Patienten wenig passiert. Alzheimer plagt die Menschheit weiter, Parkinson und die Amyotrophe Lateralsklerose ebenso. Enttäuschung ist aufgekommen, weil die Praxis oft komplizierter ist, als zu Beginn des Projekts vermutet.

Könnte dem HBP ein ähnliches Schicksal drohen? Die beteiligten Forscher verneinen das vehement - vor allem, weil praktische Anwendungen bereits früh im Projektverlauf zu erwarten seien. Neue Designprinzipien für energieeffiziente Computer zum Beispiel oder für neue Roboter. Neben Erkenntnissen in der Grundlagenforschung werfe das HBP schon frühzeitig auch nutzbare Produkte ab.

Und was den Kampf gegen Krankheiten angeht: Die Medikamentenentwicklung komme auch deswegen nicht voran, weil Pharmakonzerne die Investitionen nicht schultern könnten, sagt Henry Markram. Deswegen gingen die Patentanmeldungen zur Behandlung von Hirnleiden sogar zurück. Das geplante Forschungsprojekt würde das ändern, verspricht der Forscher. Denn die Firmen könnten das Hirnmodell nutzen, um neue Ideen zu testen.

Ein Daten-Tsunami rollt an

Im Blick der Wissenschaftler steht vor allem die Großhirnrinde. Die wenige Millimeter dicke Schicht an der Außenseite unseres Hirns ist die wichtigste Voraussetzung für seine Evolution. Wer wissen will, wie wir ticken, muss hier ansetzen. Und auch, wer etwas dagegen tun will, wenn Dinge schieflaufen. Denn in der Großhirnrinde baut sich unser Hirn seine Version des Universums. Der allergrößte Teil dessen, was wir sehen, kommt nicht durch das Auge ins Gehirn, sondern basiert auf den Eindrücken, Erfahrungen, Entscheidungen in unserem Gehirn.

Im Rahmen des Blue-Brain-Projekts hat Markham in Lausanne bereits wichtige Vorarbeiten für die Computermodellierung des Gehirns geleistet. Er hat einen winzigen Teil eines Rattenhirns, eine sogenannte neokortikale Säule, auf Zellebene modelliert. Wenn man verstehen will, was solch eine Säule tut, stellt man sich die Großhirnrinde am besten wie ein riesiges Klavier vor. Auf der Oberfläche befinden sich Millionen von neokortikalen Säulen - und jede produziert sozusagen einen Ton. Wenn man sie stimuliert, erzeugen die Säulen gemeinsam eine Symphonie. Das Verständnis vom Design dieser neokortikalen Säulen ist sozusagen der Heilige Gral für Neurowissenschaftler.

Wichtig ist es, die Regeln der Kommunikation unter den Nervenzellen zu verstehen. Denn die einzelnen Zellen verbinden sich nicht beliebig miteinander, sie suchen sich ihre Verbindungspartner sehr gezielt aus. Die Achsen der Nervenzellen kreuzen sich an Millionen verschiedenen Stellen, wo sie eine Synapse formen können. So wird Kommunikation zwischen den einzelnen Neuronen möglich. Im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences"  hat Markram gerade berichtet, dass solche Verbindungen auch ganz ohne äußeres Zutun aufgebaut werden. Das könnte auf eine Art angeborenes Wissen hindeuten, das allen Menschen gemeinsam ist. Markram nennt es im Gespräch die Lego-Bausteine des Hirns. Aus ihnen baue jeder Mensch sozusagen seine Welt zusammen.

Simulation soll 2023 fertig sein

All das im Computer zu modellieren, ist extrem komplex. Markrams bisheriges Modell umfasst Zehntausende von Neuronen. Doch um dem Geheimnis unseres Hirns auch nur ansatzweise nahe zu kommen, reicht das nicht aus. Dafür müssen zahllose weitere Teilmodelle zusammengefügt werden - um daraus bis zum Jahr 2023 eine funktionierende Gesamtsimulation zusammenzubekommen.

Eine wichtige Rolle sollen dabei die Supercomputer des Forschungszentrums Jülich spielen. Die Datenmengen der Hirnsimulation werden riesig sein. Forscher Markram spricht von einem "Daten-Tsunami". Wissenschaftler um Thomas Lippert, Chef des Supercomputerzentrums in Jülich, müssen sich unter anderem überlegen, wie sich der Computer immer nur um einen bestimmten Teil der Daten kümmert - ohne den Rest komplett aus dem Blick zu verlieren. Außerdem müssen sie an Darstellungsverfahren arbeiten, großen dreidimensionalen Hologrammen zum Beispiel, mit denen sich die Datenfluten darstellen lassen.

Um welche Informationsmengen es geht, kann man verstehen, wenn man sich die Arbeit der Jülicher Neuroforscherin Katrin Amunts ansieht. Ein Team unter ihrer Führung erstellt einen detaillierten Atlas des menschlichen Gehirns. Dafür hat sie zusammen mit ihren Mitarbeitern ein Gehirn in 8000 Scheiben zerschnitten, die mit einem Hochleistungsscanner digitalisiert wurden. Das so generierte Gehirnmodell besteht aus 10 mal 10 mal 20 Mikrometer großen Quadern, drei Terabyte ist der Datensatz groß. Besser aufgelöste Hirnatlanten, sagt Amunts, dürften mehr als 700 Terabyte groß sein. Zum Vergleich: Der Supercomputer "Watson", der im Februar in den USA menschliche Quizshow-Kandidaten in ihre Schranken wies, hatte einen Arbeitsspeicher von 16 Terabyte.

Apropos Computer: Wenn einer Rechenmaschine die Schaltkreise zerbröseln, fällt sie fast unweigerlich aus. Bei unserem Gehirn passiert das nicht so schnell, ganz im Gegenteil. Und auch das fasziniert Henry Markram, wie er sagt: "Wir verlieren 10.000 Neuronen am Tag - und wir werden trotzdem schlauer. Das Gehirn ist eine magische Maschine."