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Montaigne: Der Mensch hat gemeiniglich einen unbestimmten Charakter






Der Mensch hat gemeiniglich einen unbestimmten Charakter


Es ist wahrscheinlich, dass man von einem Menschen durch Hilfe der gemeinsten Handlungen in seinem Leben ein Urteil fällen kann. Aber in Betrachtung der natürlichen Unbeständigkeit unserer Sitten und unserer Meinungen hat mich oft gedünkt, selbst die guten Schriftsteller hätten Unrecht getan, wenn sie mit Gewalt eine sichere und gründliche Abbildung von uns haben machen wollen. Sie wählen eine allgemeine Gestalt. Nach dieser Vorstellung ordnen und erklären sie alle Handlungen eines Menschen, und rechnen diejenigen, welche sich nicht genug drehen lassen wollen, unter die verstellten. August ist ihnen dennoch entwischt. Denn man findet bey diesem Manne eine so augenscheinliche, jählinge und beständige Verschiedenheit in seinen Handlungen sein ganzes Leben durch, dass ihm die allerkühnsten Richter nichts anhaben können, und nichts entscheiden. Ich traue den Menschen nichts weniger zu als die Beständigkeit, und nichts eher als die Unbeständigkeit. Wer sie einzeln, besonders und Stück vor Stück beurteilte, würde öfters finden, dass ich die Wahrheit sage. In dem ganzen Altertum wird man schwerlich zwölf Männer aufweisen können, die ihr Leben auf einen gewissen und bestimmten Fuß gesetzt hätten, welches doch der Hauptzweck der Weisheit ist. Denn, ein Alter sagt (a) um sie in einem einzigen Worte zusammen zu fassen, und um alle Lebensregeln in eine einzige einzuschliessen, sie besteht darinnen, dass man immer einerlei will, und einerlei nicht will. Ich brauche nicht, spricht er, dazu zu setzen, woferne unser Wille gerecht ist: denn, wenn er nicht gerecht ist, kann er unmöglich immer einerlei sein. Ich habe in der Tat ehedem gelernt, dass das Laster nichts anders als eine Unordnung und ein Mangel des rechten Maßes sei. Folglich kann unmöglich einige Beständigkeit dabei statt haben. Demosthenes hat, wie es heißt, (b), gesagt, Überlegung und Beratschlagung wären der Anfang aller Tugenden, und das Ende und die Vollkommenheit derselben wäre die Beständigkeit. Wenn wir mit Vernunft einen gewissen Weg erwählten, so würden wir den schönsten wählen; aber daran denkt niemand.

 

Quod petiit, spernit, repetit quod nuper omisit,

Aestuat, & vitae disconuenit ordine toto. (c) 

 

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(a) Seneca Epist. 20. Quid est sapientia? Semper idem velle, atque idem nolle: licet hanc exceptiunculam non adiiciam, vt rectum sit quod velis. Non potest cuiquam semper idem placere, nisi rectum.

(b) Esti gar, estin hapasês aretês achê men synesis, peras de andreia. Orat. Funebr.

(c) Er verachtet das, was er haben wollte. Er nimmt das wieder vor, was er erst unterlassen hatte. Er ist beständig unruhig, und in seinem ganzen Leben nicht mit sich einig. Horat. Ep. 1, L. I. v. 98. 99.


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