Zweiundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. 1991 gab es die Deutsche Mark, Helmut Kohl war Kanzler und Joachim Gauck der Chef einer Behörde, die das systematische Misstrauen eines Staats gegenüber seinen Bürgern aufarbeiten sollte. "Ich bin verliebt in ihn!", sagte er damals über den demokratischen Rechtsstaat. Zweiundzwanzig Jahre und um einige Macht reicher scheint Gauck noch immer in den Flitterwochen zu sein, in denen seine Braut unfehlbar ist.

So verdächtigt der einstige oberste Bespitzelungsaufklärer einen 30-jährigen Computerspezialisten, der die digitale Aushorchung ganzer Völker durch angloamerikanische Geheimdienste aufgedeckt hat, öffentlich zunächst einmal des "puren Verrats", anstatt auf den Vertrauensbruch zwischen Staaten und Bürgern einzugehen, der dank Edward Snowden bekannt wurde.

Hat Gauck verdrängt, wie gefährlich ein Generalverdacht des Staats gegen seine Bürger sein kann? Sind die Datensammler von Prism und Tempora nicht weitgehend der demokratischen Kontrolle entzogen? Geheimzirkel bestimmen, wer verdächtig ist. Die Gefährlichkeit dieser Logik sollte gerade ihm noch bekannt sein.

Vorwärts und nur vergessen?

Ganze 175 Kilometer lang war der Bestand von Aktenordnern an Geheimdienstmaterial, den Gauck als Behördenchef aufzuarbeiten hatte. Einige Zentimeter davon galten ihm selbst. Als Bürgerrechtler und Pfarrer war Gauck jahrelang im Visier der staatlichen Überwachung der DDR. Vermutlich wurden auch seine Telefonate abgehört und seine Briefe heimlich mitgelesen. Seine spätere politische Karriere in der Bundesrepublik basierte genau darauf: Dass er die Verbrechen des sozialistischen Überwachungsstaates kritisierte und aufarbeitete.

Deswegen wirkt es seltsam, wenn er nun, konfrontiert mit dem millionenfachen Abfangen von Telefon- und Internetdaten, erst einmal betonen muss, wie wichtig es sei, dass ein Staat seinen Angestellten vertrauen können muss. Was ist mit dem Vertrauen von Bürgern in ihren Staat?

Für Gaucks erstes, spontanes Urteil zu Snowden gibt es mögliche Erklärungen. Eine davon heißt: Gauck hat einen Unfehlbarkeitsglauben gegenüber dem Staat, solange dieser nicht kommunistisch ist. Die andere: Gauck argumentiert wie ein klassischer Konservativer, dessen Logik lautet: Wer die bestehende Ordnung kritisiert und den Status Quo in Zweifel zieht, stört. Ob es gute Gründe für das Stören gibt, ist zweitrangig.

Zweiundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Gauck ist zu wünschen, dass er es schneller schafft, seine Zweifel an den Zweifelnden abzulegen. Schließlich gehörte er einst selbst dazu. Heute ist es nicht seine Aufgabe, diskursive Grabesruhe herzustellen, sondern Vertrauen in den Staat zu stiften, den er repräsentiert. Über reflexhafte Nestbeschmutzer-Rhetorik funktioniert das nicht.