Die Frau mit dem Kopftuch hat in ihrem Leben zwei Männer zurücklassen müssen, die nicht mit ihr gehen wollten. Dafür ist sie jetzt von 30 Männern umgeben, die schon mal über sie lachen. Wenn Gihan Kamel auf der Baustelle den Schutzhelm auf ihr Kopftuch setzt und über Kisten klettert, fühlt sie sich manchmal wie ein seltenes Tier im Zoo. Die Männer, die dann grinsen, werden erst einmal an ihrer Seite bleiben. Und Gihan Kamel wäre nicht da, wo sie heute ist, wenn sie in diesem Moment nicht mitlachen könnte.

Die Logik der Physikerin funktioniert so: Lachen die Männer, klettert sie höher. Geben sie ihr absichtlich schwere Kisten zum Tragen, stemmt sie abends im Fitnessstudio noch schwerere Gewichte. Nehmen ihre Kollegen sie als Wissenschaftlerin nicht ernst, arbeitet sie eben doppelt so hart. Kamel bedeutet im Arabischen perfekt.

Die Ägypterin hat ihre Formel gefunden, um als einziger weiblicher Wissenschaftler in einem Labor voller Männer nicht unterzugehen. Den Rest braucht nicht nur sie, sondern brauchen alle, die an dem gewagten Experiment mitarbeiten: einen starken Willen und vor allem eine Vision.

SESAME

Der Teilchenbeschleuniger liegt im Ort Allan, 35 Kilometer entfernt von der jordanischen Hauptstadt Amman.

Im Ort Allan, 35 Kilometer entfernt von der jordanischen Hauptstadt Amman, entsteht in einem Gebäude, das wie ein römischer Tempel anmutet, eine neue Lichtquelle. Es ist die Erste ihrer Art im Nahen Osten. Sie trägt den Namen Synchrotron Light for Experimental Science and Applications in the Middle East, kurz Sesame. Es handelt sich um einen Teilchenbeschleuniger, der Elektronen mithilfe von Magneten und elektrischen Feldern im Kreis flitzen lässt, bis sie fast so schnell sind wie Licht. Die elektromagnetische Strahlung, die sie dabei aussenden, nennen Wissenschaftler Synchrotronstrahlung. Dreizehn Jahre dauerte der Bau, Anfang Januar begann die Testphase, im Sommer starten die Experimente.

Weltweit gibt es mehr als 60 Forschungsanlagen dieser Art. Das Besondere an Sesame ist aber nicht nur der Standort im Nahen Osten. Es sind vor allem die Wissenschaftler, die hellhörig werden lassen. Im Tempel-Labor sollen sich Israelis und Iraner, Türken und Zyprioten, Pakistaner, Palästinenser und Ägypter treffen und gemeinsam forschen. Sie sollen in den Pausen zusammen essen, bei einem Kaffee plaudern und sich im Gästehaus begegnen. Unabhängig von Herkunft, Religion und der einander oft feindlich gesinnten Politik ihrer Heimatländer will Sesame ein internationales Labor für Wissensaustausch sein – und ist damit nicht weniger als eines der größten Experimente für den Frieden in der Region.

Dieser Text stammt aus dem ZEIT WISSEN Magazin 2/17. © Das aktuelle Heft können Sie am Kiosk oder hier erwerben.

Gihan Kamel (ausgesprochen: Kamell) sitzt an ihrem Schreibtisch im ersten Geschoss oberhalb der Rotunde, durch die sich der Beschleuniger schraubt. An der Wand über ihr hängen Bilder und ein Schild mit zwei Pfeilen. "Men to the left because women are always right", steht darauf geschrieben. Kamel trägt das dazu passende Lächeln im Gesicht, selbstbewusst; ein Hemd, grün-weiß kariert; Nagellack, schwarz. Das blau-weiß geblümte Kopftuch hat sie unter dem Kinn zusammengewurschtelt, oben spitzt der dunkle Haaransatz heraus. Warum trägt sie es? "Ich will das Vorurteil brechen, dass Frauen mit Kopftuch immer unterdrückt sind und sich nur um Haushalt und Kinder kümmern", sagt sie. "Eine Frau mit Kopftuch kann eine erfolgreiche Wissenschaftlerin und religiös sein." Gihan Kamel, so viel ist klar, kämpft an mehreren Fronten.

Auf dem Tisch spiegelt ihre Sonnenbrille das Herbstlicht in den blauen Gläsern. Daneben liegt ein Buch von Orhan Pamuk. Diese Fremdheit in mir, ein Roman über Zerrissenheit und die Suche nach innerer Heimat. Gihan Kamel sieht jünger aus als die 40 Jahre, die sie alt ist. In der Hand hält die Physikerin einen kurzen Bleistift. Wenn sie erklärt, warum sie an das Friedenslabor glaubt, klopft sie damit vehement auf das Blatt Papier vor ihr auf dem Tisch.

Anfangs habe sie schon Zweifel gehabt. "Ich habe mich gefragt, ob ich, eine stolze Ägypterin, zu einer neutralen Person werden kann", sagt sie. "Kann ich meine Augen vor der Welt verschließen und einfach nur meine Experimente machen?" Wochenlang habe sie mit sich gerungen. Ägypten hat mit Israel zwar einen Friedensvertrag und erkennt den Staat, anders als der Iran oder Pakistan, auch an, aber der Freiheitskampf der Palästinenser ist für viele die Sache aller Araber. Nach ein paar Wochen weiß sie die Antwort. Ihre tägliche Arbeit funktioniert seitdem nach einem Dreisatz: "Ich lese keine Zeitung, ich schaue keine Nachrichten, ich spreche nicht über Politik", sagt sie und tippt mit dem Stift dicke Bleistiftpunkte auf das Blatt.

Drei Jahre lang repräsentierte Gihan Kamel Ägypten im Mitgliederkomitee von Sesame. Sie beobachtete, wie sich Palästinenser und Israelis auf Konferenzen nebeneinandersetzten, wie iranische Forscher in der Kaffeepause mit israelischen Kollegen redeten. 2015 zieht sie nach Jordanien und tritt ihre Stelle als verantwortliche Physikerin für die Infrarotstrahlung an. Sie wird schnell zur vehementesten Verteidigerin dieser "verrückten Idee" namens Sesame, ihrer Vision vom Frieden.