[812] Keilschrift. Mit diesem Namen bezeichnet man die in alter Zeit durch ganz Vorderasien hin weitverzweigte Schriftart, die einen sogen. Keil (senkrechter, wagerechter oder schräger Keil: ) und einen durch Zusammenrückung zweier schräger Keile oder aus einer kreisrunden Vertiefung entstandenen, nach rechts offenen sogen. Winkelhaken zu ihren Grundbestandteilen hat und durch mannigfachste Kombinierung zweier oder mehrerer größerer oder kleinerer Keile und Winkelhaken eine Fülle verschiedener Schriftzeichen bildet. Alle Keilschriftgattungen sind rechtsläufig. Die erste Keilschriftgattung, die in den wissenschaftlichen Gesichtskreis trat, war die jüngste und einfachste, die altpersische, die in den Inschriften der Achämenidenkönige auf den Ruinen von Persepolis, am Felsen von Behistun (Bisutun) und anderwärts vorliegt (vgl. die Schrifttafeln beim Artikel »Schrift«). Obwohl schon im Anfang des 17. Jahrh. verschiedene Reisende die persischen Keilinschriften gesehen und darüber berichtet hatten, so hielten doch die meisten Gelehrten sie lange für bloße Steinzieraten, und erst die genauen Abschriften, die der ältere Niebuhr mitbrachte und in seiner »Reisebeschreibung von Arabien und andern umliegenden Ländern« (Kopenh. 1774–78, 2 Bde.) veröffentlichte, veranlaßten die ersten Entzifferungsversuche. Deutlich konnte man auf den Inschriften von Persepolis drei Schriftarten unterscheiden. Auf die erste Gattung, als auf die einfachste, richtete ein junger deutscher Gymnasiallehrer, G. Grotefend, seine Aufmerksamkeit, und es gelang ihm, in einer Anzahl öfter wiederkehrender, durch den (schon vor ihm erkannten) Worttrenner abgeteilter Zeichengruppen die Namen des Dareios, Xerxes und Hystaspes und den alten persischen Königstitel »König der Könige« nachzuweisen. Die vor dem Titel stehenden Königsnamen erschloß er aus dem Umfang der betreffenden Gruppen sowie daraus, daß in einer der Inschriften, da, wo er den Namen des Vaters des betreffenden Königs vermutete, der Königstitel hinter demselben fehlte, woraus Grotefend entnahm, daß Hystaspes gemeint sein müsse, der selbst nicht König, aber der Vater des Königs Dareios war. Nachdem durch diese wichtige Entdeckung, mit der Grotefend 4. Sept. 1802 an die Öffentlichkeit trat, der Lautwert von zwölf Zeichen richtig bestimmt war, erkannte man in der Sprache der ersten Gattung deutlich eine indogermanische Sprache, die Mutter des Neupersischen und Schwester des Zend, d. h. der Sprache des Zendavesta, das in Ostiran entstanden ist. Teils die Fortschritte in der Entzifferung der letztern, mit dem »Altpersischen«, wie es nun genannt wurde, sehr nahe verwandten Sprache (s. Zend), teils die Ähnlichkeit mit dem Sanskrit, teils die geschickte Benutzung der von Herodot und andern griechischen Autoren aufbewahrten Nachrichten über die altpersische Geschichte bildeten die Grundlage der scharfsinnigen Vermutungen und Kombinationen, durch die Rask, Beer und insonderheit Burnouf, Lassen, Rawlinson, Hincks, Oppert u. a. nach und nach die etwa 40 Zeichen, aus denen die Buchstabenschrift der ersten Gattung besteht, mit Sicherheit feststellten (vgl. Spiegel, Die altpersischen Keilinschriften, mit Übersetzung, Grammatik und Glossar, u. Aufl., Leipz. 1881). Lassens Untersuchungen waren sehr durch die zuverlässigen Abschriften erleichtert worden, die der ausgezeichnete dänische Orientalist Westergaard in Persepolis mit Hilfe eines Fernrohrs von den dortigen Inschriften genommen hatte, während Rawlinson die gleichfalls hoch oben an einem Felsen angebrachte große Inschrift des Dareios zu Behistun persönlich mit Lebensgefahr kopiert hatte.
Eine unvergleichlich größere Anzahl von Keilinschriften wurde der Forschung durch die Ausgrabungen von Botta, Layard, Hormuzd Rassam, George Smith u. a. auf den Ruinen von Ninive und Babylon zugeführt (s. Assyrien, S. 894f.; Babylonien, S. 225). Nicht nur die aus den Palästen der assyrischen Herrscher stammenden Bildwerke, geflügelten Sliere u. dgl. sind mit Keilschriftzeichen bedeckt, sondern es sind in Ninive-Kujundschik auch Tausende von beschriebenen Tontafeln großen und kleinern Formats aufgefunden worden (zuerst durch Rassam 1854, und leider z. T. in zerbrochenem Zustande), aus denen die Bibliothek des assyrischen Königs Asurbanipal, des Sardanapal der Alten, bestand. Weitaus der größte Teil der hier ausgegrabenen Keilinschriften kam nach London und Paris, und es ging daher auch ihre Entzifferung von England und Frankreich aus. Schon die Untersuchung der altpersischen Keilinschriften hatte zu dem Ergebnis geführt, daß von den beiden andern Gattungen der K., welche die altpersischen Keilinschriften als Übersetzungen begleiten, die zweite Gattung eine agglutinierende, die dritte eine semitische Sprache enthalte. Sofort erkannten nun die Entzifferer in den neugefundenen Keilinschriften die nämliche Schriftgattung und die nämliche semitische Sprache wieder, die sie in der dritten Gattung der persischen Keilinschriften vorgefunden und teils mit Hilfe der persischen Texte, teils durch Vergleichung mit den übrigen semitischen Sprachen bereits großenteils entziffert hatten. Eine wesentliche Erleichterung gewährten dabei die in Ninive gefundenen sogen. Syllabare, d. h. zum [812] Unterricht in der assyrischen Schrift angefertigte dreispaltige Listen von Keilzeichen, worin die mittelste Spalte das zu erklärende Schriftzeichen, die linke seine Lautwerte, die rechte seinen Namen enthält. Anderseits hatten jedoch die Entzifferer auch sehr große Schwierigkeiten zu überwinden, welche die übergroße Zahl der stets ganze Silben oder ganze Wörter ausdrückenden Zeichen und außerdem die von Rawlinson 1851 erkannte Mehrdeutigkeit (Polyphonie) eines Teils derselben bereiteten.
Gegenwärtig kann das Entzifferungswerk auch der babylonisch-assyrischen K. (vgl. die nebenstehenden Schriftproben), um das sich vor allem de Saulcy, Sir Henry Rawlinson, Hincks und Oppert verdient gemacht haben, als abgeschlossen betrachtet werden. Vgl. Oppert, Expédition scientifiqueen Mésopotamie, Teil 2 (Par. 1859); J. Ménant, Les écritures cunéiformes (2. Aufl., das. 1864); Fritz Hommel, Geschichte Babyloniens und Assyriens, S. 58–134 (Berl. 1885 ff.); Kaulen, Assyrien und Babylonien nach den neuesten Entdeckungen (5. Aufl., Freib. i. Br. 1899).
Übersichtliche Zusammenstellungen der mehr als 400 babylonisch-assyrischen Schriftzeichen (Silbenzeichen, Ideogramme oder beides zugleich) nebst den sonstigen Zeichengruppen und ihren Bedeutungen finden sich bei Friedrich Delitzsch, Assyrische Lesestücke (4. Aufl., Leipz. 1901) und Assyrische Grammatik (2. Aufl., Berl. 1905); L. W. King, First steps in Assyrian (Lond. 1898); R. E. Brünnow, A classified list of all simple and compound cuneiform ideographs (Leiden 1887, 2 Bde.; Indices, 1897).
Ihrem Ursprung nach ist die babylonisch-assyrische K. lineare Bilderschrift, die, wie die ägyptische und chinesische Schrift, erst allmählich zur Silben-, bei den Persern schließlich zur Lautschrift wurde, und zwar ist sie eine Erfindung des nicht- und vorsemitischen Volkes der Sumerer (s. d.). Vgl. F. Delitzsch, Die Entstehung des ältesten Schriftsystems (Leipz. 1896); H. V. Hilprecht in »The Babylonian Expedition of the University of Pennsylvania, Series A, Vol. I, Part II«, S. 34 ff. (Philad. 1896); Thureau-Dangin, Recherches sur l'origine de l'écriture cunéiforme, 1. Teil (Par. 1898). Mit der zunehmenden Verwendung weichen Tones als Schreibmaterials und dem Gebrauch dreikantig-prismatischer Schreibgriffel kam jene dreikantig-pyramidale Vertiefung als Kopfeinsatz der frühern einfachen Linien in Aufnahme, die der Linie die Gestalt eines Keils gibt. Die babylonische Schrift in ihren mancherlei Formen, Alt- und Neubabylonisch oder besser Monumental- und Kursivbabylonisch, ist weitaus die älteste Keilschriftgattung; sie war auch von allen Keilschriftgattungen am längsten in Gebrauch, nämlich von der ältesten babylonischen Zeit ab bis in das letzte vorchristliche Jahrhundert; und sie war endlich von allen die weitaus verbreitetste, gebraucht und verstanden von Babylonien durch ganz Vorderasien bis nach Ägypten und westwärts bis nach Kappadokien, wie einerseits der Tontafelsund von El Amarna, anderseits die »kappadokischen« Kontrakttäfelchen lehren. Auch die assyrische K. war mit der babylonischen trotz mancherlei Unterschiedenheiten im Grunde eins.
Aus der babylonischen K. wurde die altpersische herausgebildet, aus der assyrischen dagegen ging die armenische K. hervor, in der die hauptsächlich am Wansee gefundenen ältesten armenischen Inschriften geschrieben sind, jene Inschriften, die A. D. Mordtmann irrig aus dem Neuarmenischen erklären wollte, während sie nach Lenormant und Sayce mit dem Georgischen Verwandtschaft zu zeigen scheinen. Vgl. A. H. Sayce, The cuneiform inscriptions of Van, deciphered and translated (im »Journal of the Royal Asiatic Society«, Bd. 14, S. 377–732). Ein »Corpus Inscriptionum Vannicarum« bereiten, im Anschluß an ihre armenische Forschungsreise, W. Belck und C. F. Lehmann vor.
Mit der babylonischen K. ist endlich auch die zweite Keilschriftgattung der Achämeniden-Inschriften verwandt, die man, ebenso wie die Sprache, die in ihr geschrieben ist, lange Zeit für medisch gehalten hat (so Rawlinson, Lenormant und vor allem Oppert, Le peuple et la langue des Mèdes, Par. 1879). Doch führt eine Vergleichung von Schrift und Sprache der im Gebiete des alten Susa gefundenen elamitischen Backsteine auch für Schrift und Sprache der sogen. zweiten Gattung mit Notwendigkeit nach Elam-Susiana; man nannte sie dementsprechend elamitisch, amardisch (A. H. Sayce), susisch (Mordtmann, Halévy), anzanisch (Delattre), am richtigsten vielleicht neususisch (so Weißbach) im Unterschied von den »altsusischen« Backsteinlegenden. Vgl. F. H. Weißbach, Die Achämenideninschriften zweiter Art (Leipz. 1890).
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