Don Quijote – Miguel de Cervantes Saavedra (1605)

„Ich weiß, wer ich bin!“ Leidenschaftlich, kompromisslos und sich seiner selbst hundertprozentig gewiss wirft sich „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha“ in die Schlacht: für scheinbar bedrohte Damen, scheinbar zu Unrecht Verurteilte und gegen Riesen (Windmühlen), ebenbürtige Ritter (Barbiere) sowie ganze feindliche Heere (Schafe).
Seit 400 Jahren lesen Menschen dieses Buch. Das Werk wurde im Jahr 2002 von AutorInnen im Dunstkreis des Nobelpreiskomitees zum „Besten Buch aller Zeiten“ gekürt. Es war bereits im Jahr 1605 ein Bestseller. Wir wissen von mehreren Raubdrucken. Miguel de Cervantes spielt im zweiten Band  (1615 erschienen) liebenswürdig auf die starke Resonanz an: Er beschimpft einen Trittbrettfahrer, der eilig einen eigenen Fortsetzungsband geschrieben hatte und macht sich auch den Spaß, dass neue Figuren des zweiten Bandes die alten Figuren, Don Quijote und Sancho Panza, bereits „kennen“, weil sie durch das Buch berühmt geworden sind.

Die große Rezeption ließ in den folgenden Jahrhunderten nicht nach: Eine seiner literarischen „Töchter“ finden wir in Flauberts Madame Bovary, die – Romane verschlingend – ebenfalls die Realität ignoriert und ihre Fantasien als Wirklichkeit lebt. Und sogar in einem aktuellen Indie-Buch über eGames spielt die Schlüsselszene im „Maritornes“ als Verweis auf den spanischen Klassiker.

BUCH IM BUCH, SPIEL MIT ERZÄHLERN

Das ironische und ernsthafte Nachdenken über das Lesen selbst, über die Wirkung von Literatur stellt einen Eckpfeiler dar, an dem Interpretation und Wirkungsgeschichte festgemacht werden können. Der Roman „Don Quijote“ ist nicht nur eine lässige Satire auf die äußerst populären Ritterromane des (bereits ritterlosen) 16. Jahrhunderts. Die Narreteien des Protagonisten sind sogar ursächlich nur auf das Lesen zurückzuführen. Ein Mann, der sein gesamtes Vermögen in Bücher gesteckt hatte – manch LeserIn ertappt sich hier zufrieden selbst – , beginnt seine Leidenschaft zu leben. Don Quijote nimmt die Fantasien für bare Münze und – „Ich weiß, wer ich bin!“ –  setzt die Konsequenzen daraus sogleich unreflektiert um.

Wer erzählt uns die Geschichte des Ritters von der traurigen Gestalt, der „en un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero acordarme“ (An einem Ort in der Mancha, ich will mich an seinen Namen nicht erinnern) lebt.  Es ist gar nicht leicht, alle fiktionalen Erzähler zu identifizieren. Viele Erzählstimmen kommen zu Wort, die jeweils eigene Geschichten erzählen und verschiedene Genres vertreten. Zwischendurch gibt gelegentlich jemand ein Sonett zum besten. Nicht nur die Erzählstimmen, sondern auch die Erzählebenen sind kunstvoll miteinander verwoben: Cide Hamete Benengeli heißt der arabische Historiker, von dem Cervantes behauptet, die Geschichte übernommen zu haben und bei der großen Bücherentsorgung zum Wohle des Don findet der Pfarrer auch „Galatea“ von einem gewissen Cervantes, den er persönlich kenne.

Gegen Ende des ersten Bandes wird von einem gewissen sehr mutigen Ritter Saveedra gesprochen, der von den Mauren gefangen gehalten worden sei. Der uns hier eine Spiegelfigur des Autors zeigt, ist seinerseits ein ehemaliger Gefangener der Mauren, der Don Quijote und seine Freunde in der spanischen Schenke mit seinen Lebenserinnerungen unterhält.

Der Erzähler hinter dem Autor Cervantes beruft sich  – ein alter Trick, um glaubwürdiger zu erscheinen – augenzwinkernd auf die seriöse Quelle eines anderen Autors mit arabischem Namen: Side Hamete Benengeli habe angeblich die Fakten aufgeschrieben. Verschiedene Figuren bringen Erzählungen und lyrische Vorträge ein und schließlich machen die Dialoge zwischen dem Ritter und seinem Knappen einen guten Teil des Textes aus.

Der erste Band schließt mit vagen Vermutungen, irgendwo gäbe es  noch eine Quelle, die möglicherweise über das weitere Leben des Hidalgo Auskunft geben könne, wenn man sie denn finden würde…

Empört entdeckt Don Quijote am Beginn des zweiten Bandes, dass seine Geschichten von einem Mauren namens Side Hamete zu einem populären Roman verarbeitet wurden. Sogar die Passagen, in denen er alleine gewesen sei, wie er beklagt. Seine nächste Frage nach der Empörung ist jedoch voller Neugier: Welches seiner Abenteuer den Lesern am besten gefalle. Und sodann entwickelt sich eine vergnügliche Rezension des ersten Bandes durch die Hauptfiguren Quijote und Sancho Panza über inhaltliche Fehler, die ein Lektor beheben hätte können.

DIE FIGUREN

Zwei Figuren bewegen sich durch die heiße Mancha und durch Cervantes‘ Welt. Ja, der dünne, große Ritter und sein kleiner, korpulenter Knappe treffen auf ein vielfältiges Panoptikum an weiteren Figuren, aber das Universum von Cervantes verliert die beiden nie aus seinem Zentrum. Und nicht nur die Welt von Cervantes: Als Archetypen streunt die gegensätzliche Doppelconference seitdem durch die Jahrhunderte: Populäre Wiedergänger von Don Quijote und Sancho Panza sind Duos wie Stan Laurel & Oliver Hardy, Asterix & Obelix, Farkas & Waldbrunn und viele andere.
Die Komik ergibt sich aus der Gegensätzlichkeit und aus dem Vertauschen der Rolle und gelegentlich aus dem Sich-Aneinander-Entwickeln. Alle drei Aspekte sind von Cervantes wunderbar ausgearbeitet: Nicht nur das Slapstickhafte erheitert die LeserInnen, sie können sich auch mit den beiden Protagonisten an deren Entwicklung erfreuen.

Schon bald nach dem Erscheinen des Werkes verselbstständigten sich die Figuren. Heute kann jeder Mensch über den Kampf gegen die Windmühlen sprechen, ohne das Buch jemals gelesen zu haben. Wie übrigens auch über eine andere Figur aus dem goldenen Zeitalter der spanischen Literatur, dem siglo d’oro:  Der Don Juan wurde um die gleiche Zeit von einem anderen spanischen Dichter (Tirso de Molina)  ebenfalls aus dem Nichts geschaffen. Don Juan und Don Quijote, zwei Prototypen der Weltliteratur.

Sind Don Quijote und Sancho Panza Helden oder Verlierer? Vladimir Nabokov hat für seine Literaturvorlesungen in Harvard die Schlachten minuziös aufgezählt und bewertet. Resultat: Unentschieden! Zwanzig Einzelsiege stehen exakt zwanzig Einzelniederlagen gegenüber.
Dass die spanischen Helden nicht – wie ihre Vorgänger aus der griechischen und römischen Antike – jeden Kampf siegreich bestehen ist auch der Tatsache geschuldet, dass sie keinerlei olympische HelferInnen haben. 50:50 ist da ein ganz guter Schnitt.

Nicht nur Nabokov hat sich mit Cervantes beschäftig: Heinrich Heine und Lord Byron haben berichtet, wie das parodistische Werk ihnen auch das Herz zerissen hat. Dostojewski, Flaubert, Foucault und Adorno haben über ihn geschrieben. Siegmund Freud legte den Don Quijote auf die Couch, wie Susanne Lange, die Übersetzerin in ihrem ausführlichen Nachwort berichtet.

Der Leser staunt über die absolute Sicherheit, die Don Quijote durchs Leben führt: Als Gegenteil der gleichzeitig in Großbritannien entstandenen Figur des Hamlet, zweifelt der spanische Protagonist keine Sekunde an sich und seiner Weltsicht. Bemerkt er etwa, dass der von ihm besiegte Riese nur ein Weinschlauch war, ist ihm vollkommen klar: Es gebe da diesen neidigen, mächtigen Zauberer, der ihm seine Siege nicht gönne. Dieser Zauberer habe eben den Riesen in den Weinschlauch verwandelt, damit er, Don Quijote dumm dastehe.
Nachdem der Leser über diese Narretei gestaunt hat, blickt er in die Welt und sieht eine ganze Menge Genossen des Don im Land des Selbstbetrugs, natürlich auch sich selbst.

Neben den vielen kleinen und feinen Gelegenheiten zu schmunzeln strotzt das Werk von Brachialhumor. Die Figuren verhauen einander wie bei Bud Spencer & Terence Hill, bei Stan Laurel & Oliver Hardy, wie in den Martial-Arts-Choreographien von Jackie Chan. Als „besserer Leser“ wähnt man sich weit über diesem Niveau – und wird dafür natürlich kräftig ausgelacht. Die Prügelszenen – Don Quijote selbst verliert mal sieben Zähne, mal wird er am Handgelenk aufgehängt – sind tatsächlich brutal, sie zeigen die Welt von gestern und sie zeigen, was man lustig fand, als es noch keine moralischen Vorschriften dafür gab.
Gleichzeitig bilden sie die Basis für „besseres“ Vergnügen:
Sancho Panzas zahlreiche Versuche etwa, seine Sprache eine Spur zu hochsprachlich anzusiedeln und  sich dadurch in bessere Kreise zu katapultieren freut alle, die Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ gelesen haben.

Am Ende stehen tiefe Scham und Erkenntnis: Don Quijotes Sicht auf die Welt klart kurz vor seinem Tod auf. Zum Schluss durchschaut er seine Illusionen, erlebt einen Moment der hellen Verstandesklarheit und stirbt.

Und schon vermissen wir ihn: Verlass war keiner, zu keiner Zeit, auf sein Urteil. Aber reinsten Herzens setzte sich Don Quijote hunderprozentig für das Gute und Richtige ein.

ILLUSIONEN

Eine dritte Figur, die das Werk durchzieht ist Dulcinea: Als Phantom und als Parodie auf Dantes Beatrice geistert sie durch den Text: Nie tritt die verehrte feine Dame leibhaftig auf, von der Sancho Panza berichtet, das sie hauptsächlich für den trefflichen Umgang mit dem Dreschflegel bekannt sei.
Die Dame, um derentwillen Don Quijote all seine Abenteuer angeblich ausführt, hat auch auf einer anderen Ebene eine zentrale Funktion: das Auge im Sturm der Illusionen:

Sancho erfindet im ersten Teil aus Not geboren ein Treffen mit ihr, im zweiten Teil schraubt er die Sache eine Windung weiter: Um die Lüge zu verbergen, präsentiert er Don Quijote ein anderes Bauernmädchen als Dulcinea. Der Don ist entsetzt von deren undamenhaften Aussehen und Geruch, aber er vertraut Sancho, der die verblüffte Frau als Dulcinea und Dame anspricht, blind. Warum er selbst ein hässliches Mädchen sieht, erklärt er wieder mit der  Verzauberung der armen Schönen durch die  eifersüchtigen Zauberer, die ihn, den Ritter, quälen wollen.

Die Herzogin zieht in Kapitel 33 die Schraube weiter an: Sie bequatscht Sancho so lange, bis dieser überzeugt davon ist, die Zauberer würden tatsächlich existieren und hätten ihn selbst verzaubert, so dass er – Sancho – die echte Dulcinea nicht erkannt und nur die Illusion eines Bauernmädchens gesehen hätte. „Da könnt ihr Recht haben“, sagt Sancho, der angeschwindelte Schwindler.

DER AUTOR

Miguel de Cervantes hat den Don Quijote – so wie am Beginn des Romans erwähnt – tatsächlich „im Gefängnis gezeugt“. Er befand sich in Haft, als er begann, die Figur auszuarbeiten. Die literarische Figur im Roman ist etwa im selben Alter wie der Autor, als er beginnt sie zu erfinden: Jenseits der 50. Während Cervantes tatsächliche Kriege hinter sich hat und ihm in der Seeschlacht von Lepanto 1571 die linke Hand zerstört wurde, übersteht Don Quijote die ärgsten Prügeleien und brutalsten Schläge wie ein Held der modernen Actionfilme, um sich sogleich in weitere „Abenteuer“ zu stürzen: Sieben ausgeschlagene Zähne? Kein Problem. Die nächste Dame wartet schon auf seine Dienste.

Der Held des Romans befreit Galeerensträflinge zur seinem eigenen Nachteil (sogleich überfallen sie ihn), der Autor hingegen war selbst Sträfling und fünf Jahre sogar versklavt in Algier, bis ihn die Nonnen des Ordens der Dreifaltigkeit sowie seine Mutter und Schwester auslösten. Danach heiratet er, wird Beamter, kommt wegen Veruntreuungen ins Gefängnis, und entwickelt sich zum Autor des „Don Quijote“.

Hat er mit dem Quijote tatsächlich das „beste Buch aller Zeiten“ verfasst? Die Literaturwissenschaft ist sich jedenfalls einig, dass die von Cervantes geschaffene Figur des Don Quijote „wundersam herauf über den Horizont aller Literatur“ (Vladimir Nabokov) ragt.

DIE ZEIT

Die Zeit, in der der „Don Quijote“ entstanden ist, sieht Spanien bereits am absteigenden Ast der Weltgeschichte: Die Armada ist bereits besiegt, die Niederlande sind verloren, die Silberlieferungen aus Übersee werden weniger, das Land ist entvölkert: Der Staat hatte Mauren und Juden vertrieben, dazu kam die Massenauswanderung nach Lateinamerika). Im Gegensatz dazu schwingt sich die spanische Literatur zum goldenen Zeitalter, zum siglo d’oro auf.

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Das Buch hat 52 Kapitel im ersten und 74 Kapitel im zweiten Teil und insgesamt über 1000 Seiten. In der exzellenten Übersetzung von Susanne Lange – sie überbrückt elegant und vergnüglich die vergangenen 400 Jahre – brauchen die LeserInnen „nur“ viel Zeit, um sich an dem Werk erfreuen zu können. Tipp: Etwa 30 Seiten pro Tag „naschen“.

: )

5 Kommentare

  1. Wie er den Übergang zwischen klarem Blick und dem Kippen in die Illusion beschreibt:
    : D
    Im Marionetten-Theater, wo er zuerst sachliche Anweisungen gibt, wie das Spiel möglichst realistisch werden könnte. Dann kommt der Puppen-Ritter in Gefahr und Quixote kippt rein und hilft ihm: Er randaliert, indem er das ganze Theater zerstört.

    So wie im Kino, wenn einen der Regisseur kurz WIRKLICH schockiert, obwohl man eigentlich weiß, dass man einen Film sieht und nicht im Film lebt.

    1. Das Kapitel gefällt mir auch seeeehr gut: Der Puppenspieler, der kein Puppenspieler ist; das Publikum, das die vierte Wand durchbricht, Don Quijote, der den „Drama-Vertrag“ nicht einhält, bei dem normalerweise alle Beteiligten stillschweigend vereinbaren, dass sie wissen, das die Figur nur eine Figur ist, aber so tun, als ob sie nicht wüssten; …
      Cervantes war ja ursprünglich ein erfolgloser Dramatiker : )

  2. Schön ist auch, dass dieser Roman überhaupt nicht dem 0815 Schema von Bestseller-Romanen folgt. Keine „Heldenreise“ á la Christopher Vogler, sondern:
    Die zwei werden vom Leben herumgeschubst, keineswegs drängt alles auf ein happy end hin, auch nicht auf tragisches Ende.
    Der Autor nimmt sich Zeit für eine lange Nebengeschichte, die dann nie mehr eine Rolle spielt.
    Man kann in dem Buch ziellos spazieren gehen. Super!

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