Die Ausgangslage: Veränderungen

In den letzten 20 Jahren haben sich Herangehens- und Sichtweise der Psychoanalyse dessen, was in Bezug auf Sexualität und Geschlecht als akzeptabel und normal angesehen wird, drastisch verändert. Homosexualität wird nicht mehr länger als eine Perversion betrachtet, die Analytikerinnen und Analytiker vor ihren Kolleginnen und Kollegen verbergen müssen oder von der erwartet wird, dass sie sich im Laufe der Analyse bei ihren Patienteninnen und Patienten ändert. (Der besseren Lesbarkeit wegen und da auf diesem Gebiet zwar viel in Bewegung, aber noch keine einheitliche und elegante Lösung gefunden worden ist, verwende ich in weiterer Folge die männliche Schreibweise, die alle Geschlechter einschließen soll.)

Eine weitere Entwicklung fordert unsere Auseinandersetzung. In jüngerer Zeit sind Analytiker in ihrer Praxis damit konfrontiert, dass das Geschlecht nicht mehr als etwas betrachtet wird, das primär durch körperliche Gegebenheiten bestimmt ist, sondern als etwas, das jeder Einzelne für sich selbst entscheiden muss. Den eigenen Körper so zu verändern, dass er einer Entscheidung entspricht, wird heute von vielen als akzeptable Vorgehensweise angesehen. Diese Veränderungen sind nicht isoliert zu betrachten und werden aktuell auf vielen Ebenen thematisiert.

Das Committee on Sexual and Gender Diversity Studies der International Psychoanalytical Association (IPA) schlägt auf der Website der IPA einen fast mahnenden Ton an. Es wird davor gewarnt, dass – wie alle anderen Formen des Denkens – auch psychoanalytisches Denken und Theoriebildung Gefahr laufen, kulturellen Einstellungen, Überzeugungen, Vorurteilen, Wahrnehmungen, Fehleinschätzungen und Vorurteilen der Zeit und des Ortes, an dem sie auftreten, unterworfen zu sein und manchmal dadurch eingeengt und verzerrt zu werden. Gleichzeitig ist das, was einst allgemein als „absolute“ Kategorien – heterosexuell/schwul; männlich/weiblich – angenommen wurde, die überwiegend oder ganz von der Biologie bestimmt wurden, einem komplexeren, rätselhaften, multibestimmten Verständnis gewichen (Internationale Psychoanalytische Vereinigung [IPA] 2020).

Damit ist kritische Auseinandersetzung in einem größerem Maß gefordert: Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker müssen die Ursprünge und Determinanten ihrer Annahmen und Überzeugungen sorgfältig abwägen und sich bewusst sein, dass ihre Vorannahmen nicht notwendigerweise Fakten sind, sondern bewussten und unbewussten Kräften ausgesetzt sind, die unwissentlich ihren endgültigen Inhalt prägen können. Diese Veränderungen in der psychoanalytischen Herangehensweise sind parallel zu den Veränderungen in der Gesellschaft insgesamt verlaufen. Es stellt sich jedoch immer die Frage, ob und inwieweit Psychoanalyse in ihrer Praxis soziale Veränderungen reflektiert.

Vor diesem Hintergrund hatte es sich die 9. Deutschsprachige Internationale Psychoanalytische Tagung (DIPsaT) 2020 in Wien vorgenommen, über Sexualität zu sprechen. Insbesondere sollte Homosexualität in der Übertragung – die Übertragung auf die (Homo)Sexualität, ausgehend von der klinischen Irritation („bottom up“ und in nicht „top down“) – diskutiert werden, inspiriert von der Neugier, wie homo-/heterosexuelle Übertragung in verschiedenen Konstellationen funktioniert. Die Vorträge wurden jeweils durch ein Mitglied bzw. durch eine Kandidatin oder einen Kandidaten der beteiligten fünf deutschsprachigen IPV-Gesellschaften aus der Schweiz, Österreich und Deutschland gehalten. Sie thematisierten die sich in der Übertragung entwickelnde Sexualität, die in der Übertragung abgewehrte (Homo)Sexualität und die sexualisierte Übertragung als Abwehr bzw. Widerstand/Agieren; nicht zuletzt das sublime Potenzial von Sexualität: Diskutiert wurden die Konzepte von sexuellem Abstand versus sexueller Differenz, das Fehlen von psychischer Bisexualität und vieles mehr.

Drei Hauptvorträge von Bernd Heimerl, Ulrike Kadi und Gabriele Treu sowie der Kovortrag von Yvonne Czermak sind in der vorliegenden Ausgabe des Forum der Psychoanalyse abgedruckt. Es gibt wahrscheinlich ein besonderes Interesse, diese nachlesen zu können, denn pandemiebedingt musste die Tagung weitgehend in den virtuellen Raum verlegt werden. Dank guter inhaltlicher Vorbereitung der Tagung durch das internationale Organisationskomitee gab es trotz der ungewohnten Modalitäten einen anregenden klinischen Erfahrungsaustausch, sowohl in der Diskussion der Vorträge und Koreferate als auch in den Supervisionsgruppen. Letztere sind fixer und nachgefragter Bestandteil dieser Tagung, ermöglichen sie doch Austausch zwischen den analytischen Kulturen und Generationen. Dieser ist notwendig, denn die Konflikte und Zumutungen mit der Psychosexualität werden in der Übertragung gemeinsam erlebt. Daher ist die klinische Situation seit Beginn der psychoanalytischen Praxis eine Herausforderung, vor deren Gefahren ein sicherer und durchdachter Rahmen schützen soll. Wo er fehlt, ist dieser „Tummelplatz“ gefährlich.

Psychosexualität in der Übertragung

Nach den traumatischen Erfahrungen Sabrina Spielreins mit Jung schreibt Freud während des Ersten Weltkriegs seine „Bemerkungen über die Übertragungsliebe“ (1914), eine der wenigen Arbeiten, in denen er sich mit Gegenübertragung, einem mit seinen Worten der schwierigsten Probleme der psychoanalytischen Technik, auseinandersetzte. Er warnt Analytiker, die Objekt erotischer Anziehung geworden waren, und empfiehlt die Indifferenz, die man sich durch die Niederhaltung der Gegenübertragung erworben hat, nicht zu verleugnen (Freud 1914, S. 308). Mehr als hundert Jahre später erscheint es geradezu als selbstverständlich, das Psychoanalytiker dazu in der Lage sind, bei der Verwendung die eigene Psyche, das eigene Unbewusste, Verdrängte zu erkunden, wahrzunehmen und so auch den Umgang mit der eigenen verdrängten Sexualität zu meistern. Was zunächst als gefährliche Komplikation der Analyse betrachtet worden war, wurde in den nächsten Generationen zum vertrauten Werkzeug, zum gängigen Begriff, in dem oft die unbewusste Dimension verloren geht, wenn allzu salopp von „in meiner Gegenübertragung“ gesprochen wird.

Mittlerweile hat Gegenübertragung die Bedeutung einer zentralen Quelle bekommen, um zu verstehen, wie Patienten komplexe Aspekte ihrer inneren Welt kommunizieren. Besonders wichtig ist dies für Erfahrungen, die nicht mit Worten vermittelt werden können. Dass sogenannte Gegenübertragung-Enactments dabei unvermeidlich sind und für das Verständnis von Patienten umgewandelt und genützt werden können, ist zu anerkanntem Wissen geworden. Das geschieht aber in nichtlinearen, holprigen Prozessen im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, einander zu erkunden und kennenzulernen, und der Notwendigkeit der Abstinenz, die zur unvermeidlichen Frustration der letztendlichen Erfüllung führt. So abgesichert, kann das Übertragungsgeschehen dazu dienen, emotionale Ereignisse zum ersten Mal richtig wahrzunehmen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, aber zu verstörend waren, um sie zum Zeitpunkt ihres Auftretens zu erleben, und so die Hitze in eine erträgliche psychische Realität umzuwandeln. In einer solchen Situation kann die Sprache als das Gefäß des psychoanalytischen Wissens erotisiert werden, und der Analytiker kann mit Vergnügen seine Fähigkeit, „tief“ und „durchdringend“ zu interpretieren, ausleben. Die Offenheit, verführt zu werden und der Verführer zu sein, die Bereitschaft, in die Falle des Analysanden zu tappen, erfordert die Fähigkeit, zwischen Ausleben und Selbstbeobachtung zu oszillieren.

Dass dieser Aspekt der Gegenübertragung bisher weniger häufig als Hass oder Aggression in der Gegenübertragung beschrieben wurde, hängt vermutlich damit zusammen, dass dadurch beim Analytiker unterschiedlich starke Ängste und beschämende Gefühle hervorrufen werden können. Aber auch die erotische und erotisierte Gegenübertragungsreaktion verliert ihren geheimnisvollen Zauber, wenn sie ans Tageslicht gebracht und diskutiert werden kann.

Bedeutsam ist dabei auch die Rolle des verborgenen Narzissmus der Analytiker, der die erotische Übertragung so „klebrig“ macht. Dies rührt daher, dass sie sich oft an das anhängt, was Freud (1926, S. 249) die „Eigenheiten der Person des Analytikers“ nannte – womit er nicht Eigenheiten, sondern individuelle Qualitäten meinte. Eine Vermeidung dieser Thematik ist jedoch weder möglich noch sinnvoll, denn das Erkunden der sexuellen Gefühle in der Übertragung sowie der komplexen und intimen Aspekte der erotischen Fantasien der Analysand*innen und ihres Wunsches nach sexuellen Liebesbeziehungen zum Analytiker oder zur Analytikerin bietet uns die einzigartige Gelegenheit, in das Sexualleben des jeweils anderen Geschlechts und/oder der jeweils anderen sexuellen Orientierung einzutauchen. Hier kommt sowohl eine homosexuelle als auch eine heterosexuelle Dynamik ins Spiel, sowohl der positive als auch der negative Ödipuskomplex.

Obwohl das tatsächliche Geschlecht und die sexuelle Orientierung des Analytikers und des Patienten Behandlungsvariablen sind, führt die menschliche Bisexualität die Komplexität der Dispositionen und Identifikationen beider Geschlechter bei beiden analytischen Partnern ein. Ein männlicher Patient kann passive homosexuelle Konflikte mit einer Analytikerin erleben, ebenso kann eine Analytikerin passive homosexuelle Bestrebungen mit einem männlichen Patienten erleben.

Vielerorts (Gabbard 1994) wurde eine Phase vorgeschlagen, die man als „ödipales Übergangsspiel“ bezeichnen könnte, in der Kinder beiderlei Geschlechts schwankende Identifikationen und kaleidoskopisch wechselnde erotische Fantasien mit Eltern beiderlei Geschlechts erleben. Diese Ära des Experimentierens geht der Festigung einer geschlechtlichen Identität und dem endgültigen Verzicht auf bisexuelle Allmacht (das heißt dem Wunsch, sowohl männlich als auch weiblich zu sein und „alles zu haben“) voraus.

Problematisch ist das Festhalten an der Überzeugung, eigentlich beide Ausformungen des Geschlechts omnipotent in sich zu enthalten. Diese bisexuelle Omnipotenz bekommt ihren ersten Riss in der frühen genitalen Phase und ist spätestens ab der Pubertät nur mehr um den Preis der Verleugnung zu haben. Eine der Aufgaben besteht darin, diese Übergangsarena wieder zu öffnen und einen analytischen Raum zu schaffen, in dem dieses „Spiel“ wieder aufgenommen werden kann. Dazu müssen die Analytiker in analoger Weise für diesen Übergangsbereich in sich selbst offen sein.

Wenn der/die Analytiker*in sich den Gefühlserlebnissen andersgeschlechtlicher Analysand*innen oder solchen einer anderen sexuellen Orientierung annähern kann, regt die entsprechende Gegenübertragung sowohl die Fähigkeit zur Identifizierung mit dem jeweiligen individuellen sexuellen Verlangen als auch Ängste und Widerstände dagegen an. Es ergibt sich daraus die Möglichkeit eines intimen Verstehens, dass sonst nur in Liebesbeziehungen möglich ist. Daher ist die „bisexuelle Potenz“ eine in der Regel stumm bleibende, unbewusste, aber stabile bisexuelle Identifikation, ein kostbarer Schatz; sie hütet im Inneren, was man in der äußeren Welt sowieso nicht haben kann. Die stumme bisexuelle Potenz ermöglicht eine stabil-flexible Geschlechtsidentität, das heißt eine sichere Geschlechtsidentität, verbunden mit der Fähigkeit zur Identifikation mit dem anderen Geschlecht, ebenso wie eine stabil-flexible sexuelle Orientierung, das heißt zum Beispiel Heterosexualität ohne Homophobie (Becker 2013). Auf dieser Basis der stummen bisexuellen Potenz kann ein Analytiker stolz auf seine weiblich-rezeptiven Anteile sein. Diese Haltung hat sowohl auf unmittelbarer als auch auf konzeptueller Ebene eine wichtige Bedeutung im analytischen Setting.

Damit eine Behandlung als Psychoanalyse bezeichnet werden kann, muss es ein Setting, den oben erwähnten Rahmen, geben. Das Setting fungiert als Teil der Identität des analytischen Paares, als „Nicht-Prozess“, innerhalb dessen sich der analytische Prozess abspielt. Dieser Rahmen muss theoretisch definiert sein. Die Zwei-Personen-Situation braucht eine Theorie als „drittes Objekt“, welches es dem Analytiker/der Analytikerin ermöglicht, sich aus der Verstrickung in eine dritte Position zu bewegen. Analytiker müssen emotional empfänglich für die Kommunikation und Projektionen ihrer Patienten sein. Gleichzeitig beschäftigen sie sich auch in ihrem Denken über den Patienten in einer Weise, die eine Beziehung, von der der Patient nicht Teil ist, impliziert. Sie müssen in der Lage sein, nicht nur mit, sondern auch über den Patienten zu denken, eine Fähigkeit, die nicht leicht zu erreichen ist. Dazu leistet ein angewandtes und damit vertieftes Verständnis der psychischen Bisexualität einen unverzichtbaren Beitrag.

Die im vorliegenden Heft des Forum der Psychoanalyse versammelten Arbeiten illustrieren, welche Herausforderungen die bisexuellen Übertragungsangebote, mögen sie schweigend, körperlich oder verbal sein, darstellen. Sie beleuchten das Drama des Ödipus mit seinen verschiedenen homo- und heterosexuellen Komponenten, zeigen, wie sich Abwehr gegen die Differenzierung – von Beziehungen, Geschlechtern und Neigungen – auswirken kann, und wie es Analytikern gelingen kann, sich nicht gegen die triebhaften Ansprüche von Patienten wehren zu müssen. Sie liefern damit auch nachvollziehbare Beiträge zu einem Problemfeld, nämlich einem angemessenen Umgang mit dem Sexuellen im analytischen Prozess, dem es immer noch an praktikablen und lehrbaren Konzepten mangelt.