Wer nach dem Ende des Ostblocks und der Sowjetunion 1991 annahm, auch Karl Marx habe damit als „Volksheiliger“Footnote 1 ausgedient, konnte sich 2018 nur verwundert die Augen reiben: Das Jahr seines 200. Geburtstags brachte eine beeindruckende Fülle an Ausstellungen, Tagungen, Kunstprojekten, Vortragsabenden, Romanen, Webseiten, Filmen hervor, zudem unübersehbar viele mehr oder weniger ernsthafte Referenzen auf den Jubilar (von Souvenir-Tassen und T‑Shirts bis hin zur Gummi-Ente mit seinem Konterfei) sowie eine umstrittene Statue in seiner Geburtsstadt Trier.Footnote 2 Die Aktivitäten erlebten ihren Höhepunkt zum Geburtstag im Mai des Jahres, um danach rasch abzuflauen. Zurück blieben jede Menge Bücher.

Die spezifische Dynamik des Jubiläums ergab sich aus seinem Doppelcharakter: Schon vor dem Geburtstag wurde 2017 das 150-jährige Erscheinen des ersten „Kapital“-Bandes publizistisch gewürdigt. Bereits dieses Ereignis warf eine Frage auf, die auch die öffentlichen Diskussionen im Folgejahr durchzog: Hatte Marx mit seiner Kritik des Kapitalismus doch recht? Die Antworten reichten von „Keep Calm and Read Marx“ bis zur Warnung vor einem falschen Propheten.Footnote 3

Dieses Interesse an Marx kam nicht über Nacht. Unabhängig von allen politischen Konjunkturen hatte die akademische Auseinandersetzung mit seinem Werk ohnehin nie völlig ausgesetzt.Footnote 4 Das Bewusstsein, in einer zunehmend globalisierten Welt zu leben, hielt das Interesse an einem Denker wach, dessen Werk der Analyse eines weltumspannenden kapitalistischen Systems gewidmet war. Auch seine tagespolitische Auferstehung hatte bereits früher eingesetzt. Brachte schon die bundesdeutsche ‚Prekariatsdiskussion‘ 2005 Marx auf die Titelseite des „Spiegel“Footnote 5, holte ihn spätestens die Finanzkrise von 2007/08 vollends in die politische Aktualität zurück. Marx’ Denken bekräftigte in diesem Zusammenhang die Skepsis gegenüber einem schwankenden Finanzmarktkapitalismus und passt damit in die Zeit eines „Rise of Millenial Socialism“Footnote 6. Doch auch jenseits eines sozialistischen Aktivismus zählte Marx zu den ökonomischen Klassikern, deren Wiederlektüre angesichts einer wahrgenommenen Krise der Volkswirtschaftslehre empfohlen wurde.Footnote 7

Eine Aktualisierung des kapitalismuskritischen Denkers lag also im Vorfeld des 200. Geburtstags in der Luft. Doch geprägt wurde das Jubiläumsjahr auch von einem zweiten Trend, den Jürgen Kocka als „eine gründliche Historisierung seines Lebens und Wirkens, die ihm vielleicht zum ersten Mal wirklich gerecht wird“, bezeichnete.Footnote 8 In der Geschichtswissenschaft hatte sich dieser Ansatz schon längere Zeit abgezeichnet. Wolfgang Schieder meinte bereits 1991, Marx habe „nach den umwälzenden Ereignissen in Osteuropa“ seine „politische Leitfunktion für die Gegenwart“ verloren: „Er fällt mit seiner Biographie dorthin zurück, wo er hingehört: in die Geschichte des 19. Jahrhunderts“.Footnote 9 Ähnlich konzipierte Jonathan Sperber zwei Jahrzehnte später seine große Marx-Biografie: „Das Bild von Marx als einem Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen, ist überholt und sollte einem neuen Verständnis weichen, das ihn als Gestalt einer verflossenen historischen Epoche sieht […]“.Footnote 10 In die breitere Öffentlichkeit drang das Historisierungs-Paradigma aber erst im Jubiläumsjahr. Dies lag neben der Fülle an Publikationen und einer Reihe von Fernsehproduktionen nicht zuletzt an einer großen Landesausstellung in mehreren Trierer Museen, mit denen die Geburtsstadt ihren berühmten Sohn erstmals umfassend würdigte. Während 2017 eine Ausstellung des Hamburger Museums der Arbeit zum 150-jährigen Erscheinen des Hauptwerks fragte, „was uns ‚Das Kapital‘ heute noch zu sagen hat“Footnote 11, strebte die Trierer Konzeption dezidiert eine „längst überfällige Historisierung“ an. Explizit setzte man sich damit von der marxistisch-leninistischen Dogmatisierung des Denkers ebenso ab wie von seiner Deutung als „vermeintlichem Heilsbringer, von dessen Werk Patentrezepte für die Herausforderungen unserer Gegenwart zu erwarten“ seien.Footnote 12

Diese Spannung zwischen Historisierung und Aktualisierung kennzeichnet die Publikationen des Jubiläumsjahrs und die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Marx.Footnote 13 Während die Historisierung die Voraussetzungen für ein Marx-Verständnis schaffen soll, das die „gewisse Verklärung“Footnote 14 des Denkers im Marxismus-Leninismus genauso hinter sich lässt wie kurzatmige Aktualisierungsbemühungen, schafft das Aktualisierungspotenzial doch überhaupt erst das anhaltende Interesse an einer Wiederentdeckung des ‚historischen Marx‘. Auch wenn beide Stränge der Marx-Betrachtung sich somit letztlich gegenseitig bedingen, liegt im vorliegenden Literaturbericht der Schwerpunkt auf dem historisierenden Zugang. Es soll gefragt werden, welches Bild der historischen Figur sich in den geschichtswissenschaftlichen Publikationen des Jubiläumsjahrs abzeichnet. Dazu werden insbesondere die Biografien und einige Spezialuntersuchungen ausgewertet. Die Aktualisierungsthematik, und damit auch die Frage, ‚was Marx uns heute noch zu sagen hat‘, bleibt im Hintergrund, obwohl zum Abschluss kurz die Frage angerissen wird, wie sich die Ergebnisse der Historisierung in gegenwartsbezogenen Marx-Lektüren niederschlagen. Die Auswahl konzentriert sich auf Titel von Autorinnen und – angesichts der Publikationslage vornehmlich – Autoren, die Marx selbst in den Mittelpunkt rücken; damit bleiben beispielsweise die separaten Veröffentlichungen zu weiteren Familienmitgliedern, die unter anderem Perspektiven auf den privaten Marx eröffnen, unberücksichtigt.Footnote 15

1 Ein anti-iconic turn

Jürgen Kockas oben zitiertes Lob der Historisierung war vor allem von neueren Marx-Biografien inspiriert, die im Jubiläumsjahr in unterschiedlichsten Formen erschienen. Während Wilfried Nippel einen konzisen Überblick auf knappstem RaumFootnote 16 vorlegte, startete Michael Heinrich ein auf mehrere Bände angelegtes GroßprojektFootnote 17. Zwischen diesen Extremen stehen die stattlichen Monografien von Gareth Stedman JonesFootnote 18 und Jürgen Neffe.Footnote 19 Alle sind – in unterschiedlichen Ausprägungen – dem Historisierungs-Ansatz verpflichtet. Dessen Angriffspunkt ist die Ikonisierung von Marx, die faktisch schon mit der Grabrede von Friedrich Engels einsetzte. Laut Jonathan Sperber betonte das damals geschaffene Marx-Bild den „positivistischen, am Vorbild der Naturwissenschaften orientierten“ (S. 561) Sozialwissenschaftler sowie den unbeugsamen „Revolutionär und Gegner der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung“ (S. 561).Footnote 20 Dabei seien im ersten Fall Marx’ Zweifel an der positivistischen Methodik sowie seine hegelianischen Denkformen vernachlässigt worden, während im zweiten verkannt worden sei, wie stark sein Revolutionsverständnis den Erfahrungen der Französischen Revolution verhaftet geblieben sei.Footnote 21

Ähnlich wie Sperber setzt sich auch Gareth Stedman Jones von einem „gängigen Bild“ (S. 11) ab.Footnote 22 Er führt dieses zurück auf die Bedürfnisse der Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhunderts, deren Anführern es zum Teil „aus Überzeugung, zum Teil aber auch in der Absicht, die Macht der Partei zu steigern“, opportun erschienen sei, „Marx’ Reputation als revolutionärer Begründer einer Geschichtsphilosophie zu schützen und zu befördern“ (S. 10). Gegenüber Parteimitgliedern und erst recht gegenüber politischen Gegnern sei damit jegliches „Eingeständnis von Marx’ Misserfolgen und Versäumnissen“ ausgeschlossen gewesen (S. 11). Dies betraf laut Stedman Jones insbesondere das mit Marx assoziierte Versprechen vom kommenden Zusammenbruch des Kapitalismus „aufgrund eines ökonomischen Systemversagens“ (S. 683). Groß sei die Enttäuschung darüber gewesen, im von Engels veröffentlichten dritten Band des „Kapital“ nicht die erhoffte „schmissige, pointierte Formulierung“ (ebd.) zu finden, um diese Idee zu bekräftigen; stattdessen erging sich Marx bei der Darstellung des tendenziellen Falls der Profitrate in der Diskussion von Gegenfaktoren. Nur durch einen krassen editorischen Eingriff von Engels, der Marx’ Begriff „Erschütterung“ des kapitalistischen Systems durch „Zusammenbrechen“ ersetzte, habe sich die mit Marx’ Namen verbundene Zusammenbruchstheorie aufrechterhalten lassen (S. 683 f.). Die Ikonisierung von Marx war also nicht etwa erst das Ergebnis entstellender Umdeutungen durch den Marxismus-Leninismus, sondern ein viel fundamentalerer, bereits unmittelbar nach seinem Tod einsetzender Prozess. Diese Beobachtung führt auch bei Stedman Jones zum programmatischen Anspruch, „Marx wieder in sein zeitgenössisches Umfeld des 19. Jahrhunderts“ (S. 13) zu stellen.

Die Neubewertung jedes ‚Klassikers‘ des politischen Denkens hat eine Vielzahl von Ursachen, so auch die Wendung zur Historisierung im Fall von Karl Marx. Allerdings lässt sich in deren Hintergrund ein Faktor ausmachen, durch den geradezu das Werk selbst zur Neubetrachtung seines Schöpfers drängt – die seit 1975 erscheinende Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Das Editionsprojekt hat seine eigene verwickelte Geschichte, die Harald BluhmFootnote 23 in einem Marx gewidmeten Themenheft der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ skizziert. Von ersten Anfängen in der frühen Sowjetunion führt sie über den „entstalinisierten Neuanlauf“ (S. 45) in den 1970er Jahren bis hin zur historisch-kritischen Editionspraxis unter der Ägide der 1990 eigens geschaffenen Internationalen Marx-Engels-Stiftung. In seinem umfassenden Anspruch gelegentlich als ‚megalomanisch‘ bespöttelt, bietet das – immer noch nicht abgeschlossene – wissenschaftliche Großprojekt weit mehr als nur eine weitere Veröffentlichung der Werke von Marx und Engels. Viele Texte von Marx erscheinen erstmals im unverfälschten Original, viele nicht publizierte Manuskripte werden überhaupt zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Edition ist damit selbst Teil des Historisierungsprojekts und trägt dazu bei, den Blick auf Marx zu verändern – Bluhm spricht von einem „Wandel der Autorvorstellung“ (S. 47). So legt das tiefere Wissen um den Entstehungsprozess des „Kapital“ nahe, dessen „Sonderrolle“ (S. 48) als Hauptwerk zu relativieren. Sicherlich handelte es sich dabei um Marx’ ökonomisches Hauptprojekt, aber „der Eindruck, dass Marx möglicherweise über größeres Potential auf anderen Gebieten als der Ökonomie verfügte, ist kaum von der Hand zu weisen“ (S. 48) – so tritt durch die Zusammenstellung der journalistischen Arbeiten, die bereits rein quantitativ das zu Lebzeiten veröffentliche wissenschaftliche Werk weit übertrafen, der aufmerksame Zeitdiagnostiker prägnanter hervor. Statt als heilsbringender Dogmatiker lässt sich Marx stärker als Teil der Wissen(schaft)skultur seiner Zeit verstehen und dem „Typus einer universal interessierten Gelehrtengestalt des 19. Jahrhunderts“ (S. 50 ff.) zuordnen, deren Wirken Neuansätze, Revisionen und Irrwege aufwies.

Der fragmentierte Charakter seines Schaffens ließe sich kaum plastischer demonstrieren als durch den passend zum Jubiläum erschienenen Band I/5 der MEGA. Er heißt schlicht „Deutsche Ideologie. Manuskripte und Drucke“Footnote 24 – doch dieser lakonische Titel hat es in sich: Frühere Editionen suchten hinter dem Material, an dem Marx und Engels zwischen 1845 und 1847 arbeiteten, ein geschlossenes, wenngleich unvollendet gebliebenes Werk. Die Neuausgabe räumt damit auf: Sie spricht von 18 „überlieferten Textzeugen“, denn ein „integrales oder auch nur fragmentarisches Werk ‚Die Deutsche Ideologie‘ aus der Feder von Marx und Engels“ (S. 725 f.) hat es nie gegeben. Stattdessen planten Marx und Engels Beiträge zu einer selbst herausgegebenen Zeitschrift. Als sich dieses Vorhaben zerschlug, erfuhren die Texte mehrfache Umarbeitungen für andere Publikationsprojekte, bis sich auch diese zerschlugen und das Konvolut der „nagenden Kritik der Mäuse“ (so Marx 1859) überlassen blieb. Die genauere Kenntnis des Arbeitsprozesses von Marx lässt Spannungen und Widersprüche im Werk offensichtlich und selbstverständlich erscheinen. Die jüngeren Biografien akzeptieren diesen Befund und bauen ihr Marx-Bild darauf auf.

Vor dem Hintergrund der Editionsergebnisse bedeutet es keine Herabwürdigung, wenn Gareth Stedman JonesFootnote 25 von „Marx’ Misserfolgen und Versäumnissen“ (S. 11) spricht. Der Autor schreibt eine Vollbiografie, die die historischen und persönlichen Kontexte breit ausleuchtet. Prägend für den Gang der Darstellung ist aber die intellektuelle Biografie. Ausführlich entfaltet Stedman Jones die ideengeschichtlichen Kontexte, in denen „Karl“ (wie der mit Marx offensichtlich gut bekannte Verfasser seinen Protagonisten nennt) stand. Besser als der deutsche („Die Biographie“) umreißt der originale englische Untertitel der Studie den Zugriff: „Greatness and Illusion“Footnote 26: Der historischen Persönlichkeit sucht Stedman Jones gerecht zu werden, indem er idealisierende Schichten abträgt und das Feld zwischen Größe und Illusion neu vermisst. Weder Idealisierung noch Demontage sind sein Ziel, sondern eine gelassene Betrachtung von Marx’ Denken und Handeln aus den Voraussetzungen seiner Zeit heraus. Dies führt durchaus zu deutlichen Urteilen. So würdigt Stedman Jones am „Manifest der Kommunistischen Partei“ den „brillanten Abriss der Entwicklung des modernen Kapitalismus“, bemängelt aber, dessen „Riege von Protagonisten und Prozessen“ (wie Staat, Klassenkampf oder Bourgeoisie) habe „deutlich abstrakter“ gewirkt und „weniger Erklärungskraft“ besessen als die Begrifflichkeiten, mit denen Marx zuvor operierte (S. 286). Seine politische Position um 1848/49 sei inkohärent gewesen, da er eine bürgerlich-demokratische und eine proletarisch-sozialistische Revolution gleichzeitig angestrebt habe (S. 329, 355). Der Autor zeigt sich somit unbeeindruckt von den dialektischen Wendungen in Marx’ politischem Denken. Wenn real existierende Arbeiter diesem die Gefolgschaft verweigerten, verkannten sie nicht die einzig wahre politische Lehre, sondern deckten deren nur in der Theorie aufgehobene Widersprüche in der Praxis auf.

Stedman Jones sieht zudem Spannungen zwischen dem politischen Marx und dem empirischen Sozialwissenschaftler. Nicht immer folgte nach seiner Darstellung der erste dem zweiten. Gelegentlich habe der Wille zur „apokalyptischen Schlussfolgerung“ sich von der empirischen Basis gelöst. So gebe es „keinen Beleg“ für die in den Brüsseler Jahren formulierte These, „die Entfremdung habe das Privateigentum zur Folge gehabt“ – doch ohne diese These habe Marx nicht zur Vorhersage gelangen können, letztlich werde sich „der Gegensatz zwischen Eigentum und Eigentumslosigkeit in die Antithese zwischen Kapital und Arbeit, Bourgeois und Proletarier verwandeln“ (S. 221). Durchs „Karls Alchemie“ (S. 373) habe sich die politische Gegenüberstellung von Bourgeois und Proletarier aus dem Kontext des französischen Juliregimes verwandelt „in die globale soziologische Bestimmung des Kapitalismus als solcher“ (ebd.) und damit die politisch zukunftsträchtige Vorstellung von im Geschichtsverlauf aktiven Klassen geschaffen (S. 370 ff.). Allerdings habe Marx schon in seinen Abhandlungen zur Lage in Frankreich von der Revolution bis zum Aufstieg Napoleons III. die politische Entwicklung nicht überzeugend aus sozialen Konstellationen erklären können. Auch die Kritik der politischen Ökonomie, der Marx sich seit der Jahrhundertmitte verstärkt zuwendete, sieht Stedman Jones differenziert. So strotzten die „Grundrisse“ von 1857/58 „vor ungelösten intellektuellen Herausforderungen“, müssten aber als „Ergebnis einer Zeit höchster Kreativität“ (S. 455) gelesen werden. Seine Werttheorie habe es Marx ermöglicht, „den ausbeuterischen Charakter des Kapitals darzustellen“ und in eine Krisentheorie münden zu lassen (S. 459). Allerdings sei er im ersten Band des „Kapital“ den schwierigsten Fragen bei der Wertproblematik ausgewichen, und seine „zögerlichen Bemühungen“ um eine Lösung in den Folgebänden „blieben erfolglos“ (S. 480). Auch „den inneren Zusammenhang zwischen der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise und der Verelendung der unmittelbaren Produzenten“ habe er nicht überzeugend aufzeigen können (S. 518).

Stedman Jones’ ausführliche Würdigung der ökonomischen Schriften präsentiert insgesamt einen Marx, der die unlösbaren Aporien in seinem theoretischen Denken zumindest erahnte und die Fertigstellung des „Kapital“ womöglich immer weiter hinausschob, weil er ab den 1860er Jahren zu einer grundlegenden Revision seines Denkens ansetzte. Interpreten des 20. Jahrhunderts hätten verkannt, dass Marx zunehmend davon ausging, „dass der Prozess des Übergangs von der kapitalistischen Produktionsweise zu einer Gesellschaft assoziierter Produzenten schon längst begonnen hatte“ (S. 563). Die Auseinandersetzung mit globalen Zusammenhängen, wie zum Beispiel der Entwicklung der USA im Gefolge des Bürgerkriegs, habe Marx ins Grübeln gestürzt, ob England wirklich – wie bisher von ihm angenommen – als Vorbild einer allgemeinen Entwicklung dienen könne. Insbesondere die Beschäftigung mit der russischen Dorfkommune habe andere Wege in den Kommunismus möglich erscheinen lassen (S. 696–707). Durch die Tätigkeit in der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) habe Marx ab Mitte der 1860er Jahre zu einer „neuen sozialdemokratischen Sprache“ (S. 562) gefunden, die eine radikal veränderte Vorstellung vom Kampf zwischen Arbeitern und Kapitalisten zum Ausdruck brachte: „Das Bild war nicht das der gewaltsamen Machteroberung, das man mit dem Kommunismus des 20. Jahrhunderts verbindet, sondern eines sozialdemokratischen, durch ‚Druck von außen‘ vorangetriebenen Prozesses“ (S. 564).

Die ungnädige Kritik an Marx’ Schaffen sowie das Bild eines ‚sozialdemokratischen‘ späten Marx haben Stedman Jones den Vorwurf eingebracht, seine Form der Historisierung strebe danach, „to politically neutralize“ Marx.Footnote 27 Doch bei allen Hinweisen auf Defizite bleibt Marx hier genügend „greatness“, um weiterhin als inspirierender Denker plausibel zu sein. Allerdings erscheint Marx in Stedman Jones’ Historisierungsprojekt weniger als titanenhafte Ausnahmeerscheinung, sondern wird erkennbar als Teil der zahllosen denkerischen Versuche im 19. Jahrhundert, die Herausforderungen durch den Wandel hin zur modernen Welt intellektuell zu erfassen und politisch zu bewältigen. Der auf manche Kritiker ikonoklastisch anmutende Duktus von Stedman Jones ergibt sich aus der Frontstellung gegen das ikonisierte Marx-Bild. Eine Rolle mag aber auch der intellektuelle Weg des Autors selbst spielen: Stedman Jones zählte zu den herausragenden englischen Sozialhistorikern, als er in den 1980er Jahren zu einem der ersten Verfechter des linguistic turn avancierte.Footnote 28 Eine Marx-Biografie aus seiner Feder ist daher unweigerlich auch ein später Beitrag zur konfliktreichen Selbstrevision der britischen ‚marxistischen‘ Geschichtswissenschaft.Footnote 29 Mag man an einzelnen Punkten über seine Interpretationen des marxschen Œuvres streiten, so gelingt es ihm doch, ein Marx-Bild zu entwerfen, in dem politisches Handeln überzeugend mit Theoriefragen verknüpft erscheint. Dadurch wird der historische Marx aus eigenen Maßstäben heraus verständlich und kritisierbar – damit aber als Herausforderung ernstgenommen.

Eine Möglichkeit, wie sich historischer Marx und aktuelles Interesse unmittelbar zusammenbringen lassen, bietet Jürgen Neffe.Footnote 30 Der Autor – renommierter Wissenschaftsjournalist und durch Lebensbeschreibungen Charles Darwins und Albert Einsteins ausgewiesener Biograf – nähert sich dem historischen Marx unbefangen von gegenwärtigen Problemlagen und Fragen aus. Sein Buch ist voll von Stichworten zu aktuellen Entwicklungen, von der finanzmarktkritischen Occupy-Bewegung über die Digitalisierung der Welt bis hin zum Aufstieg Chinas. Dennoch bleibt Marx bei Neffe stets ein historischer Denker, der aus seiner Zeit heraus gelesen werden muss. Relevant bleibe er aber, weil sich am „Tatbestand der Ausbeutung und Auspressung des maximal Möglichen […] seit Marx’ Zeiten […] wenig geändert“ habe (S. 460). Auch Neffe bedauert die „dogmatische Erstarrung“ (S. 16), die so gar nicht mit Marx’ Denken in Einklang stehe: „Nichts Statisches zeichnet seine eigentliche Leistung aus, nichts, was sich in Stein meißeln oder in Formen gießen ließe, sondern die Einsicht in eine Art von Bewegung, die über die Geschicke der Menschen bestimmt“ (S. 21). Der Autor sieht in der Unabgeschlossenheit von Marx’ Werk kein Versäumnis oder Scheitern, vielmehr geradezu dessen Kennzeichen. Neffe assoziiert es mit dem „Gesamtkunstwerk in der Tradition der Romantik“, bei der das „Fragmentarische, erst allmählich zu Entschlüsselnde, […] zum Wesenskern der Unvollendeten“ (S. 566) gehörte. „Keine Schande“ sieht er in der von Marx-Kritikern häufig gescholtenen Arbeitswertlehre, sei die Beziehung zwischen Wert und Preis doch bis heute nicht befriedigend geklärt – und auch Einsteins Bedeutung tue es schließlich keinen Abbruch, dass er die gesuchte Weltformel nie fand (S. 448). „Der Unvollendete in Vollendung“ (S. 458) zeigt sich für Neffe gerade im unabgeschlossenen „Kapital“, an dem Marx bis zum Lebensende gearbeitet (S. 583), das aber „einen Prozess […] und kein fertiges Produkt“ dargestellt habe (ebd).

Dieser Hymnus auf den titelgebenden „Unvollendeten“ findet seine Entsprechung auf der biografischen Ebene. Die vielen Facetten von Marx’ Persönlichkeit und Wirken – Ökonom, Politiker, Kommunist, Journalist, treuer Freund, „Stinkstiefel und Spaltpilz“ (S. 263) – können ihm jeweils einzeln genommen nicht gerecht werden; es gebe „nicht den einen Marx, sondern eher einen multiplen, menschlich wie fachlich“ (S. 263 f.). Allerdings zerfließt Neffes Marx nicht in Einzelaspekte, sondern erscheint gekennzeichnet von einem „Lebensthema“ (S. 89): der Freiheit. Gerade gegen das diktaturlegitimierende Marx-Bild des ‚real existierenden Sozialismus‘ betont Neffe unter Bezug auf das Manifest der Kommunistischen Partei wiederholt den humanistischen Gedanken, dass die Freiheit des Einzelnen die Vorbedingung für die Freiheit aller sei (S. 389, 220 und 231). Auf diese Weise bleibt auch der unvollendete Marx ein inspirierender Gesprächspartner für die Gegenwart, so etwa, wenn es um die Verteidigung der Pressefreiheit (S. 115) oder das Aufdecken eines modernen ‚Bonapartismus‘ bei Politikern wie Wladimir Putin oder Donald Trump geht (S. 318 f.).Footnote 31 Ähnlich sei die von Marx im „Maschinenfragment“ mitgedachte Zukunft der vollautomatischen Produktion von Gütern und Dienstleistungen durch die digitale Revolution in der Gegenwart zum Vorschein gekommen (S. 468 f.).Footnote 32 Neffes Biografie demonstriert somit, wie ein historisches Leben immer wieder auf seine gegenwärtige Relevanz abgeklopft werden kann. Zudem entspricht das Bild des stetig Schaffenden, der aber gerade als Unvollendeter seine wahre Gestalt zeigte, in gewisser Weise kongenial dem porträtierten Meister des dialektischen Denkens.

Obwohl die vorgestellten Biografien ausdrücklich ein neues Marx-Bild anstreben, finden sich erstaunlich wenige methodologische Erwägungen, wie das Leben eines fragmentierten Denkers geschrieben werden kann. Ist die hergebrachte Form der Biografie dem überhaupt noch angemessen? Einzig der Politikwissenschaftler Michael HeinrichFootnote 33 widmet dieser Frage ein eigenes Kapitel. Der Autor, ein durch zahlreiche Publikationen ausgewiesener Marx-KennerFootnote 34, entwickelt aus einer Zusammenschau der Formen traditioneller Biografik und deren Kritik Kriterien, die es erlauben sollen, der historischen Person nicht bereits durch die Form der Darstellung eine Kohärenz im Denken und Handeln zu unterstellen, die zwangsläufig nur ein Konstrukt sein kann. Der Marx-Biograf ringt hier mit einer Herausforderung, die sich seit der poststrukturalistischen Wende eigentlich jedem Verfasser biografischer Werke stellt (S. 367 f.); auf seinen Protagonisten angewendet, bringt dies die Offenheit für die Erkenntnis mit sich, „die Person Marx“ könne sich „als ein beständiger und unabgeschlossener Konstitutionsprozess“ (S. 376) erweisen. Marx’ Denken und Handeln werden als „Interventionen in bestimmte Konflikte und Problemlagen“ (S. 377) verstanden, deren Sinn sich nicht (allein) aus seinen Intentionen, sondern aus Handlungs- und Kommunikationsprozessen ergab (S. 376). Dies führt Heinrich zu einer Skepsis gegenüber chronologisch orientierten Entwicklungsnarrativen. Stattdessen müsse die Perspektivität der Darstellung offengelegt werden, nicht zuletzt durch ein transparentes Abwägen der Quellen.

Heinrichs Versuch, diesen Anspruch einzulösen, mündet in die Gestaltung eines Monumentalwerks. Die bislang vorliegende erste Lieferung einer auf drei Bände angekündigten Biografie umfasst nur Marx’ frühe Lebensjahre bis zum Abschluss der Dissertation 1841. Die Darstellung der Lebensstationen des jungen Marx ist eingebettet in umfangreiche Erschließungen des biografischen Kontexts, sodass beispielsweise gesellschaftliche Entwicklungen des Vormärz in Trier oder intellektuelle Strömungen an den von Marx besuchten Universitäten Bonn und Berlin detailliert ausgeleuchtet werden. Eingehend diskutiert der Autor plausible Interpretationen der zu Marx’ Jugendjahren oft nur spärlich fließenden Quellen, statt diese vorschnell als Belege in ein vorgegebenes Narrativ einzupassen. Wiederholt setzt sich Heinrich auch mit den Ergebnissen anderer Biografien auseinander, die er häufig als spekulativ und voreilig beurteilt. Damit unterscheidet er sich von Autoren, die das Problem der schier unüberschaubaren Fülle an Literatur zu Marx dadurch lösen, dass sie deren Wert pauschal anerkennen, deren Befunde aber im Detail kaum diskutieren; mancher Anmerkungsapparat erweckt den Eindruck, als habe der Verfasser ‚allein gegen die MEGA‘ oder oft eher noch gegen die älteren Marx-Engels-Werke (MEW) angekämpft.

Durch sein Vorgehen kann Heinrich an vielen Stellen Fakten klären oder neue Akzente setzen. Das unklare Taufdatum des Vaters Heinrich verortet der Biograf Heinrich mit dem Jahr 1819 klar nach der Geburt des Sohnes Karl (S. 74); das verbreitete Bild der ungebildeten Mutter wird zurechtgerückt (S. 67); Marx’ Wendung von der Dichtung zur Philosophie erscheint verursacht durch eine neue, von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kritik an der Romantik ausgelöste „Auffassung von Wirklichkeit“ (S. 214). Allerdings gelangt auch Heinrich oft nicht über plausible Vermutungen hinaus. Das eigentliche Potenzial seines Ansatzes dürfte sich erst in den weiteren Bänden erweisen, die stärker die der Ikonisierung unterworfenen Phasen in Marx’ Leben behandeln. Gespannt darf darauf gewartet werden, wie der Autor seine transparente Diskussion der Quellen in Untersuchungszusammenhängen weiterführt, in denen die Überlieferung reichhaltiger sprudelt. Noch scheint die Gefahr nicht gebannt, dass am Ende des Großprojekts ein gewaltiger Torso stehen wird statt eines Beispiels dafür, wie sich ein „beständiger und unabgeschlossener Konstitutionsprozess“ (S. 376) biografisch darstellen lässt.

Ebenfalls als Teil eines umfassenderen Forschungsprojektes präsentiert Marcello Musto seine biografische Studie. Schon deren programmatischer Titel „Another Marx“Footnote 35 zeigt, dass es auch dem associate professor an der kanadischen York University darum geht, Marx von den Verzerrungen durch seine „numerous critics or self-styled followers“, insbesondere des Parteimarxismus, zu befreien (S. 3). Dies soll es ermöglichen, das Marx umgebende Paradox aufzulösen: „The most painstaking thinker, never satisfied with the results he had produced, became the source of a dyed-in-the-wool doctrinarism“ (S. 4). Die Studie beruht auf bereits anderweitig veröffentlichten Texten, die um eigens geschriebene Kapitel ergänzt werden. Allerdings runden diese den Band nicht zu einer klassischen Biografie ab. Stattdessen setzt Musto drei Schwerpunkte: die Zeit der Frühschriften, das Projekt einer Kritik der politischen Ökonomie sowie Marx’ Tätigkeit in der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) von 1864 bis 1872. Vor allem in den ersten beiden Teilen verarbeitet der Autor die Ergebnisse der MEGA, indem er besonderes Augenmerk auf Marx’ Arbeitsprozess legt (auch wenn seine englischsprachige Publikation häufig nicht nach der MEGA zitiert). So wird im ersten Teil insbesondere die Problematik des Werkbegriffes in doppelter Hinsicht deutlich: Einerseits weist Musto darauf hin, dass die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ von 1844 durch die editorische Tradition als ein integrales Werk erscheinen, während sie letztlich nur Auskopplungen aus einem weitaus größeren Manuskriptkonvolut seien; andererseits erfordere Marx’ Vorgehensweise, durch die Kommentierung anderer Autoren zur Formulierung eigener Positionen vorzustoßen, eine Anerkennung von Exzerpten und Notizheften als Teil des Œuvres (S. 41–45). Der zweite Teil arbeitet die enge Verschränkung von wissenschaftlicher Arbeit und politischem Ziel im jahrzehntelangen Ringen um eine Kritik der politischen Ökonomie heraus. Diese rückte seit den 1850er Jahren ins Zentrum seiner Arbeit, nachdem Marx zu der Überzeugung gelangt war, dass eine Revolution nicht ohne weltweite Wirtschaftskrise heranreifen könne (S. 64). Musto verbindet die Schilderung der ständigen Belastungen durch finanzielle Not und gesundheitliche Probleme mit der Darstellung des gedanklichen Entwicklungsprozesses von Marx. Dieser musste die doppelte Enttäuschung verarbeiten, dass sowohl die große revolutionsauslösende Wirtschaftskrise, als auch die Fertigstellung des Werks auf sich warten ließen. Erneut beschreibt Musto den vielgestaltigen Charakter der Studien, die sich in zahlreichen Notizheften, Artikeln, Briefen und Anläufen zu Publikationen niederschlugen. Besonders stellt er neben dem „Kapital“ die 1857/58 entstandenen „Grundrisse“ heraus. In diesem Manuskript legte Marx gegen die klassischen Ökonomen dar, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht naturgegeben, sondern ein Ergebnis historischer Entwicklungen sei; dadurch wurde sie politisch veränderbar (S. 94 f.). In dieser Betonung des historischen Charakters der Entwicklung sieht Musto zudem Marx’ Lösung der methodologischen Frage nach der Vermittlung zwischen empirischer Forschung und Herleitung von Analysekategorien zur Bewältigung des empirischen Befundes (S. 103).

Marx’ Denken erscheint in Mustos Darstellung frei von Dogmatismus und unvereinbar mit den deterministischen Auslegungen des späteren Marxismus-Leninismus (S. 105 f.). Das bedeutet für den Autor aber nicht, dass Marx den Sturz des kapitalistischen Systems als politische Zielperspektive jemals aufgegeben hätte. Entsprechend interpretiert er Marx’ Erfahrungen in der IAA. Die Tätigkeit in dieser internationalen Arbeitervereinigung habe Marx dazu angeregt, „to develop and sometimes revise his ideas, to put old certainties up for discussion and ask himself new questions, and in particular to sharpen his critique of capitalism by drawing the broad outlines of a communist society“ (S. 177). Nach Musto weckte die Pariser Kommune (1871) bei Marx die Hoffnung auf eine „new phase of class struggle“, die nach „the realization of a clearly anticapitalist programme“ verlange (S. 212); dabei folgt seine Interpretation der von Marx selbst gegebenen Kommune-Deutung in der Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“. Auch die Beschäftigung des späten Marx mit Russland habe bei ihm zwar zu „a theoretical openness to other possible roads to socialism“ (S. 244) geführt, aber „no glimpse“ eines „dramatic break with his former convictions“ (ebd.) gezeigt.

Insgesamt zeichnet Musto das Bild eines akribischen, unter ungünstigen Umständen arbeitenden, politisch leidenschaftlichen Denkers, der intellektuellen Schematismus verachtete und stattdessen „the specificity of historical conditions, and the centrality of human intervention in the shaping of reality and the achievement of socialism“ hervorhob (S. 248). Mustos ‚anderer Marx‘ unterscheidet sich von früheren Deutungen vor allem in der Beschreibung des Arbeitsprozesses, der die denkerische Offenheit unterstreicht; wenn man nicht gerade das marxistisch-leninistische Bild eines Revolutionärs zum Vergleichsmaßstab nimmt, bewahrt Musto aber ansonsten das gängige Bild des konsequenten Revolutionärs, der Wissenschaft und Politik in seinem Denken und Handeln verknüpfte. Als Biografie bleibt die Studie lückenhaft, da sie deutliche Schwerpunkte auf ausgewählte Lebensphasen setzt und die späten Jahre weitgehend ausblendet. Im Rahmen seines Projekts zur Neubewertung von Marx hat Musto aber weitere Publikationen in Aussicht gestellt.Footnote 36

Eine interessante Perspektive auf die Biografie bietet auch Wilfried NippelFootnote 37, wenn er sich in seinem knappen Bändchen aus der Reihe „Beck Wissen“ darauf konzentriert, „wie Marx von seinen Zeitgenossen wahrgenommen werden konnte“ (S. 6). Da Marx zu Lebzeiten nur wenige wissenschaftliche Werke veröffentlichte, rückt dieser Ansatz stärker den kämpferischen Journalisten und Politiker in den Mittelpunkt, zudem auch den Charakter des wissenschaftlichen Werks „als Waffe“ (S. 116) für die politischen Bestrebungen der Arbeiterbewegung. Nippel schließt sein Bändchen mit einem konzisen Kapitel zur Entstehung des „Urmarxismus“ nach Marx’ Tod ab, doch eine umfassendere Perspektive setzt selbstverständlich auch die Berücksichtigung der zu Lebzeiten unveröffentlichten Arbeiten in ihren Entstehungskontexten voraus. Für diesen Aspekt bedarf Nippels pointierter Ansatz daher der Ergänzung.Footnote 38

2 Biografische Erweiterungen

2.1 … und Engels

In einem Büchlein zum Jubiläumsjahr, in dem der Linken-Politiker Gregor Gysi seinen persönlichen Zugang zu Marx zum Ausgangspunkt eines Plädoyers für einen demokratischen Sozialismus macht, berichtet der Autor von seiner Lektüre der sozialistischen Klassiker in Studientagen. Seinerzeit habe er in den Schriften von Friedrich Engels „Wärme“ und „etwas Einnehmendes“ entdeckt, zudem waren sie „auch leichter zu lesen“ als die seines Freundes Karl Marx.Footnote 39 So wie Gysi ging es vielen, die sich Marx’ Denken erschließen wollten – die Schriften von Engels lieferten eine verständliche Systematisierung der komplexen marxschen Prosa. Dies war in der staatsideologischen Traditionslinie des Marxismus kein Problem: Marx und Engels galten als eine unzertrennliche Einheit, deren Namen allein schon durch die großen Editionsprojekte der Marx-Engels-Werke (MEW) und der MEGA stets in einem Atemzug genannt wurden. Kritiker der Sowjetorthodoxie warfen Engels auf der Suche nach einem ‚wahren‘ oder ‚humanistischen‘ Marx dagegen vor, das Denken seines Freundes nach dessen Tod verfälscht zu haben. Die deterministische Erstarrung des Marxismus in ‚Diamat‘ und ‚Histomat‘ erschien nicht als Erbe des Namensgebers, sondern als Ergebnis der Interpretationen und Editionen aus der Hand von Engels; dieser avancierte zum eigentlichen Schöpfer des ‚Marxismus‘, wobei er – aus intellektueller Zweitklassigkeit oder in politischer Absicht – das Denken des Freundes verflacht und verzerrt habe. Engels mutierte vom zweiten Helden zum ersten Schurken des Stücks.

Wie der MEGA-Mitarbeiter Jürgen Herres aufzeigtFootnote 40, ist die Lage komplizierter, als dies die Extrempositionen der Rezeptionsgeschichte andeuten. Wesentliche Schriften, in denen Engels Marx die Entwicklung des Sozialismus zur Wissenschaft zuschrieb, entstanden bereits zu Marx’ Lebzeiten, teilweise mit dessen Unterstützung (S. 246 ff.). Die Mitarbeit von Marx an Engels’ „Anti-Dühring“, einer der einflussreichsten Arbeiten in der frühen Verbreitungsgeschichte des Marxismus, wertet Herres „als Zustimmung zu dieser Darstellung der gemeinsamen Theorien und deren Verdichtung zu einer Synthese“ (S. 254). Gerade die oft gescholtene Systematisierung der marxschen Gedanken durch Engels lässt sich damit nicht pauschal als Verfälschung ursprünglicher Intentionen deuten – beide scheinen sich darin einig gewesen zu sein, „die Definitions- und Deutungshoheit über ihren wissenschaftlichen Sozialismus“ in den eigenen Händen behalten zu wollen (S. 255). Engels konnte seine Propagierung des ‚Marxismus‘ somit als Vermächtnisleistung gegenüber dem verstorbenen Freund verstehen.

Zusätzlich unübersichtlich wird Engels’ Rolle durch den Umstand, dass auch er selbst zum ‚Opfer‘ späterer Herausgeber wurde. Seine fragmentarischen Überlegungen, in Natur und Gesellschaft dieselben dialektischen Bewegungsgesetze nachzuweisen, wurden erst im 20. Jahrhundert als „Dialektik der Natur“ veröffentlicht und zu einem philosophischen Grundlagenwerk des Marxismus-Leninismus erhoben, obwohl Engels selbst die Vorläufigkeit seiner Gedanken angesichts des Fortschreitens der Naturwissenschaften betont hatte (S. 245).Footnote 41

Herres begegnet dem komplexen Verhältnis von Marx und Engels durch ein sachliches, anschaulich aus den Quellen geschriebenes Doppelporträt, das alle Aspekte einer bemerkenswerten Freundschaft auslotet. Zum einen handelte es sich um eine über beide Personen hinausweisende persönliche Verbindung: Engels unterstützte die Familie Marx nicht nur über dessen Tod hinaus finanziell, sondern er trug zur Rettung der Ehe des Freundes bei, indem er die Vaterschaft für dessen „höchstwahrscheinlich“ (S. 137) mit der Haushälterin gezeugten Sohn übernahm. Vor allem aber beschreibt Herres die intellektuelle Zusammenarbeit zweier Freunde, die gemeinsam „ein großes Projekt“ verfolgten – die „Kritik der modernen Gesellschaft mit der Perspektive einer kommunistischen Zukunftsgesellschaft“ (S. 271). Dabei sah sich Engels stets als das „Talent neben dem Genie“ (S. 18). Teilweise funktionierte das Gespann durch Komplementarität: So profitierte der Stubengelehrte Marx bei der Beschreibung der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft von den Erfahrungen des Industriellensohnes Engels, der über 20 Jahre lang in Manchester im Familienunternehmen arbeitete. Auch die politische Zusammenarbeit konnte unterschiedliche Schwerpunktsetzungen aufweisen, so wenn sich Engels in der Endphase der Revolution von 1848/49 aktiv in die militärischen Kämpfe stürzte, während Marx publizistisch wirkte. Trotz der Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen gab es somit keine „unbedingte Identität ihrer Auffassungen“ (S. 271), weder im politischen Temperament noch in allen Theoriefragen.

Die zwischen beiden Denkern durchaus bestehenden Unterschiede erklären Engels’ Problem nach dem Tod von Marx: In Selbstverständnis und Außenwahrnehmung war er die autorisierte Stimme des verstorbenen Freundes. Gleichzeitig waren dessen Manuskripte aber nur schwer in eine nachvollziehbare Form zu bringen. Auch beim Versuch, Werktreue zu wahren, blieb Engels oftmals nichts anderes übrig, als gestalterisch einzugreifen. Wie Wilfried NippelFootnote 42 bemerkt, blieben dabei „Geschichtsklitterungen“ und „Detailfehler“ nicht aus (S. 73). Vor allem aber arbeitete Engels nicht als Herausgeber einer wissenschaftlichen Edition – es handelte sich um ein hochpolitisches Unternehmen, galt es doch, die mit Marx’ Namen assoziierte Version des Sozialismus gegen konkurrierende Denkströmungen durchzusetzen und den Bedürfnissen der entstehenden Arbeiterbewegung nach einer theoretischen Grundlegung ihres Wirkens gerecht zu werden. Den Spagat zwischen Werktreue und Popularisierung suchte Engels unter anderem als „genialer Vorwortschreiber“ (S. 78) zu bewältigen, indem er Entstehungsbedingungen, Anpassungserfordernisse und auch editorische Entscheidungen offenlegte. Bei aller Diskussionsbedürftigkeit der Engels-Editionen plädiert daher Michael R. KrätkeFootnote 43 für ein Ende der „maßlos überzogenen Engels-Schelte“ (S. 225). Insbesondere für das Verständnis der editorischen Entscheidungen bei der Herausgabe der Bände 2 und 3 des „Kapital“ mahnt Krätke eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Marx-Manuskripten an, die der Forschung erst durch die Veröffentlichung in Abteilung II der MEGA zugänglich geworden sind; Engels dagegen hatten sie für seine Arbeit vorgelegen. Mancher Verfälschungsvorwurf wird sich womöglich in Diskussionen über mehr oder weniger plausible Lösungen editorischer Probleme durch Engels auflösen. Der 200. Geburtstag von Engels im Jahr 2020 bot den Anlass, den Diskussionen um seine Bedeutung für Marx und den Marxismus neue Impulse zu verleihen, ihn aber auch als eigenständigen Autor neu zu würdigen.Footnote 44

2.2 Genius Loci

Einen pfiffigen Beitrag zum Jubiläumsjahr bieten Publikationen, die Marx von einzelnen Orten aus in den Blick nehmen, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Herangehensweisen. Jürgen Bönig nutzt Marx’ fünf Aufenthalte in Hamburg, um dessen persönliche Geschichte mit lesenswerten Einblicken in die Sozial- und Industriegeschichte der Stadt zu verbinden.Footnote 45 Historisch bedeutsam war insbesondere der dritte Besuch 1867, bei dem Marx seinem Verleger Otto Meissner im Zingg’s Hotel das Manuskript zum ersten Band des „Kapital“ überreichte, bevor beide zu einer Kneipentour aufbrachen. Bönig schildert, bis hin zu den Handgriffen der Drucker, den Produktionsprozess des Buches, dessen Korrekturlesung Marx schließlich ohne Rückgriff auf das Manuskript durchführen musste, da dieses in der Druckerei in Leipzig verblieben war. Im Unterschied zu den mehrfachen Besuchen in Hamburg blieb ein zehntägiger Aufenthalt in Wien auf dem Höhepunkt der Revolution im Sommer 1848 eine Episode in Marx’ Leben. Wie Günther HallerFootnote 46 darlegt, erreichte Marx weder vor Ort noch durch journalistische Arbeiten für Wiener Zeitungen einen maßgeblichen Einfluss auf die österreichische Arbeiterbewegung. Dies änderte sich erst 1888 mit der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei – diese knüpfte aber weniger an den Revolutionär als an „Marx’sche Erziehungskonzeptionen“ (S. 165) aus der Zeit der IAA an. Hallers populärwissenschaftliche Darstellung bietet damit ein Beispiel für die nachhaltige Wirkung des ‚sozialdemokratischen‘ Marx aus der Zeit der Internationale.

Der Ort, an den Marx’ einzige Reise außerhalb Europas führte, bildet den Aufhänger für Uwe Wittstocks Buch: Algier, wo sich Marx 1882 wenige Monate vor seinem Tod zum Auskurieren einer hartnäckigen Rippenfellentzündung aufhieltFootnote 47. Wohl einer spontanen Eingebung folgend, ließ er sich hier fotografieren, bevor ein Barbier „den Prophetenbart und die Kopfperücke“ (Marx’ eigene Worte) entfernte (S. 264). Wittstock gestaltet die Tage in Algier literarisch in personaler Perspektive als einfühlsame Erzählung, die den eigentlich schon sterbenskranken Marx gebeutelt von Kälte, Krankheit und Sorge um die Familie zeigt. Die Szenen in Algier wechseln mit Kapiteln zu maßgeblichen Stationen der Biografie, in denen der Autor die persönlichen Lebensumstände quellennah schildert, aber auch einen prägnanten Abriss von Marx’ Denken gibt. Dabei weist er auf das Selbstverständnis eines Revolutionärs hin, der immer wieder zu taktischen Anpassungen an die Gegebenheiten bereit war. Das mache es häufig schwer, einzelne Aussagen von Marx der Arbeit am „Grundsatzprogramm“ (S. 120) oder strategischen Erwägungen zuzuordnen. Mit Vorsicht folgt Wittstock den Überlegungen von Stedman Jones, wenn er die „recht gut begründbare“ Spekulation anstellt, Marx’ Besuch beim Barbier könne das „heimliche, vielleicht sogar vor sich selbst verheimlichte Eingeständnis“ gewesen sein, „sich nicht mehr als Propheten zu betrachten, da die eigenen Zweifel an seinen politischen Prognosen zu groß geworden waren“ (S. 266 f.). Die Inszenierung von Bart und Haupthaar deutet zugleich an, dass sich Marx durchaus ihres ikonischen Wiedererkennungswerts bewusst war.

Wiederholt verweist Wittstock auf fehlende Empirie und Widersprüche in Marx’ zentralen politischen Positionen (S. 128–131, 149). Diesen Aspekt vertieft Jan GerberFootnote 48, der gezielt der Frage nachgeht, „was in den Marx’schen Topoi nicht ‚stimmt‘“ (S. 14). Dieses Bestreben führt ihn zur Konzentration auf die Pariser Jahre 1843 bis 1845, in denen Marx seine Wendung zum Kommunismus vollzog und diesen Begriff mit einem bislang unüblichen „Revolutionspathos“ (S. 74) auflud. Dieses sei aus persönlichen Erfahrungen und Marx’ Lektüren über die Französische Revolution erklärbar, aber theoretisch von ihm nur unzureichend durch die Verknüpfung von hegelschem Geschichtsbegriff und der Vorstellung von der historischen Rolle des Proletariats als universalem Träger der menschlichen Emanzipation begründet worden – der Begriff des Proletariats war letztlich „kein empirischer, sondern ein geschichtsphilosophischer“ (S. 186): Marx „synthetisierte und universalisierte den an der französischen Erfahrung entwickelten Begriff der Revolution und die an der Lage Englands gebildete Kategorie des Proletariats mithilfe der Vorstellung eines zielgerichteten historischen Prozesses, die er aus seiner Berliner Studienzeit mitbrachte“ (S. 176). Die These vom fehlenden Realitätsbezug der marxschen Begründung des Kommunismus formuliert Gerber besonders pointiert, wenn er darauf hinweist, dass sich noch nicht einmal der spätere Aufstieg des Marxismus „mit seinen eigenen Kategorien erklären“ lasse (S. 190). Zudem bezweifelt er, dass die Begriffe Klasse und Proletariat zur Analyse heutiger gesellschaftlicher Probleme beitragen können (S. 202). Anregungen, welche Rolle das Denken von Marx in aktuellen Diskussionszusammenhängen spielen könnte, finden sich in Gerbers Studie dementsprechend kaum. Als „Kommentar zum gegenwärtigen Marx-Boom“ (S. 16) dient seine Form der Historisierung eher der Entrümpelung des marxschen Begriffsarsenals als der Eröffnung von Aktualisierungswegen.

3 Über die Biografie hinaus

3.1 Historische Kontexte

„Je ne suis pas marxiste“ – es überrascht nicht, dass diese angebliche ÄußerungFootnote 49 des späten Marx in kaum einem der historisierenden Werke fehlt, scheint doch der Protagonist selbst damit frühzeitig auf die Differenz von Marx und Marxismus aufmerksam gemacht zu haben. Das Historisierungsparadigma sucht die historische Person vom überbordenden Ballast zu befreien, unter dem sie durch ihren späteren Aufstieg zum Welterklärungspropheten und zum „(ungefragten) spiritus rector eines der zerstörerischsten Sozialexperimente in der Menschheitsgeschichte [Hervorh. im Orig.]“Footnote 50 erdrückt zu werden drohte; es ist gleichsam bestrebt, das Marx-Bild wieder in die Ausgangseinstellung vor der Entstehung des Marxismus zurückzusetzen. Ganz abgesehen vom sehr speziellen Entstehungs- und Überlieferungszusammenhang ändert aber auch das Zitat nichts daran, dass Marx ohne den Marxismus nicht zu einer Zentralfigur des 20. Jahrhunderts geworden wäre – und damit einflussreicher, als er in seinem eigenen Jahrhundert je war. Dies ergibt eine zweite Ebene der Historisierung, die sich mit der Frage befasst, warum gerade diese Person des 19. Jahrhunderts eine Zentralfigur des 20. wurde. Damit ist man doch wieder bei der Geschichte des Marxismus angelangt. Indem diese aber als eigenständiges Phänomen statt als zwangsläufige Fortführung des marxschen Wirkens untersucht wird, ergeben sich neue Perspektiven auch auf den historischen Marx.

Im Umfeld des Marx-Jubiläums verzeichnete dieser Strang der Forschung nur wenige, aber markante Zugänge. Während Gregory Claeys das Phänomen der „many Marxes“ durch eine Verbindung von Biografie und Wirkungsgeschichte angehtFootnote 51, ist das „Marx’sche Momentum“ (S. 225) in Gerd Koenens Geschichte des Kommunismus in einen zeitlich von der Antike bis zur Gegenwart ausholenden Rahmen eingeordnet.Footnote 52 Dabei wird die scheinbar selbstverständliche Beziehung zwischen Marx und dem Marxismus aufgebrochen – die Vorstellung „eines fast anderthalb Jahrhunderte überdauernden ideologisch-politischen Kontinuums namens ‚Marxismus‘“ habe „schon etwas entschieden Esoterisches“ (S. 36). Den Aufstieg des Staatskommunismus im 20. Jahrhundert erklärt Koenen vor allem aus den spezifischen Voraussetzungen in den jeweiligen Gesellschaften (S. 42). Ins Zentrum der Studie rückt die Geschichte Russlands, spielten doch die Bolschewiki eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Kommunismus im 20. Jahrhundert. Sie bemächtigten sich überkommener Begriffe und Symbole, um durch Berufung auf einen „vermeintlich streng materialistischen, tatsächlich magischen Szientismus“ einen neuartigen, totalen Geltungsanspruch ihrer Partei zu begründen (S. 23 ff.). Dabei konnten sie an einen „Zug des Eschatologischen, Apokalyptischen und Totalisierenden“ anknüpfen, „den Marx’ Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie unstrittig hatten“ (S. 37).

Koenen diskutiert Marx vor dem vielgestaltigen Hintergrund älterer kommunistischer Traditionslinien, die teilweise aus millenaristischen, aber auch aufklärerischen Ursprüngen hervorgingen und deren Ziel die Verwirklichung des Ideals einer harmonischen, umfassenden Gemeinschaft war. Die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen ging dabei häufig einher mit einem „Furor der Reinigung“ (S. 114), also der Beseitigung all derer, die als Feinde der Gemeinschaft galten. Allerdings passt der hegelianisch geschulte Marx für Koenen nicht bruchlos in solche Denktraditionen, da das „Grundaxiom der dialektischen Geschichtsauffassung“ (S. 244) jede historische Entwicklung an das Widerspiel von Gegensätzen band – ein Gedanke, der mit einer ruhiggestellten Gesellschaftsentwicklung kaum vereinbar war und laut Koenen von den kommunistischen Regimen des 20. Jahrhunderts „radikal verraten“ wurde (ebd.). Auch Marx bestimmte den Kommunismus als nicht-entfremdete, menschengemäßere Lebens- und Produktionsweise (S. 289). Allerdings erscheine die kommunistische Gesellschaft durch seinen Anspruch auf die Entfaltung des Einzelnen als „eine strikte Leistungsgesellschaft, wie es die bourgeoise Klassengesellschaft gerade nicht war“ (S. 291). Die „Gleichmacherei“ (S. 290), wie sie spätere kommunistische Regime predigten, entsprach damit keinesfalls der Vorstellung von Marx; ihm habe kein „Reich der Gleichheit“ (S. 291), sondern der Freiheit vorgeschwebt, da die Gesellschaft sich bei Gleichstellung aller „auf eine neue, vielfältigere, reichere Weise differenzieren“ (ebd.) würde. Auch Koenen präsentiert Marx somit als einen Denker, der den Gedanken der Freiheit über deren ‚bürgerliche‘ Variante hinaus entwickelte.

Zudem weist Koenen darauf hin, dass Marx’ Begründung der gemeinsamen Klassenlage und welthistorischen Rolle des Proletariats eine Abstraktion war, die sich weder theoretisch noch empirisch aufdrängte (S. 274, 281). Doch selbst nach 1850, als Marx nach den bitteren Erfahrungen der Revolution von 1848/49 kaum noch vom Kommunismus sprach und sich der Analyse der kapitalistischen Gesellschaft verschrieb, sei er trotz aller „realpolitischen Anpassungen“ dem „weltrevolutionären Gestus“ (S. 313) des Manifests treu geblieben. In „revolutionärer Kriegslüsternheit“ (S. 416) sieht Koenen sogar einen Teil der „psychischen und intellektuellen Grundausstattung“ (ebd.) von Marx und Engels. Er weist aber zu Recht darauf hin, dass ihre „schäumenden Terror- und Vernichtungsdrohungen […] Rhetorik“ blieben (S. 419), während in ihrer Zeit der „‚weiße Terror‘ jede Art eines ‚roten Terrors‘“ übertroffen habe: „Im 20. Jahrhundert würde sich dieses Verhältnis dann (teilweise) umdrehen“ (ebd.).

Dieser Umgang mit der Gewaltfrage ist kennzeichnend für Koenens wortgewandten und differenzierenden Umgang mit den verschlungenen Wegen in Marx’ Denken und Handeln. In seiner Darstellung sind dessen Widersprüche und Übersteigerungen „Ausdruck eines hypochondrisch geschärften und doch vollkommen realistischen Bewusstseins […], einer Umwälzung beizuwohnen, die auf nichts weniger als einen definitiven Riss im Kontinuum der gesamten bisherigen menschlichen Geschichte hinauslief“ – der Entstehung des Kapitalismus (S. 37). Durch die breit angelegte historische Verortung wird Marx sichtbar als eine Figur, die mitten in den Ambivalenzen der Moderne stand, diese vielfach spiegelte und dadurch Stichwortgeber für unterschiedliche politische Strömungen werden konnte. Koenens besondere Stärke liegt darin, die bei Marx selbst bereits angelegten eschatologischen Denkmotive herauszuarbeiten, sie aber als Teil der Suche nach einem Verständnis der modernen Welt und damit auch nur als einen Teil des marxschen Denkens einzuordnen. Erst nachfolgende Generationen von Interpreten verengten demnach das Marx-Bild; teilweise aus Unkenntnis seines großteils unveröffentlichten Werks, teilweise aus strategischer Absicht. Schon der Marxismus der frühen Arbeiterparteien verlor den für Marx charakteristischen „Stachel des permanenten inneren Widerspruchs, des Fragmentarischen, Vieldeutigen, Hypothetischen“ (S. 439), der Kommunismus der Bolschewiki bedeutete vollends eine „geistige und politische Mutation“ (S. 39), die teilweise das genaue Gegenteil der marxschen Vorstellungen mit dessen Namen assoziierte. Koenens klarer Bruch des scheinbaren Kontinuums von Marx und Marxismus führt daher ebenfalls zu einer Historisierung, die die Figur des 19. Jahrhunderts von den Inanspruchnahmen des 20. absetzt.

Mit einem originellen Ansatz blickt Christina Morina auf die Entstehung des Marxismus.Footnote 53 Sie befasst sich weniger mit dem in diesem Prozess geschaffenen Marx-Bild, sondern fragt, warum überhaupt jemand zum Marxisten wurde. Welche Bedürfnisse befriedigten Marx’ Schriften in der „geistigen Gründergeneration des Marxismus“ (S. 10)? Zur Beantwortung dieser Frage untersucht sie die politische Sozialisation von neun marxistischen Intellektuellen aus vier Ländern, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine wesentliche Rolle in der Aufarbeitung, Verbreitung und Weiterentwicklung der Schriften von Marx spielten (darunter Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Jean Jaurès, Georgi Plechanow und Wladimir Lenin). Sie stößt auf „eine Gruppe von sehr selbstbewussten, gebildeten, ehrgeizigen und mobilen Persönlichkeiten, denen das intellektuelle und praktische Eingreifen in das gesellschaftliche Leben zur selbstverständlichen Form, mithin zum Sinn des Lebens wurde“ (S. 477). An Marx faszinierte gerade der programmatische (von manchen Vertretern des Historisierungsansatzes angezweifelte) Wirklichkeitsbezug seines Denkens, das eine Verbindung von wissenschaftlicher Welterklärung und politischem Ansporn zur Lösung der sozialen Frage bereitstellte, also eine Verknüpfung von Theorie und Praxis erlaubte. Die Wege der neun Protagonisten zu Marx waren nicht identisch, wiesen aber doch viele Gemeinsamkeiten auf; dies gilt beispielsweise für die oft zentrale Bedeutung der Herausgeberschaft einer Zeitung für die Auseinandersetzung mit den damals bekannten Schriften von Marx (S. 166). In Deutschland profitierte die Durchsetzung des Marxismus von der engen Freundschaft zwischen Kautsky und Bernstein, des späteren ‚Revisionisten‘, der aber in den von der Autorin untersuchten Jahren noch „zu den treuesten und einflussreichsten Anhängern der Klassenkampf- und Revolutionsthesen von Marx und Engels“ (S. 199) gehörte. Morina typisiert die „Weltaneignungsweisen“ (S. 485) der frühen Marxisten unter die Begriffe des vor Ort mit engem Bezug zu den Arbeitern agierenden mitfühlenden Feldforschers, des Gefängnis wie Exil in Kauf nehmenden empörten Abenteurers und des intellektuell konfliktfreudigen Bücherwurms (S. 485). Wichtig ist ihre Studie insbesondere durch den in der Darstellung glänzend eingelösten programmatischen Anspruch, den frühen Marxismus als eine Form des modernen politischen Engagements erklärbar zu machen und durch eine erfahrungsgeschichtliche Perspektive ausgetretene Pfade der Marxismus-Forschung hinter sich zu lassen. Damit weist ihre Form der Historisierung des Marxismus auch methodisch über die untersuchten Beispiele hinaus – ihre Herangehensweise dürfte sich gewinnbringend auf andere politische Bewegungen übertragen lassen.

Da Morina stärker an den Akteuren als am Marx-Bild des Frühmarxismus interessiert ist, spielt der Prozess der Ikonisierung in ihrer Studie nur eine untergeordnete Rolle. Die Bildproduktion zu Marx hatte aber in der von ihr untersuchten Zeit schon eingesetzt, sodass dieser Aspekt der Popularisierung von Karl Marx geradezu nach einer Untersuchung der visuellen Dimension des Ikonisierungsprozesses schreit. Im Jubiläumsjahr wurde dieser Aspekt der Wirkungsgeschichte allerdings kaum thematisiert, sodass weiterhin der gelungene Katalog einer Trierer Ausstellung von 2013 zur „Ikone Karl Marx“ den besten Überblick über „Kultbilder und Bilderkult“ zu seiner Person bietet.Footnote 54 Der Umschlag zeigt eine 1875 im Londoner Studio von John Mayall aufgenommene Fotografie, die unzähligen späteren Adaptionen als Vorlage diente. Der prophetenhafte Bart wurde zum frühzeitigen, von Marx selbst durchaus gepflegten Markenzeichen, das schon durch wenige Striche in der Karikatur reproduziert werden kann.Footnote 55 Vom Ausgangspunkt der zeitgenössischen Marx-Bilder schlägt der Katalog den Bogen über die Bildproduktion der Arbeiterbewegung und die Monumentalisierung des Marx-Kopfes im ‚real existierenden Sozialismus‘ bis hin zu seiner Verwendung in der Werbung. Inzwischen ist der „allgegenwärtige Poster-Opa“Footnote 56 zur beliebig verwendbaren Chiffre mutiert, die eine ständige Selbstreproduktion des Kult-Status – oft jenseits politischer Zusammenhänge – garantiert. Der hohe Wiedererkennungswert schafft allein schon eine Form anhaltender Relevanz, deren Beziehung oder Nicht-Beziehung zur denkerischen Auseinandersetzung mit Marx noch weiterer Aufarbeitung harrt.

3.2 Marx mit ‚historisiertem‘ Blick lesen?

Die biografische Forschung ist ein natürliches Habitat für Historisierungsbestrebungen. Doch die Beschäftigung mit Marx ist nicht nur die Domäne der Geschichtswissenschaft – andere Disziplinen wenden sich ihm in der Regel gerade wegen seines Aktualisierungspotenzials zu. Die Marx-Lektüre verspricht Anregungen für die eigene Untersuchung philosophischer, gesellschaftlicher oder ökonomischer Fragen, von politischen Motivationen gar nicht zu sprechen. Dabei war allen, die sich wissenschaftlich mit Marx beschäftigten, schon vor der jüngsten Historisierungswelle klar, dass sein Werk kein in sich geschlossenes Denkgebäude ist, sondern unfertiger und deutungsoffener, als dies die Ideologie des Marxismus-Leninismus zulassen wollte. In der Phalanx gegen Dogmatismus schreitet der ‚historisierte‘ Marx Seit’ an Seit’ mit ‚neuen‘ oder ‚postmodernen‘ Marx-Lektüren. Doch in ihren Methoden und Zielsetzungen unterscheiden sich die antidogmatischen Lektürezugriffe markant und grenzen sich teilweise deutlich voneinander ab.Footnote 57 Das Bild des multiplen, fragmentierten Marx bedeutet daher durchaus eine Herausforderung für etablierte Fixpunkte und Verfahren der Lektüre. Es bestärkt die Zweifel am Systemcharakter des marxschen Werks und verlangt, dessen Entstehungsprozess in der Darstellung zu reflektieren und überdies zu diskutieren, an welchen Stellen sich Lücken oder Irrwege finden. Gab es – und wenn ja, in welcher Hinsicht – diesen Willen zum System überhaupt? Lassen sich für Teilsegmente des Werks Rekonstruktionsversuche anstellen? Scheitern sie vielleicht grundsätzlich an einer strukturellen Unabgeschlossenheit der marxschen Theorie? Ist es nur eine Theorie – wenn nein, wie viele? Auch die Gewichtung der Einzelwerke im Gesamtkorpus wirft Fragen auf: Welchen Stellenwert haben veröffentlichte Schriften gegenüber unveröffentlichten? Gelegenheitsarbeiten gegenüber nie abgeschlossenen wissenschaftlichen Projekten? Sogar die scheinbar selbstverständliche Charakterisierung des „Kapital“ als ‚Hauptwerk‘ wird fraglich, wenn neben der Ökonomie die übrigen Facetten des marxschen Wirkens, wie die zeitdiagnostischen Schriften, stärker gewichtet werden.

Die Anregungen aus der historisierenden Marx-Forschung verleihen solchen Fragen eine gesteigerte Bedeutung. Gerade das Ziel, Marx ‚weiterzudenken‘, unterscheidet sich aber schon im Grundansatz vom Interesse am historischen Marx. Es geht in diesem Fall nicht primär darum, die Figur des 19. Jahrhunderts in ihrer Zeit zu verorten, sondern marxsches Denken für die Analyse der Gegenwart nutzbar zu machen. Wegen dieser anders gelagerten Schwerpunktsetzung wird abschließend nur ein kurzer Blick auf einige im Umfeld des Jubiläumsjahrs erschienene Einführungen in Marx’ Denken geworfen, um zu schauen, inwiefern die Ergebnisse der Historisierung von den Autoren als relevant für ihr Interesse an Marx angesehen werden; die Titel werden also keiner eingehenden Würdigung unterzogen, sondern nur auf diesen Gesichtspunkt hin betrachtet.

Es herrscht kein Mangel an Versuchen, Marx zu veranschaulichen – zum Beispiel in popularisierenden Formen wie Kinderbüchern, Zitatenschätzen oder ComicsFootnote 58 – oder ihn als Anregung für eine Politik gesellschaftlicher Umgestaltung heranzuziehenFootnote 59, doch auch für eine vertiefte Auseinandersetzung mit seinem Werk liegen zahlreiche Angebote vor. Als Kritik der politischen Ökonomie der Gegenwart widmen sich diese häufig explizit einer Neubegründung des Marxismus durch den Rückgriff auf Marx. Als Startpunkt einer solchen Aktualisierung wird oft der erste Band des „Kapital“ gewählt, indem dessen Gedankengang vorgestellt, mit gegenwärtigen Wirtschaftsdaten verknüpft und kritisch auf den heutigen Kapitalismus angewendet wird. Dabei kann sowohl ein Kerngedanke der marxschen Analysen, wie die „Wertbestimmung durch die Arbeitszeit“Footnote 60, oder ein „blinder Fleck des Marxismus“, wie die KommunikationFootnote 61, den Ausgangspunkt bilden, von dem aus die anhaltende Relevanz des marxschen Denkens entwickelt wird. Allerdings kommt die enge Orientierung am Text – eigentlich also ein unmittelbarer Rückgriff auf Marx – meist mit nur knappen Verweisen auf die Entstehungskontexte des Werks aus.

Ähnliches gilt für die Einladung Elmar Altvaters, Marx „neu zu entdecken“.Footnote 62 Statt des marxschen Texts stellt er heutige Problemlagen an den logischen Ausgangspunkt seiner Darstellung. Damit ergeben sich Fragen an Marx, die in dessen Werk nicht unmittelbar offensichtlich sein müssen. So betont Altvater unter anderem die Bedeutung der „Naturfrage“ (S. 55) für Marx: Lange herrschte, trotz mehrerer Hinweise im „Kapital“ auf die naturzerstörende Wirkung der entfalteten Produktivkräfte, der Eindruck vor, Marx habe an ökologischen Zusammenhängen kein großes Interesse gezeigt. Die inzwischen in der MEGA zugänglichen späten Exzerpthefte haben aber zur These ermuntert, Marx habe in der Störung ökologischer Stoffwechsel zunehmend einen der zentralen Widersprüche des Kapitalismus gesehen.Footnote 63 Wenn Altvater allerdings auf „Rahel Carlsons [zweimal sic!] Ökoreißer“ „Silent Spring“ verweist (S. 53), dann mag dies andeuten, dass das Gespräch zwischen Kritik der politischen Ökonomie und Ökologie noch intensiviert werden kann. Auch Möglichkeiten, bei einzelnen Themenfeldern Marx Denken über die ökonomische Ebene hinaus zu berücksichtigen, könnten stärker genutzt werden. So ließe sich bei der Auseinandersetzung mit den Mechanismen des Kolonialismus die systematische Analyse aus dem „Kapital“ ergänzen durch zeitdiagnostische Stellungnahmen von Marx, in denen tagespolitischer Anlass und übergreifende Perspektiven ineinanderwirkten.Footnote 64 Aus der Warte der Historisierung betrachtet ließe sich Marx wohl gerade dann „neu entdecken“, wenn man den Ökonomen in breitere Kontexte stellt.

Eine Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der Editionsarbeit der MEGA für eine marxistische Kritik der politischen Ökonomie mahnt Michael R. Krätke an.Footnote 65 Er stellt unumwunden fest, dass „wir“ Marx „nicht als Ikone“ brauchen, sondern „zuerst und vor allem als Kritiker des Kapitalismus“ (S. 51). Obwohl Marx „uns neben einigen revolutionären Neuerungen eine Vielzahl von unvollendeten Projekten hinterlassen hat“ (S. 48), sei es durchaus möglich, weiter Marxist zu sein, wenn man „für klar erkannte Lücken und Probleme der Marxschen Theorie“ nach Lösungen suche, die „logisch konsistent und mit dem Gesamtbau der Theorie vereinbar“ (S. 49) seien. In seinen Ansatz integriert der Autor nicht nur die Ergebnisse der historischen Marx-Forschung zum problematischen Charakter des Werks, sondern er betont auch die Bedeutung der wirtschaftsjournalistischen Arbeiten von Karl Marx für eine Kritik der politischen Ökonomie. Krätkes Überlegungen stehen somit für das Streben nach einer Kapitalismusanalyse, die in den Schriften von Marx nicht nach vorgefertigten Lösungen sucht, vielmehr deren fragmentierten Charakter als Basis nutzt, um unter Einbeziehung späterer marxistischer Deutungstraditionen eine explizit marxistische Position weiterzuentwickeln.

Nicht alle Aktualisierungen sind dezidiert marxistisch. Die Wirtschaftsjournalistin Ulrike HerrmannFootnote 66 präsentiert Marx neben Adam Smith und John Maynard Keynes als einen der ‚Klassiker‘ aus der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften, deren Lektüre Studierenden des Faches empfohlen wird, um anhand alternativer Konzepte die „Irrwege der Mainstream-Ökonomen“ (S. 13) besser herausarbeiten zu können. In jedem der drei Autoren findet sie bei aller Zeitgebundenheit theoretische Innovationen, die das gegenwärtige Nachdenken über wirtschaftliche Zusammenhänge bereichern könnten. So kommt Marx laut Herrmann das bleibende Verdienst zu, erstmals die Dynamik des Kapitalismus als einen permanenten Prozess beschrieben und die Bedeutung der Technik angemessen gewürdigt zu haben (S. 136). Für die aktuelle Diskussion verweist Herrmann vor allem darauf, dass Marx und Engels „als Erste erkannten“, dass die globale Wirtschaft von Großkonzernen beherrscht werde (S. 239). Allerdings führt die Autorin darüber hinaus wenig konkret aus, an welchen Punkten Marx, den sie als „Genie“ mit vielen „Irrtümern“ präsentiert, gegen die Irrtümer der „Neoklassik“ in Stellung gebracht werden sollte; Keynes und vor allem Smith wirken insgesamt als ihre wichtigeren Gewährsleute.

Nichts scheint naheliegender als die Lektüre des „Kapital“ als ökonomische Analyse. Seit einiger Zeit findet sich aber auch eine poetologische Herangehensweise, die Marx’ Komposition zusätzlich in ihrer ästhetischen Dimension würdigt.Footnote 67 William Clare Roberts argumentiert, Marx habe das „Kapital“ bewusst in Orientierung an Dante als „a descent into the modern ‚social Hell‘ of the capitalist mode of production“ gestaltet und sich selbst in der Rolle eines modernen Vergil gesehen, der in diesem Fall die Proletarier durch die Kreise der Hölle geleitet.Footnote 68 Christoph Henning zeigt, dass Marx noch heute verbreitete gespenstische Gruselgestalten der Populärkultur, wie den Vampir oder den seelenlosen Automaten, aufgriff, um starke Symbole für die hinter der sichtbaren Oberfläche des kapitalistischen Systems lauernden ausbeuterischen Kräfte zu schaffen. Über die Funktion solcher Motive in Hollywood-Blockbustern findet Henning zurück zu Marx, dessen anhaltende Relevanz neben dem ökonomischen Gehalt des Werks auch durch die Beständigkeit kultureller Muster erwiesen wird.Footnote 69 Damit ist über den Weg der Aktualisierung zugleich eine originelle Perspektive auf den historischen Marx eröffnet, die dazu beiträgt, das „Kapital“ stärker ebenso als literarischen statt lediglich ökonomischen Klassiker zu würdigen. Ähnlich setzt der Kulturjournalist Thomas SteinfeldFootnote 70 unter dem Titel „Herr der Gespenster“ bei Marx’ Idee an, dass im ökonomischen Alltag Abstraktionen wie Preis, Ware oder Eigentum ein Eigenleben im Denken der Menschen angenommen haben, das den Blick auf die dahinterliegenden Herrschaftsverhältnisse verschleiert (S. 17). Der Autor strebt nicht nach einer stringenten Analyse des marxschen Schaffens, sondern präsentiert eine Reihe von Essays zu Kernbegriffen und -konzepten aus dessen Lebens- und Werkzusammenhängen (zu Themen wie Geld, Kapital, Revolution, aber auch Ruhm, Verschwörung, Scheitern); dies erlaube es, „einen Mangel oder gar Irrtum in Marx’ Lehre hinzunehmen, ohne dass deswegen deren Bedeutung geschmälert würde“ (S. 14). Steinfelds eingängig geschriebene Auseinandersetzung mit Marx reproduziert durch diese Form der Darstellung geschickt die Offenheit und Unabgeschlossenheit von dessen Schaffen. Dies ermöglicht es dem Autor, sich frei zwischen Kultur und Ökonomie, Aktualisierung und historischem Marx zu bewegen und zwanglos große Theoriefragen ebenso zu behandeln wie Detailerkenntnisse aus den kleineren Arbeiten, die sonst weniger im Fokus der Forschung stehen. Marx regt in dieser Präsentation zum Weiterdenken an, ohne dass „Mängel und Schwächen“ (S. 44) ausgeblendet werden müssen. So weist Steinfeld zu Recht darauf hin, dass man neben Marx’ beeindruckenden Zukunftsprognosen „von Vorhersagen, die nicht eintrafen, auch nicht schweigen“ (S. 47) sollte. Der Autor widmet sich ebenfalls der Vampir- und Blutsaugermetaphorik, die im „Kapital“ die unsichtbaren Schichten des Kapitalismus beschreibt. Dabei betont er nicht nur das stilistische Können von Marx, sondern zeigt an ausgewählten Textpassagen, dass die marxsche Metaphorik auch als Mittel dienen konnte, das logisch „nicht recht ineinander Passende zusammenzufügen“ (S. 126). Eine bewusste Verschleierungstaktik war dies wohl nicht: Marx „glaubte vielmehr, einen schlagenden Ausdruck gefunden zu haben. Doch eigentlich hatte der Ausdruck ihn gefunden“ (ebd.). Steinfelds Marx-Lektüre unterstreicht das Potenzial, das in der Anwendung literaturwissenschaftlicher und linguistischer Methoden auf das marxsche Werk liegt, da sie nicht nur rein ästhetische Dimensionen offenlegen, sondern Rückwirkungen auf die Wahrnehmung der marxschen Theorie haben.

Eine scheinbar rein historische Form des ‚Weiterdenkens‘ präsentiert der Wissenschaftshistoriker Kurt Bayertz.Footnote 71 Er nimmt sich einer klassischen Frage an: Wie sah Marx’ Materialismus aus? Diese Frage scheint eindeutig beantwortet im vielzitierten Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859, in dem Marx ausführt, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme.Footnote 72 Doch der aus „dem unseligen Vorwort“ (S. 188) häufig abgeleitete Basis-Überbau-Schematismus verleiht Marx’ Denken einen deterministischen Charakter, der einer gründlicheren Lektüre nicht standhält.Footnote 73 Bayertz zählt zu den Autoren, die Marx’ Materialismus durch die Auseinandersetzung mit der idealistischen Tradition geformt sehen; er habe einen entstofflichten Begriff von Materie verwendet, der wesentliche „Relationen, die die Welt ausmachen, als ‚materiell‘ charakterisiert“ (S. 126). Die Produktionsverhältnisse beruhen in dieser Lesart nicht auf stofflicher Materialität, sondern ergeben sich aus dem Handeln der Individuen; an die Stelle des Basis-Überbau-Schematismus tritt „eine relationale Sozialontologie“ (S. 115). Da Marx seine Konzeption des Materialismus nie systematisch ausgeführt hat, lässt sich Bayertz’ Studie als Vorschlag lesen, die überlieferten Bausteine in logischer Rekonstruktion zu der Form des Historischen Materialismus zu ergänzen, die bei Marx angelegt war. Bayertz’ These, ein „nicht-naturalistischer Materialismus“ (S. 247) sei Marx’ besonderer Beitrag zu dieser Gedankenströmung gewesen, geht somit davon aus, dass die Unabgeschlossenheit, in der Marx die Materialismuskonzeption hinterlassen hat, prinzipiell durch die Rekonstruktion aufgehoben werden kann. An deren Endpunkt findet man sich in der komfortablen Position wieder, mehr über diesen Aspekt von Marx’ Denken zu wissen als dieser selbst. Bei dieser Hyper-Historisierung liegt der Primat des Interesses also nicht auf der Nachzeichnung des historisch überlieferten Befundes, sondern auf dessen Weiterentwicklung zu einer möglichst konsistenten Position.

Der kurze Streifzug durch einige jüngere Titel zu Marx’ Denken legt nahe, dass die Historisierung (erst?) allmählich beginnt, einen Einfluss auf gegenwartsorientierte Marx-Lektüren auszuüben. Vielfältige Herangehensweisen sind möglich, von der Rekonstruktion einzelner Theoriebausteine über die dichte Lektüre ausgewählter Werke bis hin zur aktualisierenden Interpretation von Kernkonzepten – und das alles im Bestreben um einen erneuerten Marxismus oder im Bemühen, Marx gerade vom Marxismus zu unterscheiden. Die Hinweise auf die Fragmentierung und Widersprüchlichkeit von Marx’ Werk, die Beobachtung, dass es zu „fast jedem Marx-Zitat […] ein Gegenzitat“Footnote 74 gibt, machen es einfach, das Werk als Ideensteinbruch und fast schon beliebige Rechtfertigungsgrundlage für unterschiedlichste Positionen heranzuziehen. Doch auch wenn das autoritative ‚Marx sagt, dass …‘ mancher verkürzender Handbuchliteratur noch schwerer als zuvor aufrechterhalten werden kann, muss die Beschäftigung mit Marx nicht in Beliebigkeit verfallen. Vielmehr öffnet sich ein Raum möglicher Interpretationen, die nicht nach voreiligen Synthesen seiner Gedanken streben, sondern diese in ihrer potenziellen Widersprüchlichkeit nachzeichnen sollten, um gerade auf diese Weise den von Marx umkreisten Problemen schärfere Konturen verleihen zu können. Es dürfte einige Zeit dauern, die teilweise disparaten Impulse aus den zahlreichen Publikationen des Jubiläumsjahrs zu verdichten und für die zukünftige Beschäftigung mit Marx und die Gestaltung des Marx-Bildes aufzuarbeiten. Weitere Publikationen sind bereits angekündigt.Footnote 75

4 Ein Bild von einem Mann?

Das öffentliche Interesse an der Aktualität von Karl Marx richtet sich vor allem auf den Ökonomen und dessen Kritik eines globalen, ausbeuterischen kapitalistischen Systems. Die Historisierung kennt diese Engführung prinzipiell nicht. Sie präsentiert ein vielfältigeres Marx-Bild, in dem die Breite seiner wissenschaftlichen und politischen Interessen ebenso zum Vorschein kommt wie seine privaten Seiten. Im Vergleich zum ikonisierten alter ego ist der historisierte Marx facettenreicher, widersprüchlicher, fragmentierter. Das Unabgeschlossene seines Werks wird gegenüber dem Systemcharakter betont, der politische Stratege erscheint fehlbar, der Privatmann als Verkörperung eines bürgerlichen Patriarchen seiner Epoche. Sein „unreflektierter Rückgriff auf bösartige antisemitische Verhöhnungen“Footnote 76 wird ebenso wenig ausgeklammert wie sein oft herrisches Auftreten gegenüber politischen Gegnern und Mitstreitern. Deutlich hervor tritt der bis zur Selbstlähmung sorgfältige Wissenschaftler, der sich einerseits selbstbewusst von der grundsätzlichen Richtigkeit seiner Positionen überzeugt zeigte, diese aber andererseits stets im Lichte neuerer Forschungserkenntnisse überarbeitete oder revidierte; der italienische Publizist Diego Fusaro verwendet das Bild „der ‚offenen Baustelle‘, worauf die Arbeit ständig in Gang ist“Footnote 77. Als Zeitdiagnostiker erwies sich Marx oft als hellsichtiger Beobachter politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, saß aber auch Verschwörungstheorien auf, wenn er diese nicht gleich selbst in die Welt setzte. Betont wird in vielen Studien, dass die scheinbar sozialwissenschaftlich gewonnenen Analysebegriffe zum Teil philosophische Abstraktionen waren, die nicht empirisch gestützt waren. Es ist die Rede von „many Marxes“, dem multiplen Marx, dem anderen Marx, dem unvollendeten Marx.Footnote 78

Schon diese Bezeichnungen deuten an, dass der Historisierungsansatz seine Brisanz aus der Abgrenzung von einem „gängigen Bild“Footnote 79 bezieht, das in die politische Geschichte der Arbeiterbewegung und die staatsideologische Vereinnahmung von Marx im 20. Jahrhundert zurückweist. Dieses ikonisierte Bild lässt sich inzwischen selbst historisieren und als Ausdruck einer bestimmten historischen Ära der Marx-Deutung erkennen. Der anti-iconic turn gegen das „gängige Bild“ ist also nur insoweit plausibel, als dieses noch vertreten wird. Dies ist keineswegs flächendeckend der Fall – ohnehin lässt sich fragen, wie weit es jenseits marxistisch-leninistischer Mythisierungen die Wahrnehmung so kompakt prägte, wie die Verfechter des Historisierungsparadigmas dies bei der Konstruktion eines Gegenbilds zum eigenen Ansatz suggerieren. Allerdings muss hier sorgfältig zwischen akademischem und populärem Wissen über Marx, zwischen wissenschaftlicher Aufarbeitung und Zwecken politischer Inanspruchnahme unterschieden werden. Die Beharrungskraft wesentlicher Bestandteile des ikonisierten Marx-Bildes erinnert in jedem Fall daran, „dass von Karl Marx und seinem Denken ein originäres und wuchtiges historisches Momentum ausgegangen ist“Footnote 80, das ihn von vergleichbaren ‚Großdenkern‘ abhebt. Er war eben nicht nur Philosoph oder Ökonom, sondern auch Journalist, Politiker, Revolutionär – und Träger eines beeindruckenden Bartes. Das „Momentum“ war damit in seiner Biografie angelegt, doch erklären lässt es sich letztlich nur aus den Besonderheiten einer Wirkungsgeschichte, die just in der Ikonisierung wurzelte, die den Blick auf den ‚historischen‘ Marx verstellte.

Wichtiger als die Frage nach der Virulenz des angeblich „gängigen“ Marx-Bildes erscheint die Beobachtung, dass die Historisierung dieses zwar auflöst, aber keineswegs zu einem neuen Bild führen kann, wenn darunter eine Repräsentation verstanden wird, die die Vielschichtigkeit der Annäherungsmöglichkeiten unter der Priorisierung eines Teilaspekts der Biografie verschwinden lässt. Die Anerkennung eines fragmentierten und multiplen Marx beinhaltet eine theoretische Setzung, die für die Biografie die Möglichkeit eines Bildes von vornherein ausschließt. Allein wenn man sich nur auf Marx als ‚Denker‘ konzentriert, stellen sich bereits zahlreiche Fragen: Welche Rückkopplungen gab es zwischen dem wissenschaftlichen Werk und seinen weiteren Betätigungsfeldern? Wenn das Werk und die Theorie weder prinzipiell noch strukturell abgeschlossen warenFootnote 81, gab es dann dennoch ein „Grundsatzprogramm“Footnote 82, an dem Marx arbeitete, oder zeigt sich die Vollendung des Werks gerade im Unvollendeten? Was bedeuten Lücken in Marx’ Argumentation – wo handelte es sich um unausgeführte Ansätze, wo um unpassierbare Sackgassen? Was heißt es für den Werkbegriff, wenn die Rede ist von einer Mischung aus herausragenden wissenschaftlichen Publikationen, Notizheften, Schmähschriften, Zeitungsartikeln, politischen Verlautbarungen, von Tausenden Briefen ganz zu schweigen? Diese Frage lässt sich zwar auf jeden Intellektuellen anwenden, im Fall von Marx aber erfordert jede Antwort erst einmal das Abtragen der Schichten an scheinbar klaren Antworten, die sich im Zuge der Ikonisierung herausgebildet und teilweise festgesetzt hatten. Dies ist keineswegs trivial, sind damit doch nicht nur Einzelaspekte von Biografie und Werk, sondern alle Bestandteile auf den Prüfstand gestellt. Wenn selbst in einem ‚historisierenden‘ Werk vom „dialektischen und historischen Materialismus“ als „Grundlagen seines Denkens“Footnote 83 die Rede ist, zeigt dies, wie leicht sich spätere Begrifflichkeiten über die des historischen Marx stülpen.

Während der ‚Historisierungsansatz‘ als Gegenbewegung zum „gängigen Bild“ den Charakter eines gemeinsamen Unterfangens erhält, bleiben selbstverständlich dennoch (oder gerade) jenseits der generellen Betonung des multiplen Marx zahlreiche unterschiedliche Einschätzungen einzelner Aspekte der Biografie. Dies gilt beispielsweise für die Frage, wie weit der Wille des späten Marx zur Revision früherer Positionen ging. So beobachtet Gareth Stedman Jones bei Marx die Entstehung eines neuen Revolutionsverständnisses und einer ‚sozialdemokratischen‘ Sprache aufgrund seines Wirkens in der Internationale, während laut Marcello Musto dieselben Erfahrungen zur Schärfung seiner Kapitalismuskritik und revolutionären Aspirationen führten. Stedman Jones stützt seine Interpretation insbesondere auf die von Marx verfassten Grundlagendokumente der IAA, Musto auf Marx’ für die IAA verfasste Deutung der Pariser Kommune. Die unterschiedlichen Einschätzungen legen eine Neubetrachtung der Bedeutung der IAA für Marx naheFootnote 84, die zugleich die Frage aufwirft, in welchen strategischen und zeitlichen Horizonten Marx jeweils argumentierte – wann sprach er als anpassungsfähiger Politiker, der seine Theorien in der Praxis allmählich verbreiten wollte, wann als Theoretiker, der von Praxiserwägungen abstrahierte oder situative Veränderungen in der Theorie zu erfassen suchte? Die Antworten auf solche Fragen der politischen Biografie lenken den Blick auf den historischen Kontext von Marx’ Wirken. Jürgen Herres plädiert dafür, Marx als „einen westeuropäischen Radikalen“ zu verstehen, in dessen „Manifest“ wir „das ‚Murmeln‘ der damaligen politischen und gesellschaftskritischen Diskurse Westeuropas hören“.Footnote 85 Bei allem Interesse, das Marx an globalen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zeigte, stellt diese Perspektive sein politisches Denken und Handeln in Zusammenhänge, die zwar nicht unbekannt, aber noch nicht erschöpfend erschlossen sind. Der Versuch, die Freiheit als „Lebensthema“Footnote 86 des multiplen Marx zu erkennen und der Biografie damit einen gewissen roten Faden zu verleihen, erfordert ebenfalls eine sorgfältige Berücksichtigung der Zeithorizonte in seinen Argumentationen. In einem Marx gewidmeten Themenheft der „Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie“ erinnert Sebastian Schwenzfeuer daran, dass Marx ein „ambivalentes Verhältnis“ zu den Menschen- und Bürgerrechten hatte.Footnote 87 Einerseits waren sie ihm zu überwindender Ausdruck der Produktionsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, abzulösen durch eine künftige „Assoziation“, in der die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller „ist“Footnote 88 – eine Formulierung, die selbst wieder Fragen aufwirft, aber unverkennbar das Ziel umreißt, die gesellschaftliche und die private Seite des Individuums miteinander in Einklang zu bringen. Andererseits forderte Marx in seiner politischen Tätigkeit immer wieder die Freiheitsrechte seiner Zeit ein, so etwa beim Ringen um die Pressefreiheit. Während zur Zeit des Kalten Krieges die Betonung des Freiheitsdenkers Marx im ‚Westen‘ stets auch eine politische Stoßrichtung gegen die Regime des Ostblocks hatte, die ihre diktatorische Praxis durch Marx zu legitimieren suchten, erlaubt es die historisierende Perspektive, unvoreingenommener den Denker des 19. Jahrhunderts in seinen historischen Bezügen, beispielsweise den Traditionen der Aufklärung, zu verorten.Footnote 89 Dabei sind aber weiterhin Widersprüche anzuerkennen, die zwischen den Äußerungen, die Marx zum Denker der Freiheit machen, und seiner wiederholt hervorbrechenden Gewaltrhetorik bestehen können.

Der historisierte Marx kann nicht in jeder Hinsicht behaupten, ‚neu‘ zu sein – dies wäre vermessen bei einer historischen Figur, die seit über einem Jahrhundert Gegenstand unterschiedlichster Forschungsanstrengungen war. Viele Elemente des historisierten Marx-Bildes sind einzeln schon lange bekanntFootnote 90; zahlreiche kritische Aspekte werden selbst von Marx-Enthusiasten kaum in Frage gestellt. Das Historisierungsparadigma lädt aber zum einen dazu ein, bekannte Themen neu zu untersuchen, darunter auch ‚Klassiker‘ wie den gerade im Kontext der Freiheitsthematik wichtigen Begriff der „Diktatur des Proletariats“Footnote 91. Zum anderen bringt es eine neue Herangehensweise durch die Konsequenz, mit welcher der historische Marx von den Schichten späterer Deutungen befreit wird. Nach dieser Operation erscheint die Unabgeschlossenheit des marxschen Werks nicht länger als ein Problem, das zu leugnen oder zu bereinigen wäre, sondern als Wesenszug eines Œuvres, das gerade durch seine Offenheit zum Weiterdenken anregen kann. Damit ist zugleich die Herausforderung der Historisierung an zukünftige Marx-Lektüren umrissen.

Deren Vielfalt wird durch die Ergebnisse der Historisierungsbemühungen in jedem Fall nur gesteigert. Fern davon, ihn politisch oder wissenschaftlich zu befrieden, eröffnet die Verortung in der Wissenschaftskultur, aber auch in der politischen Szene seiner Zeit die Möglichkeit, Marx mit vertieftem Verständnis für den Charakter seines Werks und Wirkens weiterhin als Gesprächspartner in aktuellen Problemlagen heranzuziehen. Solange das gesellschaftliche System sich als kapitalistisch beschreiben lässt, dürfte Marx seine Bedeutung als anregender Analytiker nicht verlieren. Aber er dachte über diese Zusammenhänge aus der Warte des 19. Jahrhunderts nach. Nur wer bei Marx die Enthüllung überzeitlicher Wahrheiten finden (oder sich nicht vom liebgewordenen Feindbild trennen) will, wird seine ‚Historisierung‘ bedauern. Für alle anderen lässt sich Marx einreihen in die Riege inspirierender Denker von Platon über Machiavelli bis zu Max Weber und vielen anderen, die trotz ihres unbestritten ‚historischen‘ Charakters nichts von ihrer provozierenden Kraft verloren haben. Auch weiterhin dürften sich durch den Rückgriff auf Marx also „die widersprüchlichsten Dinge rechtfertigen“Footnote 92 lassen – wenn man das denn will: Gregory Claeys weist darauf hin, dass bei aller gegenwärtigen Kritik am globalen Wirtschaftssystem zumindest kaum „sympathy for Marxist solutions“ auszumachen sei. Dennoch sei es „useful to have a single figure like Marx to turn to in order to help us organize our thoughts, while recognizing that he was not infallible“.Footnote 93

5 Auswahlbibliografie

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