Das Massaker von 1961
19. Okt 2005 07:46
![Still aus Michael Hanekes](https://web.archive.org/web/20051216203243im_/http://www.netzeitung.de/img/0076/175576-1.jpg) | ![Bild vergrößern](https://web.archive.org/web/20051216203243im_/http://www.netzeitung.de/idesk/img/zoom_thumb.gif) Still aus Michael Hanekes "Caché" | Foto: Quelle |
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Das Massaker von 1961, als die französische Polizei eine Kundgebung von 30.000 Algeriern in Paris zusammenschoss, wurde jahrzehntelang tabuisiert. Ein Film wendet sich jetzt gegen die organisierte Verdrängung.
Von Hans-Hermann NikoleiEin Österreicher konfrontiert die Franzosen derzeit mit ihrer verdrängten Geschichte und erntet Beifall. In seinem Film «Caché» erinnert der Regisseur Michael Haneke an die blutige Niederschlagung einer Demonstration gegen den Algerienkrieg, bei der am 17. Oktober 1961 mitten in Paris bis zu 200 Algerier erschossen wurden. Statt mit Empörung wurde der in Cannes preisgekrönte Film beim Kinostart in Paris sehr freundlich aufgenommen, nicht nur wegen der Starbesetzung mit Juliette Binoche und Daniel Auteuil. Erst seit fünf Jahren wird in Frankreich der blutige Algerienkrieg offiziell «Krieg» genannt. Das Massaker von 1961, als die Polizei eine friedliche Kundgebung von 30.000 Algeriern in Paris zusammenschoss und die Leichen einfach in die Seine warf, wurde jahrzehntelang tabuisiert wie die Sklaverei oder einst die Kollaboration mit den Nazis. Doch eine neue Generation von Franzosen algerischer Abstammung fordert Aufklärung. Zum 44. Jahrestag des Massakers organisierte der Regisseur Mehdi Lalaoui, dessen Vater selbst bei der Demonstration umgekommen war, am Montag einen Marsch durch Paris.
Die positive Rolle Frankreichs Einen kräftigen Motivationsschub bekam Lalaoui durch den Husarenstreich einer Hand voll neogaullistischer Abgeordneter. Zu später Stunde brachten sie einen Gesetzespassus durch die fast leere Nationalversammlung, der den Lehrern vorschreibt, im Unterricht «die positive Rolle» Frankreichs in Nordafrika hervorzuheben. Das Zweifeln an der Grande Nation, die den Barbaren Kultur und Zivilisation bringt, sollte ein Ende haben. Die Massaker und die Unterwerfung von Millionen wögen schwerer als die «zivilisatorische Mission Frankreich», wettert Lalaoui, der sich «ein Kind Frankreichs» nennt.Die Sozialisten fordern jetzt die Abschaffung des – von ihnen zuvor durchgewunkenen – Gesetzes. Der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika wirft Frankreich «Geschichtsverleugnung und Revisionismus» vor. Am Samstag machten in Blois gleich 20.000 Geschichtslehrer und Historiker Front gegen die Reform. Auch in der Presse hagelt es Kritik. Das Gesetz «kleiner revanchelüsterner Weißer, die ihre Niederlagen in Vietnam und Algerien nie überwunden haben», entehre das Parlament, kommentierte die Zeitung «Libération».
Ehrung der Attentäter? Entnervt versichert Kulturminister Gilles de Robien jetzt den Lehrern, sie könnten den Kolonialismus frei darstellen. Das neue Gesetz ändere überhaupt nichts. Außenminister Philippe Douste-Blazy schlug Algerien vor, nach deutsch-polnischem Vorbild eine gemeinsame Historikerkommission zu bilden. Sie könnte auch die Folterungen und Massaker auf beiden Seiten aufklären – und die Frage, ob es nun 1,5 Millionen Tote gab, wie Algerien behauptet, oder nur 200.000, wie General Charles de Gaulle angab.Doch was die Algerier denken, ist den meisten Franzosen egal. Der «Kampf um die Geschichte» ist ein innerfranzösischer Kampf. Die Harkis – Algerier, die für Frankreich gekämpft hatten – fordern moralische Anerkennung. Anhänger der Untergrundarmee OAS, die mit Terroranschlägen die Kolonialherrschaft über Algerien sichern wollten, streiten für ihre Vorstellung von Ehre. So ehrten im Juli 600 OAS-Veteranen die Männer, die 1962 nach einem Attentat auf Staatschef General de Gaulle hingerichtet worden waren. Auf der anderen Seite fühlen sich viele Einwandererkinder nicht als vollwertige Franzosen, sondern als späte Opfer des Kolonialismus. Und ihre Zahl wächst rasant mit der Diskussion um den radikalen Islam. «Wir sind in Frankreich unfähig, uns über den Algerienkrieg zu einigen», erklärt der Historiker Guy Pervillé. Als Lösung schlägt er vor, wie in Südafrika nach der Apartheid eine Wahrheitskommission zu bilden. Die könne «Vergebung gegen Wahrheit» bringen und die Franzosen mit sich und ihrer schmerzhaften Geschichte versöhnen. (dpa)
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