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Bemerkungen zur Krise der Psychoanalyse
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Wir danken den unten genannten Veranstaltern für die vorzeitige Veröffentlichung deutschsprachiger Texte und verbinden mit:


LES ETATS GENERAUX DE LA PSYCHANALYSE



EINIGE BEMERKUNGEN ZUR KRISE DER PSYCHOANALYSE

August RUHS

Zweifelsohne befindet sich die Psychoanalyse in einer allgemeinen Krise. Ihre schlechte konjunkturelle Lage, durch die sie nicht mehr nur ihren gewohnten Gegnern als ein Auslaufmodell erscheint, hat aber weniger mit jenem «Veralten » zu tun, von dem Marcuse schon 1963 gesprochen hat und womit er die Unangemessenheit ihrer an bürgerlich-patriarchalischen Strukturen orientierten Theorie(n) angesichts einer «vaterlosen Gesellschaft kennzeichnen wollte. Vielmehr geht es heute um ihren in einer «Erlebnisgesellschaft » (Schulze 1992) obsolet gewordenen aufklärerischen Auftrag, den Menschen nicht unbedingt Glück zu verheissen, ihnen dafür aber Autonomieerweiterung in Aussicht zu stellen (vgl. Haubl 1997). Es ist sicherlich übertrieben, vom bevorstehenden Tod der Psychoanalyse zu sprechen, aber vor allem in Oesterreich, von wo aus sie ihren Anfang genommen hat, ist sie durch äussere Institutionalisierungszwänge im Zuge der erwähnten Zeitgeistströmung existenziell besonders bedroht. Obwohl man durchaus behaupten kann, dass sie sich von dem Schlag, den ihr der Nationalsozialismus zugefügt hat, niemals richtig erholt hat, so arbeiten doch andererseits anders geartete politische Entwicklungen in den letzten Jahren an ihrer weiteren Zerstörung. Durch das vom oesterreichischen Gesetzgeber 1991 erlassene Psychotherapiegesetz, an dessen Zustandekommen Vertreter aus den eigenen Reihen keineswegs eine nur untergeordnete Rolle gespielt haben, ist nunmehr die Psychoanalyse, zu deren Selbstverständnis und zu deren gesellschaftlichem Auftrag das Infragestellen von Gesetzen gehört, selbst einer staatlichen Gesetzesregelung unterworfen. Unter Verlust ihrer kultur- und gesellschaftskritischen Dimension hat sie sich damit in ein Arsenal bisweilen höchst fragwürdiger psychotherapeutischer Methoden einzureihen, deren mitunter ebenso fragwürdige Ergebnisse auch ihr Prestige zu schmälern imstande sind.
Allerdings ist die Psychoanalyse für Existenzgefährdungen besonders anfällig. Denn die psychoanalytische Subjektkritik mit ihrem Vermögen, dem Allgemeinen, den Systemen und seinen Typen den je besonderen Fall, das Individuelle und Singuläre mit Nachdruck entgegenzusetzen, gerät mit diesem Unterfangen unweigerlich in eine Gegnerschaftsposition nicht nur zu jeder neuen, sondern grundsätzlich zu jeder gesellschaftlichen Machtordnung. Sie zerlegt potentiell deren Gefüge, indem sie jedes Handeln und jedes handelnde Subjekt vor die Sinnfrage stellt und sie zur Preisgabe ihrer verschwiegenen und verschleierten Intentionen zwingt. Damit hat sie, um ihre Existenz aufrechtzuerhalten, stets an zwei Fronten zu kämpfen, da sie sich nicht nur gegen den auflösenden Zugriff von aussen wehren muss, sondern auch gewissermassen in sich selbst Tendenzen und Kräften zu begegnen hat, welche permanent auf ihre Entwaffnung und Destruktion hinarbeiten. Denn auf dem Weg ihres Erkenntnisfortschritts, der eben die wahreren Motive menschlichen Verhaltens im Auge hat und der bekanntlich vom scheinbar sinnlosen Symptomverhalten des Neurotikers ausgegangen ist, ist die Psychoanalyse sehr rasch an die Kraft der Einbildung und an die Macht der Illusion gestossen. Ihr Wahrheitsanspruch, der also nicht auf das Aufspüren transzendenter ontologischer Gründe ausgerichtet war, sondern auf die Wahrheit eines Sprechens in Differenz zur Lüge zielte, musste sich am Hang des Menschen zu seiner Selbsttäuschung reiben, gegenüber dem die Dennochdurchsetzung des Wahrhaftigen zumeist nur in verstümmelter Form gelingen kann. Dieser Zug liegt aber gerade darin begründet, dass das menschliche Subjekt selbst in seiner Ichhaftigkeit das Produkt einer illusionären Verkennung ist.
Die Psychoanalyse wird also sowohl von aussen als auch von innen stets in Frage gestellt, wobei sie, notabene, als Wissenschaft von den (unbewussten) Motiven menschlichen Handelns und von der Wirkung der Sprache auf den Menschen existentiell und grundsätzlich höchstens ethisch kritisierbar ist. In diesem Sinn hat Norbert Haas spitz formuliert, dass eine grundsätzliche Kritik an der Psychoanalyse einer Kritik an den Zentralalpen gleichkomme. Hinsichtlich autodestruktiver Tendenzen haben vor allem szientistische Selbstmissverständnisse und Unterwerfungstendenzen unter sachfremde Empirismen jenen in die Hände gespielt, welche nunmehr die Psychoanalyse in Richtung einer nur noch marktorientierten Psychotherapie gelenkt haben. Dazu hat freilich auch Trägheit geführt, welche zudem mitbewirkt hat, dass in so manchen ihrer Institutionen der Stein des Anstosses, als welcher Freuds Werk nicht nur im Sinne eines Skandals, sondern auch im Hinblick auf Erkenntnisfortschritt zu nehmen ist, durch einen lauwarmen Dauerregen einer monoton gewordenen Hermeneutik so ausgewaschen ist, dass er wie abgegriffenes altes Geld nur noch die Taschen jener zu füllen hilft, für die die Sicherheit des Bekannten schwerer wiegt als der unbestimmte Gewinn einer vagen Verheissung, welcher durch ein mutiges Überschreiten der
Mauern des selbstverständlich Gewordenen aufzufinden wäre.
So hat die Psychoanalyse, die auf ein mehr als hundertjähriges Alter zurückblicken kann, etwas durchaus Janusköpfiges an sich. Als Wissenschaft ist sie gleichzeitig ein kleines Kind und eine alte Dame. Und wenn sie auch mit dem Marxismus einiges gemeinsam hat - vor allem gehen beide auf klar definierte Gründungsväter zurück - , so ist dessen offensichtliche (aber wohl kaum endgültige!) Zerschlagung nicht unbedingt ein Beleg dafür, dass auch die Psychoanalyse den Eintritt ins nächste Jahrtausend nicht überleben wird, wenngleich man sich der Frage stellen muss, inwieweit das Freudsche Dispositiv ein mobiles Unternehmen darstellt, über dessen Auftauchen am Ende des vorigen Jahrhunderts wir geradeso verwundert sein dürfen, wie wir mit seinem Verschwinden rechnen müssen. Grund genug also, an einem Punkt der Krise, der als "Memento mori" uns ein kurzes Einhalten gebietet, den Versuch zu unternehmen, die Psychoanalyse von ihrem Ende her zu denken und dafür auch auf die drei Blickwinkel zurückzugreifen, aus welchen sich eine Betrachtung ihrer Endlichkeit als einer je besonderen Form einer Praxis aufdrängt, um sie der Unendlichkeit eines stets mit einem bestimmten Dispositiv zu besetzenden Diskurses der Analyse gegenüberzustellen.
Zunächst hinsichtlich der Bedeutung der Psychoanalyse, die aus strukturellen Gründen, aus Gründen der diskursiven Verfasstheit ihres Gegenstandes, sich erst dann vollkommen erschliessen wird, wenn sie an ihrem Ende angelangt sein wird. So wie der Satz erst mit seinem letzten sprachlichen Element seinen Sinn erhält, würde sich der Sinn der Psychoanalyse erst dann eröffnen, wenn festgestellt werden kann, was sie gewesen sein wird.
Zweitens hinsichtlich ihre Charakters als Instrument der Aufklärung, wodurch sie sich von vornherein in die Position des Bedrohten begibt und einer Gefahr der Zerstörung stets ausgesetzt ist. Denn die psychoanalytische Subjektkritik mit ihrem Vermögen, den Systemen und seinen Typen, dem Allgemeinen und seinen besonderen Fällen das Individülle und Singuläre mit Nachdruck entgegenzusetzen, gerät mit diesem Unterfangen unweigerlich in eine Gegnerschaftsposition nicht nur zu jeder neün, sondern grundsätzlich zu jeder gesellschaftlichen Machtordnung. Denn sie zerlegt potentiell deren Gefüge, indem sie jedes Handeln und jedes handelnde Subjekt vor die Sinnfrage stellt und sie zur Preisgabe ihrer verschwiegenen und verschleierten Intentionen zwingt. Damit hat sie, um ihre Existenz aufrechtzuerhalten, stets an zwei Fronten zu kämpfen, da sie sich nicht nur gegen den auflösenden Zugriff von aussen wehren muss, sondern auch gewissermassen in sich selbst Tendenzen und Kräften zu begegnen hat, welche permanent auf ihre Entwaffnung und Destruktion hinarbeiten. Denn auf dem Weg ihres Erkenntnisfortschritts, der eben die wahreren Motive menschlichen Handelns im Auge hat und der bekanntlich vom scheinbar sinnlosen Symptomverhalten des Neurotikers ausgegangen ist, ist die Psychoanalyse sehr rasch an die Kraft der Einbildung und an die Macht der Illusion gestossen. Ihr Wahrheitsanspruch, der also nicht auf das Aufspüren transzendentaler ontologischer Gründe ausgerichtet war, sondern auf die Wahrheit eines Sprechens in Differenz zur Lüge zielte, musste sich am Hang des Menschen zu seiner Selbsttäuschung reiben, gegenüber dem die Dennochdurchsetzung des Wahrhaftigen zumeist nur in verstümmelter Form gelingen kann. Dieser Zug liegt aber gerade darin begründet, dass das menschliche Subjekt selbst in seiner Ichhaftigkeit das Produkt einer illusionären Verkennung ist. Die daraus erwachsende narzisstische Kränkung, die Freud an die beiden anderen Kränkungen des abendländischen Menschen durch Kopernikus und Darwin hinzugefügt hat, ist Anlass genug, der Analyse zumindest mit tiefem Misstrauen zu begegnen, wenn nicht gar an ihrer Auflösung zu arbeiten.
Drittens und angehängt an jene Verfallserscheinungen, die die Psychoanalyse von innen und von aussen her stets auszuhöhlen versuchen, müssen wir den Tod der Psychoanalyse zu jenen gegenwärtigen Kulturphänomenen in Beziehung setzen, welche bestimmte Dispositive zum Verschwinden bringen oder bringen möchten und die andere Auflösungserscheinungen potenzieren oder beschleunigen. Spätestens seit der Zeit, in der der Begriff des "Nomadisierens" zu einem Schlagwort geworden ist, befinden sich die Menschen im Aufbruch. So werden alte Räume aufgegeben, neue Räume besetzt, Heimaten aufgelöst. "Anything goes", jede Bewegung ist möglich, Tumulte sind unvermeidbar, der Krieg ist weder durch Politik noch durch virtuell-technologische Ersatzhandlungen zu verhindern. In dem in Aufruhr versetzten Ameisenhaufen Europa musste wieder einmal Geschichte mit Blut geschrieben werden. Die herannahende Zeitenwende ist als agens movens dafuer nicht zu gering zu veranschlagen, scheint doch die Geschichte vom Unbewussten weitgehend von der Wirkung des numerischen Signifikanten her bestimmt zu werden. So trägt der kuenftige Eintritt in einen neuen Zeitraum, in ein neues Millenium notabene, die eindrÜckliche Markierung eines Gewesenseinwerdens in sich und zwingt uns ein historisches Bewusstsein im Sinne einer Bilanzziehung auf. Was können wir brauchen, was sollen wir mitnehmen, was müssen wir zurücklassen? Die Ausstellung der 100 Dinge für den Eintritt ins nächste Jahrtausend wartet auf ihre Realisierung. Eines steht fest: Bei der Sichtung des Gepäcks für den grossen Aufbruch muss Sperriges, Unbewegliches, Ungetümes zurückbleiben. Die grossen Programme? Sicherlich zu vergessen. Die Leiche des Sozialismus ist schon verscharrt worden, der Marxismus kann noch eingepackt werden, digitalisiert nicht einmal mehr die Frage von einigen Kilogramm BÜchern. Und die Psychoanalyse? Kann sich jemand, der im Aufbruch begriffen ist, noch hinlegen auf jenes unhandliche Möbelstück, das mindestens seit dem Zirkulieren jenes Witzes fragwürdig geworden ist, in welchem sich ein Mann verzweifelt bemüht, eine Couch einige Stockwerke hinaufzuschleppen und einem staunenden Hausbewohner die Erklärung liefert, dass er ein Psychoanalytiker auf Hausbesuch sei. Wenn man also, um auf den Punkt zu kommen, der Psychoanalyse noch nie ihr Wissen aus der Hand gerissen hat, wenn der Berg so selten den Weg zum Propheten findet, so ist doch der Gang des Propheten zum Berge müde geworden. Wird damit, so müssen wir uns fragen, auch die Stimme des Intellekts immer leiser, bis sie schliesslich einmal nicht mehr gehört werden wird? Um ihr Überleben wenigstens in den Archiven als Freudismus und analog zum Marxismus zu sichern, um als Praxis wenigstens mit Ehren als ein Stück in der abendländischen Geschichte bestattet zu werden, wozu es immerhin einiger sterblicher Überreste und damit eines Teils an Ungeniessbarkeit bedarf, sind die Psychoanalytiker zu allerlei Konzessionen bereit:
Seit man sich um die Schaffung von Psychotherapie- und Psychotherapeutengesetzen bemüht - und Oesterreich spielt hier eine zweifelhafte Vorreiterrolle -, zerbrechen sich zahlreiche Analytikerkollegen die Köpfe für Formulierungen zur öffentlich geforderten Rechtfertigung ihres Berufes. Dadurch freilich arbeitet die Psychoanalyse an ihrer Infragestellung eigenhändig mit und macht sich selbst fragwürdig. "Wenn heute Analytiker ihr spekulatives Potential verbrauchen für die Überlebenssicherung ihrer Methode (und damit ihrer Existenz), für Stellungskämpfe um den Berufsstand, über Gesetzesregelung und Krankenkassenzugänglichkeit, so gerät wohl die psychoanalytische Arbeit langsam in den Bereich des Zweifelhaften, nicht mehr ganz Ernstzunehmenden" (Kuster 1992, 7). Tatsächlich sind jene nunmehr extrem bürokratisierten psychoanalytischen Institutionen, die dem Rechtfertigungsdruck einer gesetzlichen Regelung unterworfen sind, permanent mit abstrusen Gutachten beschäftigt, um ihr Verfahren unter jenen Therapiemethoden unterzubringen, deren Wirksamkeit unter wissenschaftlich kontrollierten Bedingungen in einer genügenden Anzahl voneinander unabhängiger Untersuchungen geprüft und erwiesen wurde, so dass sie zum Spektrum der bewährten psychotherapeutischen Methoden gezählt und als Bestandteil einer Psychotherapieausbildung für die Berufszulassung anerkannt werden. Ob Freud gelacht hätte? Sicherlich, denn Freud hat diesbezüglich schon einmal gelacht, als er anlässlich der Verleihung seines Professorentitels an Fliess schrieb: "Es regnet auch jetzt schon Glückwünsche und Blumenspenden, als sei die Rolle der Sexualität plötzlich von seiner Majestät amtlich anerkannt, die Bedeutung des Traumes vom Ministerrat bestätigt, und die Notwendigkeit einer psychologischen Therapie der Hysterie mit 2/3 Majorität im Parlament durchgedrungen" (Freud, 1986, 503). In Anbetracht seiner eindeutigen Ambivalenz zur Psychoanalyse hat Oesterreich als erstes Land die Realisierung dieses Witzes von Freud vollzogen, und anstatt zu lachen haben sich nicht wenige Analytiker darüber gefreut, dass die Psychoanalyse den Nachweis erbringen konnte, dass sie eine wissenschaftlich fundierte Therapiemethode ist, deren Ergebnisse einer (letztlich sachfremden!) empirischen Uberprüfung standhalten und die als solche auch zum Spektrum der bewährten psychotherapeutischen Verfahren zu zählen ist, sodass ihre öffentlichrechtliche Anerkennung im Rahmen des seit 1991 in Kraft getretenen oesterreichischen Psychotherapiegesetzes gewährleistet ist. 

Welchen Wert aber hat diese Anerkennung angesichts der Tatsache, dass Freud wörtlich die Psychoanalyse nicht als Therapie empfohlen hat, sondern wegen ihres Wahrheitsgehaltes, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten liegt, nämlich sein eigenes Wesen. Um einer punktuellen Reduktion der Psychoanalyse vorzubeugen, hatte er schon 1926 geschrieben: "Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, dass sie nicht die richtige ist. Jedenfalls wäre es unbillig, der einen Anwendung alle anderen zu opfern, bloss weil dieses Anwendungsgebiet sich mit dem Kreis ärztlicher Interessen berührt" (Freud, 1975, 339). Sicherlich, gerade die einseitige Inanspruchnahme der Psychoanalyse und auch der anderen Psychotherapieverfahren durch die Medizin, deren gesetzlich festgelegtes Behandlungsmonopol dazu führte, dass die sogenannten Laienanalytiker und Laienpsychotherapeuten immer am Rand der Illegalität arbeiten mussten, stellte einen Missstand dar, für dessen Behebung eine gesetzliche Neuregelung tatsächlich nahelag. Indem dadurch die Psychotherapie insgesamt auf eine breitere Basis gestellt werden sollte, erhofften sich auch viele Analytiker einen Aufschwung sowie einen Bewertungs- und Anerkennungszuwachs ihrer Disziplin. Mittlerweile müssen auch sie sich eingestehen, dass sie nicht auf der Gewinnerseite dieses Unternehmens stehen, dass sich ihre Erwartungen keineswegs erfüllt haben und dass die Art, wie die Psychoanalyse nunmehr staatlich reglementiert wird, einen vorläufigen Tiefpunkt in ihrer Abwärtsentwicklung darstellt. Diesen malignen Prozess von einem die Welt verändernden Denken zu einer Institution, welche mit einer Kirche oder einer politischen Partei gleichzusetzen sei, sieht Cremerius (1992, 64ff) auch schon im Schicksal der Psychoanalyse in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, welches durch folgende Kennzeichen bestimmt sei:

- Eine Verflüchtigung des Sexuellen
- Das Aufgeben der Gesellschaftskritik
- Die Verschleierung der die Neurosen verursachenden und fördernden Funktion der Gesellschaft
- Die Vernachlässigung des aufklärerischen, emanzipatorischen Auftrages der Psychoanalyse
- Die Verdrängung von Freuds Theorie der Objektbeziehung, wonach seine erschreckende Feststellung, dass der menschliche Trieb nicht ein spezielles Liebesobjekt, ein "Du" sucht, sondern ein  "Sexualziel" beliebiger Art, das nur die sexuelle Spannung lösen soll, mit jenen Idealen verkleistert sei, die Freud als verlogen erkannt hätte
- Die Bindung der Psychoanalyse an Medizin, Psychiatrie und Psychologie, d.h., den Ausschluss von Laien aus den Psychoanalytischen Vereinigungen
- Die Pathologisierung der Homosexualität und der daraus abgeleiteten Folgerung, Homosexuelle nicht zur psychoanalytischen Ausbildung zuzulassen.

Und angesichts der bangen Frage, ob die Analyse überhaupt existiert, beschränkt sich Israel (1992, 4ff) auf einige hauptsächliche Bedrohungen, die jeder nach seiner Erfahrung und auf seine Weise ergänzen könne und kennzeichnet sie mit: Dogmatismus, Szientismus, Psychologismus und Fetischismus der Technik.
Diesen in ihrem Inneren sich vollziehenden Verfallserscheinungen der Psychoanalyse, welchen man noch jene Verwässerungen, theoretischen Verirrungen und pseudoorthodoxen Versteinerungen hinzufügen soll, die vor allem Lacan ständig gegeisselt hat und die ihn zu seinem permanent wiederholten Appell einer Rückkehr zu Freud bewogen haben, gesellt sich jene von aussen kommende Destruktion hinzu, welche, wie schon gesagt, als legitime Bemühung zur Behebung des Unrechts der Laienanalyse und der Laienpsychotherapie begonnen hat und nunmehr das Kind mit dem Bade ausschüttet. Denn wenn jetzt in Oesterreich, wie es durch das Psychotherapiegesetz gehandhabt wird, das Gremium des sogenannten Psychotherapiebeirates, das sich aus Vertretern öffentlicher Körperschaften von der Ärztekammer bis zum Bundeskanzleramt und aus Funktionären aller psychotherapeutischen Richtungen zusammensetzt, der Psychoanalyse die Ausrichtung ihrer Organisation, ihrer Lehre und ihrer Behandlungspraxis vorschreibt, wie es sonst in totalitären Staaten üblich war oder üblich ist, dann hat die Psychoanalyse ihre Unabängigkeit verloren und ihren emanzipatorischen Anspruch endgültig eingebüsst und müsste eigentlich abdanken. Wenn also die Psychoanalyse nicht mehr selbst entscheiden kann, was sie ist, dann haben wir Analytiker, indem wir die Freiheit der Sicherheit opferten, daran mitgewirkt, unserer eigenen Disziplin ein Grab zu schaufeln. 

Als dessen hauptamtliche Totengräber fungieren übrigens gerade jene Vertreter unserer Zunft, an welchen immer schon ein gespaltenes Verhältnis zur Psychoanalyse aufgefallen ist, welche anderen Identitäten immer schon stärker zugeneigt waren und somit den Geist und den Buchstaben Freuds zu verstehen oder zu tradieren nicht imstande waren. Allerdings könnte das Grab leer bleiben, weil man den Körper, bevor er zum Kadaver geworden ist, aufgefressen haben wird. Denn unter den gegebenen Verhältnissen wäre der Tod der Psychoanalyse keineswegs ein Mord - wenn es wenigstens einer wäre! -, sondern ein Verschwinden im Sinne einer Phagozytose, einer Einverleibung. Denn die Königsdisziplin der Psychotherapie, Stammmutter aller jener Verfahren, welche vorgeben, einen schnelleren und weniger mühevollen Weg zum seelischen Heil gefunden zu haben und in welchen das suggestive Kupfer in der Legierung mit dem Gold der Psychoanalyse derart überwiegt, dass man rasch zu ihrer Anwendung schreiten muss, um nicht das Ablaufdatum zu überschreiten, muss nun zusehen, wie ihre Couch zu einem Prokrustesbett verwandelt wird, in das sich alles, was sich Psychotherapie nennt, und was von der monopolistischen Zentralmacht eines selbstgefälligen und selbstgerechten Dachverbandes als solches anerkannt worden ist, legen muss. Infolgedessen werden jedem psychotherapeutischen Verfahren nicht nur die buchstäblich von der Psychoanalyse abgekupferten Kriterien hinsichtlich eines nunmehr verallgemeinerten Anwendungsbereiches und einer generalisierten Zielvorstellung aufgezwungen, sondern es werden auch jene Grundzüge der Übermittlung der Lehre, wie sie als Eigenanalyse und als Kontrollanalyse die Eckpfeiler der analytischen Ausbildung darstellen, ausnahmslos jedwedem Vorgehen, das sich psychotherapeutisch nennt, unter den Begriffen von Selbsterfahrung und Supervision verbindlich vorgeschrieben. Notabene auch der Psychoanalyse selbst. 

Grotesk nicht nur dies, sondern auch etwa die Vorstellung, wie sich eine Verhaltens- oder Familientherapie ihre sogenannte Selbsterfahrung organisieren wird, um den Buchstaben des Gesetzes treu zu sein (es ist allerdings anzunehmen, dass es genügend Zunftkollegen geben wird, die mit ihrem oft auch nur spärlichen Wissen die Konkurrenz mit diesbezüglichem Nachhilfeunterricht bedienen werden). In dieser einheitlichen psychotherapeutischen Klostersuppe, die fortan an alle Bedürftigen, an alle Mühseligen und Beladenen kostenlos ausgeschenkt werden soll, wird nun der Geist der Psychoanalyse, besser gesagt, die Psychoanalyse als Geist weiterleben. Wenn es, wie Lacan sagt, durchaus nicht gleichgültig ist, auf welcher Seite der Strasse die Psychoanalyse auf den Strich geht, und wenn sich herausstellen wird, dass das Strichabenteuer mit einem tödlichen Ausgang endet, dann ist es vielleicht eher möglich, dass dieser "Ghost of the father" seinen Hamlet finden wird, der schliesslich den Tod auf sich nehmend Rache nehmen wird an jenen Hunden, mit welchen sich die Mutter ins Bett gelegt hat, um mit Flöhen aufzustehen. Vorher wird man aber noch an jener Speise kosten, die uns ein Witz darbietet, in welchem die Frau eines armen alten Ehepaares sich bei ihrem Mann beklagt, dass die Reichen im Gegensatz zu ihnen selbst sich stets an köstlichen Palatschinken (oesterr.Form eines Pfannkuchens) delektieren könnten. "Machen wir doch auch Palatschinken", sagt da der Mann. "Aber wir haben doch keine Eier". "Dann machen wir sie eben ohne Eier", entgegnet wiederum der Mann. "Aber wir haben auch keine Milch". "Dann machen wir sie eben ohne Milch", sagt der Mann. Und nachdem die Frau aus Mehl und Wasser einen Palatschinkenteig zubereitet hat und nachdem sie daraus Palatschinken gefertigt hat und auf den Tisch stellt, und nachdem beide davon gekostet haben, schiebt der Alte degoutiert den Teller von sich weg mit der Bemerkung: "Pfui, und so was schmeckt den Reichen?"

Wohl gemerkt, nicht einer elitären Verbreitung, nicht einer elitären Selbstfindungsveranstaltung mit eingeschränktem Einlass auf beiden Seiten ihres Zugangs soll hier das Wort geredet werden, weil es dabei nicht um die Verteilung von Reichtümern geht, welche eine Gesellschaft in Besitzende und Besitzlose trennen würde. Die Psychoanalyse ist vielmehr etwas von allen für alle, und deshalb sollte sie auch stets im Sinne einer Reparation an ihre rechtmässigen Eigentümer, das heißt eben an alle, zurückgegeben werden. Und dies nicht nur als klinische Arbeit im weitesten Sinn, sondern auch als allen zugängliche Rückerstattung in Form von Wissen, das einen mittlerweile in den Hintergrund getretenen Aufklärungsgedanken wiederaufnehmen könnte. Eine solche Utopie, auch wenn Utopien derzeit verpönt sind, sollten die, die es erleben werden, ins nächste Jahrtausend mitnehmen.
So hat nunmehr zumindest in Oesterreich die Psychoanalyse nach ihrer Vertreibung ins Exil und nach Jahrzehnten kümmerlichen Daseins ihren Weg wieder gefunden. Er führt, wie zu befürchten war, direkt in die Mittelmässigkeit.
Aber nicht genug damit hat unser Land auf diesem Weg auch noch eine Führungsrolle übernommen und einen Zug zusammengestellt, in welchen auch Lemminge anderer Staaten aufzuspringen bereit sind. Ist doch immer stärker auch international der Trend spürbar, dass psychotherapeutische Verfahren einschliesslich der Psychoanalyse sich Gesundheitsdiensten unterwerfen, die für ihre Leistungen nicht ohne Einfluss bleiben wollen auf die Gestaltung von Praxis, Forschung und Ausbildung im Namen einer effizienten und damit oekonomischen Gesichtspunkten unterstellten psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung. Und von der Position der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aus prognostizierte Cremerius 1992 (S. 80), dass bald kein Unterschied mehr zwischen IPV-Analyse und der Analyse der vielen Gruppen und Schulen existieren würde, die irgendeine Art von Psychotherapie machten. Den Namen Freud dürften alle führen. Die IPV hätte vergessen, ihn sich patentieren zu lassen, weil sie zu sicher gewesen sei in ihrem "Freud habemus". Und Cremerius fragt sich diesbezüglich: "Besorgt mich das? Nein. Dem Niedergang der psychoanalytischen Institution zu einem reinen Berufsverband kann ich gelassen zusehen. Er war nach der Aufgabe ihrer sozialen Funktion so voraussagbar wie der Niedergang der anderen Internationale, die denselben Weg gegangen ist. Die psychoanalytische Gesinnung, welche die IPV vertritt, deckt sich nicht mehr mit dem Gedanken der Aufklärung, die im Namen vorbehaltlosen, kritischen Forschens und von Gedankenfreiheit die Aufhebung von Willkür und das Ende von Glaubenshaltungen fordert und Vorurteile und Heuchelei unterbinden will. In ihr haben sich fast alle Freudschen Ideale ins Gegenteil verkehrt" (ebd.).
Sollen wir trotzdem, als Optimisten, für die Sache der Psychoanalyse voller Zuversicht und unbesorgt sein? Sollen wir, wie Cremerius (ebd.) damit zufrieden sein, dass sie in diesem Jahrhundert als blosse Idee, unabhängig von den organisatorischen Machtapparaten der IPV ein "Klima der Denkungsart" geschaffen hat, das noch weit in das nächste Jahrhundert hineinreichen wird? Sollen wir sie als jene Praxis, als welche Freud sie begründet hat, dahinfahren lassen und das Terrain, auf welchem die Neurosen wachsen, jenen anderen therapeutischen Schulen überlassen, die sich schon seit einiger Zeit mit dem Dekor Analyse schmücken, von der Gestaltanalyse bis hin zur Verhaltensanalyse?

Unter dem Titel «Die Psychoanalyse und ihre Tod » habe ich 1993 wütend gegen das kurz zuvor in Kraft getretene österreichische Psychotherapiegesetz angeschrieben. Da meine damaligen Behauptungen und Besorgnisse bis heute nichts an Gültigkeit eingebüsst haben und da sich meine seinerzeitigen Befürchtungen als durchaus begründet erwiesen haben, habe ich einen großen Teil jenes Textes unverändert in diesen Beitrag zur gegenwärtigen Situation der Psychoanalyse in Österreich übernehmen können. Was allerdings noch nachzutragen wäre betrifft eine Entwicklung der letzten Jahre im klinischen Bereich, wobei es zu einer Art Schulterschluss psychoanalytischer Vereinigungen im weitesten Sinn des Wortes (also Schulen von Adler und Jung inbegriffen) gekommen ist, um dem rauhen Wind zu trotzen, welcher der Psychoanalyse vor allem aus der Richtung des staatlich organisierten «Psychobooms » entgegenweht. Kompromissbereit und bescheiden hat der entsprechende Dachverband für die Psychoanalyse, allerdings beschränkt auf die Bundeshauptstadt Wien, eine Ausnahmestellung bezüglich der Refundierung von Behandlungskosten durch Krankenversicherungen erreichen, wodurch hochfrequente und mehrjährige «Analysen mit Krankenkassenunterstützung » ohne wesentlichen Verwaltungs- und Kontrollaufwand möglich wurden. Im Zuge eines gerade jetzt in Aussicht gestellten sogenannten Gesamtvertrages zwischen allen Krankenversicherungen und allen Psychotherapeuten mit der Möglichkeit von psychotherapeutischen Leistungen auf Krankenschein ist die Psychoanalyse allerdings von einer erneuten Nivellierung bedroht, die ihre Identität nochmals und vielleicht noch nachhaltiger als durch das Psychotherapiegesetz untergraben könnte. Die Zahl derer, die wütend dagegen anschreiben, ist verschwindend gering. Offenbar ist der Mut müde geworden...

LITERATUR

Cremerius, J. (1992): Die Zukunft der Psychoanalyse. In: Kuster, M.: Entfernte Wahrheit. Von der Endlichkeit der Psychoanalyse. Edition Diskord, Tübingen.

Freud, S. (1902): Briefe an Wilhelm Fliess, 1887-1904. Fischer, Frankfurt, 1986.

Freud, S. (1926): Die Frage der Laienanalyse. Stud.Erg.Bd. 275-34.

Haubl, R. (1997): Das Veralten der Psychoanalyse und die Antiquiertheit des Menschen. Psychoanalyse im Widerspruch, 17, 7-26.

Israel, L. (1992): Es war einmal ... Diskurier, Text.Klinik. Deutung, Heft 1.

Kuster, M., (Hrsg.) (1992):Entfernte Wahrheit. Von der Endlichkeit der Psychoanalyse. Edition Diskord, Tübingen.

Ruhs, A. (1993): Die Psychoanalyse und ihr Tod. texte - psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik. Heft 1, 31-42.


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