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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Öffentlicher Dienst
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Öffentlicher Dienst

Hintergrund:
Nach ihrem Wahlsieg im September 2002 kündigt die Regierung aus SPD und Grünen weitere Steuererhöhungen und eine höhere Staatsverschuldung an.

 

Klassenkampf von oben

von Michael Miersch

Mitte der achtziger Jahre war viel die Rede vom kommenden postmateriellen Zeitalter. Der Wohlfahrtsstaat, so die damals gängige These, habe die Armut im Inland nahezu beseitigt. Die großen Konflikte der Zukunft erwartete man auf so genannten weichen Politikfeldern wie Umweltschutz, Geschlechterbeziehungen oder Lebensstilfragen. Erich Fromms "Haben oder Sein" war ein viel zitierter Bestseller, und wurde damals von modern geltenden Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine zum philosophischer Wegweiser ihrer Politik erklärt. Schön war die Zeit. Doch die postmaterielle Ära währte nur kurz.

Heute geht es zwar noch nicht ums Brot, aber immerhin schon wieder um die Wurst. Wo materielle Kämpfe ausgefochten werden, kann man Fromm getrost beiseite legen. Es lohnt sich dagegen ein Blick zurück zum alten Marx. Der interpretierte die Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen und prophezeite, dass dereinst die Arbeiterklasse die Staatsmacht erobern würde, um die Diktatur des Proletariats auszurufen. Das meiste davon hat sich gottlob als Irrtum erwiesen. Doch die Klassenkampf-Theorie kann durchaus hilfreich sein, wenn um die ökonomischen Grundlagen eines Landes gestritten wird.

Wie wäre es mit folgender Hypothese: In Deutschland wird ein knallharter Klassenkampf ausgetragen. Jedoch nicht zwischen Arbeitern und Kapitalisten, sondern zwischen zwei Lagern, deren ökonomischen Interessen mindestens ebenso antagonistisch gegeneinander stehen: Dem produktiven Sektor und dem öffentlichen Dienst. Zum produktiven Sektor zählen Arbeiter und Angestellte in der Privatwirtschaft, Unternehmer und Freiberufler. Der öffentliche Dienst umfasst alle, die beim Bund und den Ländern angestellt sind, oder in staatsnahen Körperschaften nach öffentlich-rechtlichen Tarifen besoldet werden. Zwischen den beiden Antagonisten stehen die großen Kapitalgesellschaften und Finanzkonzerne, die aber durch vielfältige Verflechtungen und Abhängigkeiten mehr zur Seite des Staates neigen.

Die SPD ist schon lange nicht mehr die Partei der Fabrikarbeiter, sondern die Partei des öffentlichen Dienstes, dessen Interessen sie unverhohlen und entschieden vertritt. Ohne den Segen von ver.di läuft im Willy-Brandt-Haus nichts. Im Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die SPD diese Rolle einnimmt. Schließlich ist die Arbeiterschaft zu einer Minderheit geschrumpft und die vielen im öffentlichen Dienst Beschäftigten müssen politisch angemessen repräsentiert werden. Inklusive Familienangehörigen und Rentnern stellt diese Gruppe etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung. Die Stadt München beispielsweise beschäftigt 20367 Beamten und öffentliche Angestellte. Darunter sind sehr viele fleißige und keinesfalls überbezahlte Menschen, die in Kindergärten, Krankenhäusern, bei der Polizei oder der Stadtreinigung lebenswichtige Arbeit leisten. Aber nicht mal die Europäische Union, die den Ruf eines bürokratischen Wasserkopfes besitzt, verfügt über so viel Verwaltungspersonal. Auf 1038 Euro belaufen sich die jährlichen Personalausgaben Münchens pro Einwohner.

Doch leider ist es nicht allein die SPD, die die Interessen der neuen Klasse vertritt. Auch in den anderen Parteien dominiert der öffentlichen Dienst, wenn auch nicht ganz so extrem. Im Bundestag sind die Beamten in grotesker Weise überrepräsentiert. Der produktive Sektor kommt in der Volksvertretung kaum vor. Das Drittel der Gesellschaft, an dem die Wertschöpfung hängt, ist vielen Volksvertretern fremd und manchmal sogar suspekt geworden. Doch diese Gruppe kommt für alle und alles auf: Für die Renten, die Krankenkassen, die Bildung, für Arbeitslosengeld und Sozialhilfe - und natürlich auch für die Besoldung des öffentlichen Dienstes. Der Kern des produktiven Sektors - und des bisherigen Wohlstandes in Deutschland - sind die mittelständischen Betriebe. Sie tätigen 45 Prozent aller steuerpflichtigen Umsätze, beschäftigen 70 Prozent aller Arbeitnehmer, bilden 80 Prozent aller Lehrlinge aus, tätigen 46 Prozent aller Investitionen und entwickeln 75 Prozent aller Patente. Um weiterhin existieren zu können, brauchen sie dringend niedrigere Steuern, niedrigere Lohnnebenkosten, einen flexibleren Arbeitsmarkt und eine stabile Währung und - im Sinne zukünftiger Generationen - einen Staat, der keine Schulden anhäuft.

Dem öffentlichen Dienst ist die Zwangslage des produktiven Sektors unverständlich. Er reagiert mit Abwehr. Wie eine herrschende Klasse im Marxschen Sinne versucht er mit Hilfe immer höherer Steuern, eines starren Kündigungsschutzes und hoher Staatsschulden seine Machtposition zu festigen und auszubauen. Er führt den Klassenkampf von oben, und bedient sich dabei ironischerweise der Propagandaklischees aus der marxistischen Mottenkiste. Mancher Appell von ver.di, in dem es um nichts weiter geht als die Privilegien unkündbarer Gutbetuchter, liest sich, als werde um die Hungerlöhne peruanischer Minenarbeiter gefochten.

Der genialste Schachzug im Kassenkampf von oben war die Eroberung der geistigen Hegemonie durch die ökonomische Anbindung der kulturellen Eliten (hier lohnt es sich den Blick von Marx zu Gramsci schweifen zu lassen). Da nahezu der gesamte Kulturbetrieb von Staatsgeldern abhängig und an Staatsgelder gewöhnt ist, unterbleibt in diesem Bereich fast jegliche Kritik an der herrschenden Klasse. Ökonomisch rundum versorgte Kulturmandarine inszenieren den Klassenkampf von gestern, weil sie den von heute nicht begreifen können. Auch hierfür liefert Marx eine schlüssige Erklärung: Das Sein macht das Bewusstsein. Stadttheater, Kunstakademien und populäre Fernsehkrimis simulieren kritisches Bewusstsein, indem sie unablässig die alten Klischees aufwärmen. Der öffentliche Dienst applaudiert, der produktive Sektor zahlt die Subventionen.

 

Erschienen in Die Welt vom 23.10.02