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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Irak-Vorhersagen
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Irak-Vorhersagen

Hintergrund:
Selbsternannte Irak- und Islamexperten tischten vor einem Jahr in den Medien verheerende Voraussagen zum Irakkrieg mit hundertausenden von Toten auf. Sie lagen vollkommen falsch. Die Blamage hindert sie nicht daran munter so weiterzumachen.

 

Blei gießen und Blech reden

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Bleigießen zu Silvester ist ein wenig aus der Mode gekommen. Nach dem alten Brauch wird das Blei in einem Löffel über einer Kerze geschmolzen und dann in kaltes Wasser gegossen. Es verhärtet sich zu kuriosen Figuren, die angeblich etwas über die Zukunft verraten. Die Methode mag veraltet sein, geblieben ist aber der Wunsch nach Zukunftsschau.

Denken wir kurz ein Jahr zurück: Die medialen Hellseher hatten Hochkonjunktur, denn der Irak Krieg warf seine Schatten voraus. Nahost-, Islam- und Für-Alles-Experten waren fest im Fernsehstudio angeschraubt. Peter Scholl-Latour brachte es an guten Tagen auf drei TV-Interviews. Bis auf wenige Ausnahmen übertrumpften sich die Auguren mit Schreckenszenarien: Hunderttausende würden sterben, Millionen auf der Flucht sein. Die irakische Armee würde in Treue fest zu ihrem Führer stehen, die arabische Welt sich geschlossen gegen den Westen erheben. Bagdad würde ein zweites Stalingrad.

Kanzöer und Außenminister bastelten an der Achse Paris-Berlin-Moskau. Parteifreunde lieferten die passende Begleitmusik. Wolfgang Thierse sprach von "Millionen Menschen in Bagdad, die Opfer von Bomben und Raketen werden." Claudia Roth erwartete einen "Flächenbrand im nahen Osten." Und Antje Vollmer sah die "gesamte Region" bereits in ein "hundertjähriges Chaos" versinken. Am 20. März marschierten die Alliierten im Irak ein, 20 Tage später standen sie in Bagdad. Die Zahl der toten Zivilisten blieb weit unter der jährlichen Opferzahl des Saddam-Regimes.
Unsere Zukunftsseher hätten genauso gut Blei gießen können.

Zum heutigen Jahreswechsel ist es um das Irak-Thema etwas ruhiger geworden. Man verdaut noch die Ergreifung von Saddam Hussein. Aber die Grundmelodie der Prognosen klingt kein bisschen besser als Silvester 2002. Es hat lediglich eine gewisse Verschiebung in Richtung Langzeit-Desaster stattgefunden: Ein stetig anwachsender Guerillakrieg wird die Alliierten zermürben, die Volksgruppen des Irak werden sich in einem einen Bürgerkrieg hinschlachten, die schiitischen Religionsführer einen mittelalterlichen Gottesstaat errichten. Kurz gesagt: Es kann nicht gut gehen. Es wird böse enden.

Wer mit solchen Worst-Case Szenarien operiert, ist immer auf der sicheren Seite. Denn kommt es besser, werden die Fehlprognosen schnell vergessen. Zuweilen verstecken sich hinter den Vorhersagen aber auch heimliche Wünsche: Scheitern die Alliierten, sähe alle Welt, wie dumm Amerikaner und Briten sind und wie weise die Deutschen und ihre Regierung. Wer immer nur düstere Vorhersagen von sich gibt, kommt zwar schwer nachdenklich daher, ist aber genauso fehlbar wie jeder andere. Schwarzseher haben kein Wahrheitsmonopol.

Winston Churchill sah früher als andere einen Krieg gegen Hitler als unvermeidlich an. Doch er schrieb 1939 von der "unzerstörbaren Freiheitsliebe", die den Sieg davon tragen werde. Zu dieser Zeit eine unglaublich optimistische Prognose. Ronald Reagan rief 1987 auf, die Berliner Mauer endlich einzureißen. Viele Europäer bespöttelten ihn daraufhin als unterbelichteten US-Optimisten. Die Geschichte gab Churchill und Reagan Recht. Das heißt nicht, dass sie auch George Bush Recht geben wird. Man kann jedoch aus diesen Beispielen etwas lernen: Es gibt kein Naturgesetz, dass alles böse endet.

Warum kommt bloß keiner der Nahost-, Islam- und Über-Alles-Experten auf die Idee, sich einmal selbstkritisch mit seinen nicht eingetroffenen Orakeln auseinanderzusetzen? Wie lehrreich wäre es, wenn ein Fernsehsender die Vorhersagen von gestern in einem großen Silvester-Potpourri an der Wirklichkeit messen würde: Pleiten, Pech und Pannen aus der Welt der politischen Sterndeuter! Wir stellen uns das sehr unterhaltsam vor.

Der Zukunft komme man allenfalls durch "kritisches Raten" auf die Spur, empfahl Karl Popper. Daran möchten wir uns weiter orientieren. Deshalb haben wir uns vorgenommen, auch im kommenden Jahr dem Prognosezirkus fern zu bleiben.
Da wir uns für Vorhersagen nicht kompetent fühlen, möchten wir uns für 2004 schlicht etwas wünschen: Dass sich Freiheit und Demokratie im Irak ausbreiten möge und die große Mehrheit der Bevölkerung den Hasspredigern und Terroristen eine klare Absage erteilt. Ein optimistischer Wunsch. Aber wer weiß.

 

Erschienen in Die Welt vom 31.12.2003