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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Reformdebatte
The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20080607024731/http://www.maxeiner-miersch.de:80/standp2004-09-22a.htm
Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Reformdebatte

Hintergrund:
Jahrzehnte geübt im dekonstruieren und kritisieren der herrschenden Verhältnisse hat die in der Regierung angelangte Generation der Babyboomer jetzt ein Problem: Sie müßten etwas Neues aufbauen.

 

Verzagte Babyboomer

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Wir gehören zur Generation der „Babyboomer“, jenen geburtenstarken Jahrgängen die zwischen Ende der vierziger Jahre und Mitte der sechziger in westlichen Ländern das Licht der Welt erblickten. Eine Generation, die niemals Hunger leiden, Krieg ertragen oder in Unfreiheit leben musste. So viel Glück hatte es in der Menschheitsgeschichte zuvor nie gegeben. Folglich konnten wir lernen, dass man auch in Freiheit, Sicherheit und mit vollem Bauch von Herzen unglücklich sein kann.

Ein Teil unserer Altergenossen trifft nun Entscheidungen, die den Kurs dieses Landes bestimmen. Und sie wirken seltsam antriebslos und verzagt dabei. Sie sprechen zwar vom Erneuern und Verändern. Aber nach Aufbruch klingt es nicht. Eher nach einer unvermeidlichen Operation, der man sich notgedrungen unterziehen muss. Früher stand das Wort „Reform“ für Fortschritt und Aufbau, heute wird es mit Abbau assoziiert.

Ein Architekt, der Bauherren für seinen Plan begeistern will, wird einen hinreißenden Entwurf präsentieren. Man wird gemeinsam das Grundstück besichtigen und sich auf die Zukunft im neuen Haus freuen. Und bis dahin gilt es eben die Zähne zusammenzubeißen. Tagtäglich und überall in Deutschland üben Menschen diese Art von Verzicht für ihre Vorstellung von einem besseren Morgen. Welch ein Unterschied zur öffentlichen Diskussion. Da prägen keine Architekten, sondern Abbruchunternehmer die Stimmung: „Sorry, das Haus muss abgerissen werden, weil es reinregnet und sich die Balken biegen, aber Ideen für ein neues, besseres haben wir nicht.“ Echt motivierend.

Besteht ein Zusammenhang zwischen unserer „postmateriellen“ Jugendzeit und der Unfähigkeit, ein realistisches Zukunftsbild mit emotionaler Anziehungskraft zu entwickeln? Welchen gesellschaftlichen Auftrag haben wir damals angenommen? Worauf kam es an? In erster Linie auf die Dekonstruktion des Bestehenden. Man war dem Falschen, der Fassade, der Charaktermaske auf der Spur. Der Gegenentwurf bewegte sich immer in der Sphäre des großen Ganzen, Wahren, Schönen, Guten. Eingebettet ins Wirtschaftswunder und beschützt von der US-Army schärften wir unseren Blick für die Schalheit des Wohlstandes und die Unzulänglichkeit der westlichen Freiheit. Eine anti-ökonomische und anti-liberale Haltung wurde zum Standard, weit über die totalitären Maskenbälle der Studentengrüppchen hinaus.

Wer Gerechtigkeit für eine Verteilungsfrage und Freiheit für eine bürgerliche Ideologie hält, tut sich schwer, wenn der Wohlstand nicht mehr gegeben ist, sondern mit neuer Kraft neu geschaffen werden muss. Viele Babyboomer möchten gern davonlaufen, am liebsten zurück in den Wohlfahrtstaat der BAT-Bohemiens. Und wenn es draußen brenzlig wird, reagieren sie mit Wegsehen, Beschwichtigungsformeln und billigem Amerika-Bashing. Bitte nicht stören.

Fechten’s die Enkel besser aus? Nicht das ganze Land sei in Depressionen versunken, sagt Hans Magnus Enzensberger: „Ich kenne viele junge Leute, denen das Gejammer nicht passt, und denen die Unbeweglichkeit nicht passt.“ Beim Durchblättern unserer Leser-E-mails und auf Vortragreisen erhalten auch wir ständig Lebenszeichen von solchen kritischen Zwanzigjährigen, die den ängstlichen Zukunftspessimismus ihrer Väter und Mütter aufgekündigt haben. In vollkommener Verkennung der Lage werden sie von den Eltern oftmals für unpolitisch gehalten. Deshalb kommt dieser Teil der Jugend in der öffentlichen Wahrnehmung wenig vor, denn man sollte möglichst Attac-Demonstrant oder Peta-Aktivist sein, um in den von Babyboomern beherrschten Medien beachtet zu werden. Allensbach hat ermittelt, dass über die Hälfte der jungen Ostdeutschen der Freiheit den höchsten Wert zumisst und sie als Möglichkeit zu selbstverantwortlichem Handeln begreift. Doch der Schreck über die vom Ressentiment hochgespülten NPD-Dumpfbacken lässt den erheblich größeren Teil der jüngeren Leute weiterhin unsichtbar bleiben. Dabei sind sie viel spannender als die telegenen Klischee-Jugendlichen.

 

Erschienen in Die Welt vom 22.09.2004