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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Visionen
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Visionen

Hintergrund:
In Deutschland mangelt es an positiven Zu-kunftsentwürfen. Aber braucht man die überhaupt?

 

Ich hatte keinen Traum

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Zu Ostern waren die Titelseiten traditionsgemäß der Religion gewidmet. Bei mäßigem Feiertagswetter war Zeit zum Lesen, und so blieben auch wir am Thema Glauben hängen. Gemeinschaftlicher Glauben spielt ja nicht nur beim religiösen Bekenntnis eine Rolle, sonder auch im säkularen Diesseits. Brauchen offene Gesellschaften kollektive Sinnstiftung? Oder zeichnen sie sich gerade dadurch aus, auf solche geistigen Bindemittel verzichten zu können?

Liberale hegen einen gut begründeten Widerwillen gegen große verbindende Entwürfe. Sie wittern das ideologische Gift darin und denken stirnrunzelnd an die Irrwege des 20. Jahrhunderts. Doch das Jahrhundert bestand nicht nur aus totalitärer Verblendung. Auch im demokratischen Deutschland - und in anderen westlichen Gesellschaften – gab es Aufbrüche, die durch Ideen angespornt wurden. Und manche davon haben durchaus Gutes bewirkt.

Eine der erfolgreichsten Ideen hieß „Wohlstand für alle“. Sie löste eine unideologische Dynamik aus, die viele Menschen anspornte und Westdeutschland in eine wohlhabende Demokratie verwandelte. In Amerika sorgten Kennedys Weltraumziele für technologische Schübe und das Bewusstsein, Grenzen überwinden zu können. Heute spürt man solchen Optimismus, wenn man mit Menschen aus Schwellenländern wie Indien oder Brasilien spricht. Sie fühlen, wohin die Reise gehen soll. Das kleine und rohstoffarme Israel baut an einer Zukunft aus Informationstechnologie und High-Tech-Landwirtschaft. Die vermeintlichen Hinterwäldler in Neuseeland fiebern darauf, Hollywood etwas vom Kuchen der Filmwirtschaft abzujagen. Und wir? Vielleicht kommt die lähmende Verzagtheit in Deutschland auch aus diesem Mangel an mitreißenden Zielen und Zukunftsträumen?

Über die notwendigen ökonomischen Werkzeuge herrscht inzwischen große Einigkeit: Subventionsabbau, weniger Steuern, weniger Bürokratie. Regierung und Opposition streiten nur noch darum, wie heftig das Umsteuern ausfallen soll. Doch was wird, wenn diese oder die nächste Regierung die ökonomischen Reformen erfolgreich durchgesetzt haben? Geht dann der berühmte Ruck durch die Gesellschaft, oder gehört noch eine andere Schwungmasse dazu? Als letzte Woche der Kanzler zum großen Fernsehinterview antrat, beteuerte er, das Land sei in guten, ruhigen Händen: Kein Grund zur Sorge. Zum Thema Ziel und Richtung der Regierung sagte er nichts. Und was noch seltsamer war: die Interviewerin frage ihn nicht einmal danach.

Der Mangel hat auch eine außenpolitische Seite. Das amerikanische Ziel, die weltweite Ausbreitung der Demokratie zu unterstützen, wird in Deutschland als naiv belächelt, als frivole Gefährdung der Stabilität verdammt oder als zynische Tarnung wirtschaftlicher Interessen entlarvt. Kein Gedanke an die mögliche Leuchtkraft eines gemeinsamen westlichen Projekts.

Die Scheu ist verständlich, denn die Ziele der jüngsten Vergangenheit waren Strohfeuer. Das siebziger Jahre Projekt, den Sozialismus neu zu erfinden, sah schon im jugendlichen Stadium alt aus. Das achtziger Jahre Projekt, denn Weltuntergang abzuwenden, erwuchs aus Angst und beruhte auf falschen Prämissen. Die deutsche Einheit war kein gemeinsamer Traum sondern ein unverhofftes Geschenk, obendrein eines, das viele nicht haben wollten.

Die Skepsis vor neuen hehren Ziele und überdimensionalen Ideen ist berechtigt. Doch ohne eine positive Zukunftsvorstellung wird ein Aufschwung nicht zu erreichen sein. Keine Utopie, aber irgendeine realistische Idee von Fortschritt werden wir wohl brauchen. Sonst bleibt nur das Motto des Umweltministeriums vom letzten Bundestagswahlkampf: „Deutschland – Weltmeister im Aussteigen.“

 

 

Erschienen in Die Welt vom 30.3.2005