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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Schwierige Regierungsbildung
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Schwierige Regierungsbildung

Hintergrund:
Die Regierungsbildung nach der Wahl 2005 ist schwierig und zieht sich in die Länge.

 

Der kurze Sommer der Anarchie

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Der sonnige Oktober beleuchtet unser deutsches Jammertal auf ganz eigenartige Weise. Der Mensch ist mild gestimmt und bereits über das glücklich, was nicht passiert. Die Kolumnisten haben keine Herbst-Grippe bekommen, das Auto keinen Motorschaden und Gerhard Schröder keinen Friedens-Nobelpreis. Ist das nicht wunderbar? Außerdem haben wir seit drei Wochen keine neue Regierung. Und dieser Zustand wird uns immer sympathischer. Wir sind aufrichtig dankbar für jeden Tag, den er länger anhält.

Denn mal Hand aufs Herz: Müssen wir die Regierung wirklich vermissen, läuft was schlechter als vorher? Zückt George Bush jetzt den Colt, weil Friedens-Gerd ihm nicht mehr in den Arm fallen kann? Explodiert der Nahost-Konflikt, weil Joschka Fischers mahnende Stimme und sorgenumfurchte Stirn fehlt? Vermisst irgendjemand auf diesem Planeten Deutschlands ständigen Sitz im Welt-Sicherheitsrat? Verändert sich die Lage der Armen in den Entwicklungsländern auch nur im geringsten Jota, weil Heidemarie Wieczorek-Zeul ihre segensreiche Tätigkeit einstellt? Kann das Haushaltsdefizit ohne Hans Eichel wirklich größer werden als mit? Ist es tatsächlich ein GAUえーゆー, dass Jürgen Trittin jetzt selbst aussteigt? Werden wir ab sofort im Supermarkt vergiftet, weil Renate Künast sich die Entlassungspapiere abgeholt hat?

Nichts von alledem. Die Welt dreht sich gelassen weiter, sogar die Windkrafträder stehen nicht still. Deutschland und seine Institutionen funktionieren erstaunlich gut im quasi regierungslosen Zustand. Die Regale im Supermarkt sind voll, die Menschen gehen zur Arbeit und die Kinder zur Schule. Die Krankenhäuser arbeiten zuverlässig, die Polizei regelt den Verkehr und die Müllabfuhr erscheint pünktlich. Abends sitzen die meisten friedlich vor dem Fernseher und gucken Nachrichten. Und wenn Merkel, Schröder, Müntefering und Stoiber dort nicht ständig auftauchen würden, ja was wäre dann? Dann liebe Mitbürger, würde dieses Land womöglich ganz schnell vergessen, dass es keine Regierung hat. Und wer weiß, vielleicht würden die Menschen gar keine neue mehr wollen. Oder zumindest fragen: Wofür ist eigentlich eine Regierung da? Und wofür nicht?

Wofür nicht, das wurde uns bisher ja in ausreichendem Maße vorgeführt. "Vorgeführt" ist wörtlich zu nehmen, verbrachten die diversen Kabinettsmitglieder doch den größten Teil ihrer Zeit mit symbolischen Inszenierungen. Auf der Bühne wechselten sich Jobgipfel und Autogipfel ab, Bündnisse für Arbeit und Initiativen für Innovation. Im Orchestergraben feierten immer neue Räte und Expertenrunden Premiere. Beinahe wöchentlich wurde ein Thema zur "Chefsache" erklärt um in der nächsten Woche dann wieder sang- und klanglos zu verschwinden.

Wie wohltuend waren doch die vergangenen Wochen ohne solche Mätzchen. Auch konnten im Macht-Vakuum keine neuen Vorschriften und Gesetze gedeihen - die Kollateralschäden falsch verstandener Regierungsverantwortung. Mal ein kleines gedankliches Experiment: Was wäre, wenn unsere Regierung 2002 die Hände einfach in den Schoss gelegt hätte und nichts, absolut nichts getan hätte? Wäre die Lage des Landes wirklich schlechter? Wir haben da unsere Zweifel. Warum hat man beispielsweise die Republik mit Hartz IV erschüttert - nur um jetzt festzustellen, dass die Sache teurer kommt als die vorherige Regelung?

Woanders ist man da weiter. In Hongkong steht beispielsweise ein Denkmal für den Briten John Cowperthwaite - als Dank für regierungsamtliches Nichtstun. Der britische Kolonialbeamte lehnte jeden staatlichen Eingriff in das Wirtschaftsleben ab und bescherte den Chinesen lediglich ein paar ordentliche Gerichte, Vertragsrecht, ein paar einfache Gesetze und eine strenge, nicht allzu korrupte Polizei. Die Kronkolonie stieg daraufhin binnen einiger Jahrzehnte von einem der ärmsten zu einem der reichsten Länder der Welt auf. Im Mutterland Großbritannien verlief die Entwicklung in der Nachkriegszeit genau umgekehrt - dank allgegenwärtiger staatlicher Fürsorge. In der politischen Klasse herrscht ja gerade viel Getöse um "Verantwortung", die man nun übernehmen müsse. Gern wird auch zur Floskel gegriffen, man müsse den Bürger "abholen". Gerade so als handele es sich beim Volk um ein Kleinkind, das nicht alleine über die Strasse laufen kann. Nein, nein, nein: Politisch verantwortlich handeln heißt nichts anderes, als den Menschen möglichst viel eigene Verantwortung zu überlassen. Im kurzen Sommer der Anarchie konnten wir wenigstens einmal davon träumen.

 

 

Erschienen in Die Welt vom 12.10.2005