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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Glücksforschung
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Glücksforschung

Hintergrund:
Der amerikanische Autor Gregg Easterbrook hat ein Buch über die Widersprüche von Lebenswirklichkeit und Zufriedenheit geschrieben.

 

Das Fortschrittsparadox

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Erschienen am 23.12.2005 in DIE WELT

Die Tage der kollektiven Besinnlichkeit brechen an, überall breitet sich Harmonie aus und die Christen begehen ihr großes Freudenfest. Aber - darüber herrscht Einigkeit in Weihnachtpredigten und nachdenklichen Fernsehsendungen - man muss sich zu dieser Freude förmlich zwingen, entgegen der Einsicht in die bittere Realität, die so gar keinen Anlass zur Fröhlichkeit bietet. Heiligabend werden wir gemahnt, sollte unsere Gedanken auch bei den Bedrängten und Leidenden sein. Das ist nobel und gut so.

Falls es ihnen jedoch zu beschaulich wird und Sie etwas Schwung ins festlich geschmückte Wohnzimmer bringen möchten, dann hätten wir einen Tipp (wir haben ihn letztes Jahr ausprobiert): Behaupten Sie einfach, die Welt werde immer besser. Zunächst wird ein Stakkato der Katastrophen der letzten Monate auf sie einprasseln: Vogelgrippe, Irak, CIA, große Koalition, verregneter August. Dann wird einer der Älteren am Tisch erzählen, welches Unbill es zu seiner Zeit nicht gegeben hat: Mobbing, Stalking, dicke Kinder, Mobilfunkstrahlen, Schmuddel-TV und Hartz IV. Schließlich wird man Sie für komplett übergeschnappt halten, und ermahnen, dass Sie mit solchen albernen Provokationen den anderen das Fest verderben.

Wenn sie dann die Lage etwas beruhig hat, ziehen Sie ein Buch aus der Tasche und beginnen ein paar Passagen vorzulesen. Es ist das beste Sachbuch, das uns in diesem Jahr begegnet ist, "The Progress Paradox" von Gregg Easterbrook. Darin hat der amerikanische Wissenschaftsautor einen Berg von Daten zusammengetragen, mit denen er für so ziemlich alle Bereiche des menschlichen Lebens belegen kann, dass die Welt nun schon seit mehreren Jahrzehnten immer besser wird. Egal welcher Fortschritts-Indikator in ihrer munteren Weihnachtsrunde abgefragt wird, bei Easterbrook finden Sie ihn und können den aktuellen Sachstand in Relation zur Vergangenheit vortragen. Ob Krieg, Hunger, Analphabetentum, politische Unterdrückung oder Umweltverschmutzung. Alle großen Übel dieser Welt schrumpfen erfreulicherweise seit längerem. Immer weniger Menschen müssen darunter leiden. Und das gilt nicht nur für die alten reichen Staaten Europas und Nordamerikas, sondern global. Wenn Sie dann ein paar besonders beeindruckende Fakten über Lebenserwartung, Bildung, Ernährung vorgetragen haben, wenden sie sich nochmals dem nostalgischen alten Herrn zu. Fragen Sie ihn, in welcher Phase der Vergangenheit er gern zurückversetzt würde - allerdings für den Rest seines Lebens und nicht als Kurzbesucher, der nur eine Stippvisite mit der Zeitmaschine unternimmt. In das erste Viertel des 20. Jahrhunderts, wo die meisten Menschen sechs Tage die Woche von morgens bis abends in schmutzigen Fabriken schufteten und ein absurder Krieg ausbrach, der neun Millionen Menschenleben kostete? Im zweiten Viertel, als fanatische Diktatoren mehr als ein Drittel der Erde in Blut tränkten? Im dritten, als immer noch die Hälfte Europas ein Gefängnis war und die Raketenarsenale aus den Nähten platzen? Erst im letzten Viertel breitete sich Freiheit, Wohlstand und Toleranz gegenüber individuellen Lebensentwürfen aus. Doch diese Erfolggeschichte gehört nicht zum konventionellen Bewusstsein. Sie wird nicht in den Schulen vermittelt, nicht in den Familien erzählt, nicht in der Kunst thematisiert. Die Grundstimmung klingt Moll und wir starren auf jedes neu auftauchende Problem, als sei es King Kong persönlich. Lange Lebenserwartung, Wohlstand, Freiheit und Bildung erzeugen offensichtlich keine glücklichen Menschen, eher im Gegenteil. Dies ist keine deutsche Spezialität. Auch die Amerikaner, die hierzulande den Ruf frohgemuter Naivlinge haben, behaupten bei Umfragen mehrheitlich, alles würde immer schlechter und wir leben in einer Niederganszeit. Easterbrook versucht zu ergründen warum und bietet mehrere Erklärungsansätze. Einer davon lautet, dass Glücksgefühle wie Börsenkurse sind. Man bewertet nicht was ist im Verhältnis zu dem was war. Sondern man bewertet die Erwartung an die Zukunft. Die peinlich klingende aber wahre Erkenntnis, dass man in Entwicklungsländern mehr fröhliche Menschen trifft, hat darin ihre Ursache. Um die stilvolle Tristesse westlicher Kultureliten zu erlangen, muss man es erstmal zu Wohlstand gebracht haben.

Mit dem Easterbrook in der Tasche verfügen Sie übrigens über echtes Insiderwissen, denn kein Deutscher Verlag hat das Buch übersetzt. Wir lassen uns das Jammern nicht vermiesen. Frohes Fest!