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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Tschernobyl Opferstatistik
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Tschernobyl Opferstatistik

Hintergrund:
Angesichts des 20 Jahrestages der Atomkatastrophe von Tschernobyl ist ein Streit um die Zahl der Opfer ausgebrochen.

 

Weniger Tote? Nein danke!

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Erschienen am 12.04.2006 in DIE WELT

Stellen Sie sich einmal vor, sie seien Sachbearbeiter beim TÜV und für die Genehmigung von technischen Anlagen zuständig. Eines Tages kommt ein Unternehmer mit einem neu entwickelten Kraftstoff zu Ihnen, der unsere Abhängigkeit vom Öl verringern kann. Die Substanz ist unsichtbar, geruchlos und hochexplosiv. Und sie soll direkt in Deutschlands private Haushalte geleitet werden, um dort die Energieversorgung sicherzustellen. Würden Sie die Erfindung genehmigen? Wie viele Unfalltote wären nach ihrer Meinung im Umgang damit tolerierbar? Zehn pro Jahr? Zwei? Gar keiner? Wir vermuten, dass niemand die Verantwortung für eine solche Technologie übernehmen wollte. Und doch gibt es sie längst: Es ist die Rede von Erdgas. Bei Unfällen damit kommen nicht zwei oder zehn Menschen pro Jahr ums Leben, sondern weltweit viele Hundert.

Die Idee zu dieser kleinen Übung stammt von dem ABC-Fernsehjournalist und Buchautor John Stossel. Er machte seinem Publikum damit klar, wie rätselhaft die Wahrnehmung von verschiedenen Risiken oft ist. Erdgas hatte das Glück, sich als Energieform durchzusetzen, bevor die Angst vor neuen Techniken zur gesellschaftlichen Obsession wurde. Ähnliches gilt für Flüssiggas. 1978 verbrannten nach einer Tankfahrzeugexplosion 216 Menschen auf einem spanischen Campingplatz, 1989 kostete die Explosion einer sibirischen Flüssiggas-Leitung 600 Menschen das Leben. Beides ist längst vergessen. Sicherheitsmaßnahmen wurden verbessert, aber die Forderung nach einem generellen Abschied von der Gaskraft gab es zu keinem Zeitpunkt. Das Misstrauen gegen Großtechnologien bündelt sich stattdessen in einem Wort: Tschernobyl.

Anlässlich des 20. Jahrestages des Reaktorunfalls am 26.April ist nun ein merkwürdiger Streit über die Zahl der Opfer ausgebrochen. Worum geht es und welche Absichten werden damit verfolgt? Da wäre zunächst der offizielle Bericht des Tschernobyl-Forums. Dies ist eine wissenschaftliche Vereinigung aus UN-Organisationen (darunter IAEO, WHO, UNDP, UNEP) und der Regierungen der Ukraine, Weißrusslands und Russlands. Sie berichten von 56 Menschen, die bislang in Folge der Strahlung gestorben sind und befürchten, dass in den nächsten siebzig Jahren weitere 4000 hinzukommen könnten. Schlimm genug. Wobei solche Schätzungen immer problematisch sind, aber immerhin bewegen sich die Hochrechnungen der über 100 Wissenschaftler des Tschernobyl-Forums auf der Basis der einzig verfügbaren Erfahrungen - nämlich der von Hiroshima und Nagasaki. Dennoch wird ihnen jetzt von Anti-Atomkraft-Aktivisten,Politikern und Medien Verharmlosung und Vertuschung vorgeworfen.

Man hat fast den Eindruck, es können gar nicht genug Opfer sein. Führende Köpfe von SPD und Grünen kolportierten Zahlen von 100 000 Toten, Greenpeace 93 000, die Aktivisten der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) steigerten auf 264 000 Tote, der britische "Guardian" raunte gar von 500 000 Toten. Die zum Jahrestag aus dem Hut gezauberten Gegenschätzungen variieren in einer Spannbreite, die alleine schon misstrauisch macht.

Es geht bei der Auseinandersetzung auch nicht um das Ausmaß des menschlichem Leids, sondern um die Definitionsmacht: War Tschernobyl wirklich eine Katastrophe von apokalyptischer Dimension, ein "Pompeji des Atomzeitalters" (Der Spiegel)? Oder handelte es sich um eine schwere, aber keineswegs einmalige Industriekatastrophe - vergleichbar etwa dem Chemieunfall von Bhopal? Im ersteren Fall würde sich wohl jede weitere Diskussion über die Atomkraft erübrigen. Im zweiten Fall könnte man wieder rational Risiken verschiedener Energietechnologien abwägen. Denken wir nur an die über 6000 Kohlekumpel, die jährlich (!) alleine in chinesischen Gruben sterben - von den langfristigen gesundheitlichen Folgen der staubigen Arbeit einmal ganz abgesehen. Oder an jene 26 000 Opfer, die 1975 in der Provinz Henan bei zwei Staudammbrüchen umkamen. Ein Pompeji der Wasserkraft.