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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Computer-Inder
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Computer-Inder

Hintergrund:
Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte im Frühjahr 2000 mit seiner Greencard-Initiative eine Debatte über die Zuwanderung indischer Computerfachleute ausgelöst.

 

Die Deutschen sind die Dummen

von Dirk Maxeiner

Welcher Dichter und Denker hätte das gedacht: Erstmals soll ein Land der dritten Welt Entwicklungshelfer nach Deutschland schicken. Bis zu 30.000 indische Computerspezialisten werden benötigt, um zurückgeblienenen Teutonen beim Umgang mit dem binären Code zu helfen (er besteht aus den Zahlen 0 und 1). Auf dem indischen Subkontinent absolvieren jedes Jahr 176.000 englischsprachige Graduierte wissenschaftlich-technische Institute — nur 3000 weniger als in den USA. Es formiert sich die zweitgrößte Gemeinschaft englischsprachiger Wissenschaftler außerhalb der Vereinigten Staaten. In Indien werben mittlerweile 180 Software-Colleges um Studenten — in Deutschland keines. Die eingeborenen Teutonen und ihre Stammesfürsten sitzen jedoch weiter auf ihren hohen Rössern und betrachten die Welt von oben herab. Ansonsten wundern sie sich.

Die Grünen, weil sie 1986 auf ihren Parteitagen einen kompromisslosen Computer-Boykott beschlossen hatten. Gratulation: Der heroische Widerstand gegen die elektronische Unterjochung war zumindest in pädagogischer Hinsicht erfolgreich. Es ließen sich genügend junge Menschen von einem Ingenieurs- oder Informatik-Studium abhalten (bedauerlicherweise aber nicht in Indien). Wenn es nach den Grünen gegangen wäre, gäbe es kein Internet und auch kein Silicon-Valley. Das nennen sie Vorsorge-Prinzip. Und weil man jungen Leuten weiterhin den Weg weisen muß, fordern sie heute ein Ende der Gentechnik: "Das Festhalten an riskanten und unproduktiven Techniken muß beendet werden" ("Grün ist der Wechsel", Programm zur Bundestagswahl 1998). Au fein, die Inder finden das echt klasse.

Die Sozialdemokraten wundern sich, weil sie die Rechnung wohl ohne den Wirt gemacht haben. Sie wollen nach gutem kolonialem Brauch eine befristete "Greencard" einführen. Und sie glauben allen ernstes, daß intelligente Menschen draußen in der Welt nur darauf warten, für deutsche Übermenschen ein paar Jahre als Wasserträger zu malochen, um dann wieder nachhause geschickt zu werden. Die wollen aber dauerhaft Karriere machen und Startup-Unternehmen gründen — womit die sozialdemokratische Generosität gegenüber diesen potentiellen Scheinselbstständigen an ihre Grenzen stoßen dürfte.

Auch die Gewerkschaften und der deutsche Arbeitnehmer wundern sich: Das Werben um ausländische Arbeitskräfte lässt sich plötzlich nicht mehr mit dem Hinweis auf Lohndumping erledigen. Die indischen Programmierer werden wegen ihrem Können umworben. "Wir stellen schon heute für unsere Leistungen Weltmarktpreise in Rechnung, ohne daß das unsere Kunden abschreckt," heißt es der indischen Computer-Metropole Bangalore.

Ganz besonders wundern sich die CDU und ihre Anhänger im Unternehmerlager — und zwar über ihren ehemaligen Zukunftsminister. Der folgert messerscharf: Die Deutschen sind die Dummen. Das stimmt sogar. Doch lässt sich das Problem nicht lösen, indem man die Intelligenz fernhält. Dennoch befragt er das Volk jetzt in der besten Tradition des rheinischen Karnevals: "Wolle mer se reinlasse?" Ein torkelndes Narrenschiff in den Stürmen der Globalisierung.

Die wachstumsgierigen und kapitalhungrigen Dritteweltstaaten und Schwellenländer in Asien und Osteuropa haben den erneuerbaren Rohstoff der Zukunft entdeckt: Köpfchen. Viele hundert Millionen Menschen warten nur darauf endlich Zugang zu Bildung und Information zu erhalten. Die neuen Technologien werden diesen Prozess beschleunigen. Die "Intelligenz der Habenichtse" (McKinsey-Chef Herbert Henzler) ist auf dem Weg zur Weltmacht. Gegen das allesdurchdringende Medium "Brainpower" helfen keine Dämme mehr, wie gegen billige Textilien oder Rattanmöbel. Ein alter Traum der Dritte-Welt-Bewegung wird wahr (allerdings ganz anders als es geplant war). Während wir die "Computer-Inder" unverdrossen mit der Arroganz des barmherzigen Samariters wahrnehmen, beginnen diese uns als etwas skurile europäische Eingeborene zu belächeln. Man stelle sich ein Land vor, in dem "Fortschrittsglaube" ein Schimpfwort ist!

Wissenschaft und Technik blühen auf und werden in den aufstrebenden Ländern des Südens für positive und erstrebenswerte Attribute einer Gesellschaft gehalten. Mit Erfindungsreichtum, Kreativität und Motivation beginnen die Menschen dort die Zukunft zu erobern, während man sich hierzulande damit begnügen will, uns vor den Schrecken der Zukunft zu bewahren. Und zwar unisono: Die letzten Wahlprogramme von SPD, Grünen, CDU und PDS machen sich allesamt ein Denken in Grenzen zu eigen (die FDP bildet diesbezüglich eine Ausnahme). Wissenschaft und Technik kommen als notwendiges Übel oder als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vor. Aber bloß keine Begeisterung! Von urmenschlicher Neugierde, natürlichem Forscherdrang und unbedingten Wissenwollen ist schon gar keine Rede. Windrädchen drehend beabsichtigen wir den drohenden Katastrophen zu entkommen und verwechseln die Zukunft mit einer Energiesparvariante der Gegenwart.

Doch der nachwachsende und obendrein gänzlich abgasfreie Treibstoff von morgen heißt — wie gesagt — Köpfchen. Und ausgerechnet diese Ressource wird hierzulande knapp. Dies ist eine besonders verhängnisvolle Form der Energiekrise und zur Bestürzung aller hilft kein Fahrverbot. Es fehlt in Deutschland ja nicht nur an Computerfachleuten. Die Zahl der Studienanfänger in den Ingenieurswissenschaften hat sich seit Anfang der 90er-Jahre halbiert, gute Biotechnologen werden mit der Lupe gesucht, junge Physiker gehören zu einer bedrohten Art. Ein Glück, daß die anderen es wissen wollen.

 

Erschienen in Die Welt vom 6.4.2000