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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Transatlantisches Verhältnis
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Transatlantisches Verhältnis

Hintergrund:
Vor und während des Irakkrieges schwappt eine Welle des Nationalismus durch Deutschland. Die Verachtung Amerikas eint rechts und links, alt und jung und verdrängt für eine Weile die Zukunftsängste der Gesellschaft.

 

Deutschland allein zuhaus'

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Als unser Kanzler in Goslar den totalen Frieden ausrief, brauste der Applaus aus der Harzer Fachwerkidylle über das ganze Land. Die Regierung der Dichter- und Denkernation setzte ein lang ersehntes Zeichen gegen die Hinterwäldler in Washington. Andere Europäer waren nicht ganz so begeistert, schließlich hatte Schröder gerade die Möglichkeit einer gemeinsamen Außenpolitik zertrümmert. Aber die Deutschen hatten ja eine schwierige Kindheit. Unsere Nachbarn und Freunde in der Welt beobachten die Regression deshalb mit Milde. Sie haben beschlossen, uns nicht allzu ernst zu nehmen. Nicht mal richtig aufregen will sich irgendjemand. Jacques Chirac zog sich den Groll der enttäuschten Briten und Amerikaner zu. Das deutsche Engagement für den Weltfrieden wurde hingegen ziemlich ungerührt zur Kenntnis genommen. Keine ernsthafte Boykottdrohung, nirgends. Die Amis kaufen weiter Mercedes und Porsche als sei nichts geschehen.

Doch das wird ihnen nichts helfen. Nur noch elf Prozent der Bevölkerung betrachten Amerika als besten Freund (Allensbach). Zwei Drittel assoziieren den Begriff "Amerikaner" mit "hochmütig", jeweils 54 Prozent mit "rücksichtslos" und "gewalttätig". Eigentlich schade das Erich Honecker das nicht mehr erleben darf. Sein Ostfernsehen hat die Amis schon immer richtig dargestellt, jetzt zieht der Westen nach. Die Insel der Seeligen und das Tal der Ahnungslosen wachsen zusammen. Eine unschlagbare Kombination. In einem Brief an ein irakisches Kind, den er für eine Boulevardzeitung verfasste, schrieb der Liedermacher Konstantin Wecker: "Bald schon kannst Du lernen, was der Westen unter Freiheit versteht. Du kannst schon bald die neuesten Schwarzenegger-Filme sehen, Hamburger kaufen, Videokriegsspiele spielen und CNN und MTV empfangen." Er vertritt damit keine Außenseiterposition. Dass westliche Werte außer mit Hamburgern auch etwas mit individueller Freiheit, Demokratie und "rule of law" zu tun haben könnten, dass sie womöglich verteidigenswert sind und worin der Unterschied zum Totalitarismus besteht - dies klingt zur Zeit weitaus weniger populär als Weckers Weltsicht.

Die Literaten Günter Grass (76) und Martin Walser (76) sind genauso stolz auf Deutschland und seine Regierung wie jugendliche Pace-Fahnenschwenker. Sogar in bayrischen Schulen wurden vom Lehrkörper Friedensketten verordnet. Das vorbestellte Regionalfernsehen übertrug die spontanen Demonstrationen dann abends in die Wohnzimmer der ergriffenen Eltern. Vergesst Pisa. Wissenslücken werden durch Gesinnung ersetzt. Auf dem Felde der Moral sind wir Weltspitze. Und endlich darf man den Nationalgefühl auch als linker Bildungsbürger so richtig raushängen lassen. Wer in Schwabing, Bockenheim oder am Prenzlauer Berg in den letzten Wochen die Ohren aufmachte, hörte immer wieder den gleichen Satz: "Zum ersten mal im Leben bin ich stolz ein Deutscher zu sein." An der Spitze aller Sachbuch-Bestsellerlisten rangieren ein halbes Dutzend Werke, die davon überzeugt sind, dass Amerika von gewaltsüchtigen Volltrotteln regiert wird. Darüber sind sich Todenhöfer, Scholl-Latour und Möllemann völlig einig.

Deutschland allein zuhaus: Das neue Nationalgefühl schwankt zwischen moralischer Überheblichkeit und kindlichem Trotz. Wirte streichen Coca Cola von der Karte und ein Darmstädter Fahrradhersteller boykottiert seine amerikanischen Zulieferer. Kauft nicht beim Amerikaner, meint auch Berlins Erzbischof Sterzinsky. Und der Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage warf die amerikanischen, britischen, spanischen und italienischen Vertreter, also jene der "kriegsführenden Staaten" aus seiner Anfang Mai stattfindenden Veranstaltung hinaus. Was den Publizisten Burkhard Müller-Ulrich zu der Einschätzung veranlasste: "Jetzt macht man die Türen zu und zeigt der Welt, worin die deutsche Strategie auf dem Weg zum Frieden besteht: Nichts hören, nichts sehen, aber viel sagen." Und zwar in Klartext und auf Deutsch. Vorbei die Zeit als Businesspeople und Teens Inhaltslosigkeit mit nervigen Anglizismen aufblähten. Nun heißt es wieder: "Stoppt die Amerikanisierung unsere Sprache und Kultur." In Weimar klebt diese Parole an vielen Laternenmasten.

Der schnelle und durchschlagende Erfolg der Renationalisierung hängt mit der Richtung zusammen, aus der sie kommt. Wenn Helmut Kohl versucht hätte, die gleiche Stimmung zu erzeugen, dann hätten die Leitmedien (besonders das öffentlich rechtliche Fernsehen) nicht mitgespielt. Leitkultur? Pfui, Pickelhaube! Deutscher Weg? Klingt irgendwie moralisch hochwertig. Dass gerade die Linke den Nationalismus für sich besetzt, ist allerdings weder neu noch typisch deutsch. Beide Hauptströmungen der Arbeiterbewegung waren immer dann erfolgreich, wenn sie den marxistischen Internationalismus über Bord warfen. Dass gilt sowohl für den Kommunismus, der nur dort die Massen begeisterte, wo er als nationale Befreiungsbewegung auftrat. Als auch für die Sozialdemokratie: Von Bebel bis Brandt nutzten alle großen Sozialdemokraten die vaterländischen Gefühle der deutsche Arbeiterklasse. Auch der linke Nationalismus von heute kam nicht erst im Vorfeld des Irakkrieges hoch. Die Globalisierungsgegner hatten die jetzt lodernden Gefühle seit Mitte der neunziger Jahre angefacht. Ihr Ruf nach Protektionismus und Abschottung, ihre Beschwörung einer angeblich drohenden "McDonaldisierung" der Welt führte direkt in den "Deutschen Weg". Das Führungspersonal von SPD und Grünen hatte den richtigen Riecher für diese Stimmungslage. Nun berauscht man sich an der vorgeblich neu gewonnenen nationalen Souveränität und sucht neue Freunde in Moskau und Peking. Joschka Fischer wirkt in Interviews ganz ergriffen von der Bedeutung einer kommenden "multipolaren Weltordnung" und ist fest entschlossen sich "den großen Menschheitsfragen" zu widmen. Das macht viel mehr Spaß als die Niederungen von Arbeitslosigkeit und Gesundheitsreform. Schließlich ist der Weltuntergang nah.

Dass irgendetwas besser werden könnte, erwartet hierzulande sowieso niemand mehr. In Sachen Pessimismus macht uns kein Volk der Erde etwas vor: Laut einer aktuellen internationalen Gallup-Umfrage blicken nur 13 Prozent der Bundesbürger mit Optimismus in die Zukunft. Der Glaube an die Fähigkeit offener Gesellschaften Probleme zu lösen, ist in Deutschland verloren gegangen. Dies ist der vielleicht fundamentalste Gegensatz zu Amerika. Die Vereinigten Staaten sind zukunftsfähig, weil der Glaube an die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln und zu verändern dort weit verbreitet ist. Die Deutschen dagegen haben dieses demokratische Grundvertrauen irgendwann zwischen "Waldsterben" und "Klimakatastrophe" aufgegeben. Einer der schärfsten Vorwürfe gegen das Eingreifen der USA im Irak lautet, die arabisch-islamische Welt würde dadurch destabilisiert. Daraus spricht der sehnliche Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden. Was ist im vergangenen halben Jahrhundert nicht alles schon durch Destabilisierungen passiert: Das Ende der Kolonialreiche, der Zusammenbruch des Kommunismus, der Zerfall Jugoslawiens. Wir aber möchten bitteschön in friedlicher Koexistenz mit Despoten und Hasspredigern unseren Müll trennen. Eine älter werdenden Gesellschaft und eine müde gewordenen kulturelle Elite ziehen sich hinter die Wärmedämmung der Goslarer Fachwerkhäuschen zurück. Ihre maximale Zukunftsvision ist die Einführung des Dosenpfandes. Bedauerlicherweise lauern draußen vor der Tür 1,2 Milliarden äußerst optimistischer Chinesen. 54 Prozent von ihnen glauben laut Gallup-Umfrage, die Zukunft werde besser als die Gegenwart. China ist die optimistischste Nation der Welt.

Unlängst kam erstmals eine Gruppe Chinesen aus der Volksrepublik als Pauschaltouristen nach Deutschland. Sie freuten sich darauf, hier endlich mal Transrapid zu fahren, weil der zuhause in Shanghai immer ausgebucht ist. Zu ihrer grenzenlosen Verblüffung mussten sie dann feststellen, dass es hierzulande gar keinen Transrapid gibt. Deutschland hat sich nämlich nicht nur von einer ernst zunehmenden Rolle in der Weltpolitik verabschiedet, sondern auch vom Fortschritt. Die Bundesregierung lobte sich vergangenes Jahr allen ernstes mit einer Anzeigenserie unter dem Motto "Weltmeister im Aussteigen". Jede neue Technik wird umgehend blockiert, wenn ein Risiko nicht vollkommen ausgeschlossen werden kann. Dies nennt man Vorsorgeprinzip. Ganz anders jedoch bei arabischen Diktatoren. Für Saddam Hussein gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung. Auch die Tatsache, das er bereits tausende von Menschen umgebracht hat, genügt nicht um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Saddam wird hierzulande erst gefährlich, wenn er als Spielzeugpuppe aus PVC auf den Markt kommt.

Angst vor der Zukunft herrscht allenthalben: Mit absurden Argumenten wird die grüne Gentechnik seit über zehn Jahren politisch abgewürgt. Obwohl Landwirte von Indien bis Argentinien auf Zig-Millionen Hektar die verbesserten Nutzpflanzen anbauen, ohne dass irgend ein Mensch daran Schaden nahm. Führende Stammzellenforscher brauchen in Deutschland sogar Personenschutz. In München wartete der modernste Forschungsreaktor der Welt (FMR 2) seit Jahren auf die Betriebsgenehmigung durch den Bundesumweltminister. Kosten des Leerlaufs: 125 000 Euro pro Tag. In diesen Tagen wurde die Blockade endlich aufgehoben - nicht wegen höherer Einsicht, sondern weil in Berlin die juristischen Obstruktionsmittel ausgegangen sind. Deutsche und ausländische Spitzenforscher packen ihre Koffer und ziehen in forschrittsfreundlichere Weltregionen. Die rare Intelligenz emigriert mangels Perspektiven - ein Übel, das normalerweise Entwicklungsländern plagt. Der letzte macht das Licht aus.

Die erste im Wirtschaftswunder aufgewachsene Generation nähert sich der Frühpension und scheint entschlossen die ganze Nation dorthin mitzunehmen. Internationaler Wettbewerb? Nein danke! Während die bösen Amerikaner in den WTO Verhandlungen im März auf einen schnellen Zollabbau für landwirtschaftliche Produkte aus Entwicklungsländern drangen, sperrt sich die EU, allen voran die im Umgang mit Kolonien erfahrenen Franzosen. Irrwitzige Zölle verhindern beispielsweise, dass der Zucker aus der Karibik bei uns verkauft werden kann. Dieser knallharte Protektionismus auf Kosten der Armen wird dann an der Heimatfront als heroischer Kampf um die kulturelle Identität französischer Weichkäse und deutscher Schwarzbrote verbrämt. Auch der Gedanke an Freizügigkeit für Polen, Ungarn und Tschechen versetzt die Menschen westlich der Oder in Angst und Schrecken. Die Horrorszenarien der Grenzlandschützer künden von einer Flut fleißiger Handwerker, die womöglich bezahlbare Dienstleistungen anbieten. Noch auf Jahre hinaus soll ihnen die Arbeitserlaubnis verweigert werden.

Weil die Menschen im neuen Europa sich noch gut an den Totalitarismus erinnern, stehen sie zum Entsetzen des alten Europa auf Seiten der Amerikaner. Weshalb Jacques Chirac ihnen bereits ausgerichtet hat, sie sollten besser die Klappe halten (was zeigt, dass ein französischer Chevalier auf deutlich höheren Rössern sitzen kann, als jeder texanische Cowboy). Schröders neuer Nationalismus hat jedoch mit Chiracs imperialen Größenphantasien wenig gemein. Vielmehr transportierte er auf seinem "Deutschen Weg" Wunschbilder der Friedens- und Ökobewegung der achtziger Jahre an die Spitze der Gesellschaft. Das neue deutsche Nationalgefühl wirkt nur deshalb so seltsam unvermittelt und überraschend, weil die Ideen- und Milieugeschichte seiner Protagonisten hinter einer euphemistischen Nebelwand verborgen liegt. Führende Sozialdemokraten repräsentiert eine Generation, die den linken Anspruch auf Fortschritt und Veränderung gegen eine grüne Kreislaufphilosophie eingetauscht hat, die sich die Zukunft nur noch als Energiesparvariante der Gegenwart vorstellen kann. Die Leitmotive der Regierungspolitik sind daher sehr grün und kaum rot. Die grüne Weltanschauung ist jedoch nicht so arglos und geschichtslos, wie sie sich selbst gern stilisieren. Ihre Wurzeln reichen tief. Sie gehen zurück zu Wilhelm Heinrich Riehl und Ludwig Klages, zur Heimatschutzbewegung und den Lebensreformern des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Diese romantischen Strömungen waren stets antimodern, antiwestlich und stramm national (manchmal auch antisemitisch). Daran hat auch die Blutauffrischung durch junge Linksradikale in den siebziger Jahren nicht viel geändert. Im Gegenteil: Gemeinsame Feindschaft gegen Amerika förderte ein schnelles Zusammenwachsen der alten und neuen Grünen. Im Verlauf des vergangene Vierteljahrhunderts hat der grüne Geist in verdünnter Form die aufstrebenden Elite in Schulen, Kirchen, Kulturbetrieb, Medien, Verwaltung und Sozialwesen erfasst. Im Laufe ihrer Karrieren mussten sie erleben, wie ihre Wunschbilder an der Realität scheiterten. Durch die nationale Moralaufwallung gegen Amerika und seine Verbündeten holen sich diese Eliten nun ein wenig verlorenen Halt zurück. Doch wer Freiheit und Wandel mehr fürchtet als alles andere, dem hilft auch keine Lichterkette.

 

Erschienen in LITERARISCHE WELT vom 26.04.03