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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Welthandel
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Welthandel

Hintergrund:
In Mexiko beginnt die Welthandelskonferenz. Entwicklungsländer fordern bessren Zugang zu den Agrarmärkten Europas und Nordamerikas.

 

Mehr Manchestertum!

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Es war einmal eine Weltmacht, die schützte ihre wohlhabenden Gutsbesitzer gegen Getreideimporte aus Übersee. Das Land besaß eine florierende Industrie und war viel reicher als die Länder, aus denen das Billiggetreide kam. Doch die Agrarier besaßen eine starke Lobby und sorgten dafür, dass ihr nationaler Absatzmarkt vor der billigen Konkurrenz abgeschottet wurde. Auf ihren Druck hin verhängte die Regierung drastische Kornzölle, die Importe aus ärmeren Ländern draußen hielten. Das Brot im Inland blieb teuer und die Bauern aus Übersee wurden vom Markt ausgesperrt. Obendrein subventionierte die Regierung den Getreideexport, womit sie den Bauern in den ärmeren Nationen zusätzlichen schweren Schaden zufügte.

Doch dann ließen Missernten den Brotpreis in bedrohliche Höhe schnellen, weil die Knappheit nicht durch billige Importe kompensiert werden durfte. Gegenwind kam auf. Die Industriearbeiter wurden wütend, weil das Brot künstlich teuer gehalten wurde. Zwei Industrielle, Richard Cobden und John Bright, setzten daraufhin eine Massenbewegung gegen den Agrarprotektionismus der Oberschicht in Gang. Nach jahrelangen Protesten lenkte die Regierung schließlich ein und schaffte die Kornzölle wieder ab. Der Brotpreis sank. Für einige Jahre herrschte fairer Wettbewerb auf dem Weltmarkt: Die ärmeren Länder wurden nicht mehr ausgeschlossen.

Die Auseinandersetzung um das "Corn Law" fand vor zweihundert Jahren in England statt. Freihandel war damals ein soziales und ein moralisches Ziel. Er ist es heute noch. Denn auch heute leiden besonders die Armen unter dem Protektionismus. Der Kampf gegen die staatliche Bevorzugung der englischen Gutsbesitzer erfuhr jedoch im Laufe der Geschichte eine erstaunliche Umdeutung. Die beiden liberalen Revolutionäre Cobden und Bright stammten aus Manchester. Der deutsche Sozialist Ferdinand Lassalle prägte später das Wort "Manchestertum" als Synonym für "herzlosen Kapitalismus". Dass die Kapitalisten Cobden und Bright eine proletarische Massenbewegung für Chancengleichheit und gegen Privilegien anführten, geriet in Vergessenheit. Das Schmähwort "Manchestertum" wird bis heute von Nationalisten und Linken gern benutzt und dient insbesondere in Deutschland dazu, Forderungen nach einer wirklich freien Marktwirtschaft von vornherein zu diffamieren.

Auch bei den Protesten anlässlich der WTO-Verhandlungen im mexikanischen Cancún dürfte das Manchestertum wieder fälschlicherweise bemüht werden. Durch ständige Wiederholung wird diese Verdrehung der historischen Tatsachen aber nicht richtiger. In Wahrheit weist die Auseinandersetzung um das "Corn Law" in Manchester verblüffende Parallelen zur Agrardebatte von Cancún auf. Gespannt blicken wir in diesen Tagen nach Mexiko: Wird es den Industriestaaten noch einmal gelingen, ihre Märkte gegen die ärmeren Länder abzuschotten? Wird die europäische und nordamerikanische Landwirtschaftslobby weiterhin fairen internationalen Wettbewerb verhindern?

Würden sich in Cancún Manchester-Liberale durchsetzen, müssten die reichen Industriestaaten endlich ihre unfairen Zölle senken und damit aufhören, durch die Subventionierung ihrer eigenen Agrarprodukte den weltweiten Wettbewerb zu verzerren. Über 300 Milliarden Dollar an Steuergeld könnten in den reichen OECD-Ländern eingespart werden, würde in der Landwirtschaft die Marktwirtschaft eingeführt. Die Verbraucher könnten Zucker aus der Karibik und feinstes Rindfleisch aus Argentinien preisgünstig erwerben und die Bauern in den armen Ländern des Südens wären endlich gleichberechtigte Partner im globalen Wettbewerb. Durch faire Handelsbedingungen, sagte Heidemarie Wieczorek-Zeul vergangenen Montag dieser Zeitung, könnten bis zum Jahr 2015 etwa 144 Millionen Menschen aus der allerschlimmsten Armut herausgeholt werden.

In Cancún fallen historische Entscheidungen, die viele Millionen Menschen betreffen. Die Chancen stehen gut, dass Cancún als der Ort in die Geschichte eingeht, wo Europas und Nordamerikas Agrarfestungen erstmals Risse zeigten. Hoffentlich schaffen die Bauern aus Afrika, Asien und Südamerika es diesmal, die Tür für den Freihandel zumindest ein Stück weit zu öffnen. Wünschen wir ihnen, dass sie sich gegen Agrarprotektionisten und Globalisierungsgegner durchsetzen. Richard Cobden und John Bright haben gezeigt, dass es geht. Manchester lebe hoch.

 

Erschienen in Die Welt vom 10.09.03