(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Naturwahrnehmung
The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20080607025235/http://www.maxeiner-miersch.de:80/standp2005-10-26a.htm
Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Naturwahrnehmung

Hintergrund:
Viele Menschen fürchten sich vor einem drohenden Ausbruch der Vogelgrippe.

 

Angst vor Vögeln

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Wie sie so von der Seite gucken und aufdringlich watschelnd Futter einfordern. Auf einmal sehen Enten bedrohlich aus. Von Tauben ganz zu schweigen. Die Apokalypse gurrt, schnattert und gackert. Völlig unabhängig davon ob eine ernsthafte Gefahr besteht, oder nur mal wieder ein Hype, ändert sich der Blick auf die Gefiederten. Plötzlich gibt es wieder gefährliche Tiere. Bis vor kurzem war das noch ganz anders. Wenn man nicht gerade Schäfer war, hatten Wolf, Luchs und Bär ihren Schrecken verloren. Füchse im Vorgarten? Süüüüß! Auf meinem Trockenrasenbiotop lebt eine Kreuzotter. Respekt! Bedrohliche Natur, das gab es höchstens noch in Form von Stürmen, Überschwemmungen, Erbeben. Aber auch die sind eigentlich nicht der Natur anzukreiden. Denn wie wir alle wissen, stecken fast immer die Amerikaner dahinter, oder der westliche Lebensstil. Aber Tiere? Seit einem halben Jahrhundert sind Tiere grundsätzlich nicht mehr bedrohlich sondern bedroht. Könnte das Virus nicht in einem CIA-Labor entstanden sein? So was ist doch nicht natürlich. Am besten mal bei Google nachschauen. Dass die armen Hühner in den Stall sollen, da steckt doch die Bauernlobby dahinter ...

Dummerweise kann aber kein Mensch verantwortlich gemacht werden. Die Vogelgrippe ist ein Produkt der Natur. Und ihre Überträger ebenso. Sie befällt nicht nur das Käfighuhn, sondern auch die Nachtigall. Gäbe es keine Menschen, es gäbe dennoch Vogelgrippe.

Solche Erkenntnis kann Weltbilder erschüttern. Aber auch Weltbilder werden alt und durch nachwachsende Weltbilder abgelöst. Wir haben uns mal unsere alten Kinderbücher angesehen. Die waren ziemlich politisch unkorrekt und "öko" schon gar nicht. Der Leopard: heimtückisch. Die Hyäne: feige. Der Wal: ein tumber Gigant, aus dem man Lebertran macht. Womöglich wollte unsere Generation die Wale retten, weil wir alle mit Lebertran gequält worden sind. Rettet die Wale und gebt den Kindern endlich süßen Multivitaminbrei! Der Unterwasserfilmer Hans Hass, der später ein großer Naturschützer wurde, verflucht in seinen frühen Filmen die Hässlichkeit und Bosheit mancher Fische. Fast alle Gründer des WWF waren begeisterte Großwildjäger.

Der milde und besorgte Blick auf die Tierwelt ist noch ganz frisch, ein Zeichen zivilisatorischen Fortschritts. Erst war uns das Tier Dämon, dann Gefahr für Leben und Vorräte, später Ressource und heute Adressat liebevoller Zuwendung. Der Aufstieg der Menschheit verläuft vom Keulen schwingenden Höhlenmenschen zum Krötenretter. Ohne wachsenden Wohlstand hätte es diesen Fortschritt nicht gegeben. Hungernde retten keine Kröten. Nun werden wir wieder daran erinnert, dass Tiere auch unheimlich sein können - und lebensgefährlich. Werden wir nach dreißig Jahren Ökogesäusel nun etwas realistischer?

Es gibt erste Hinweise darauf, dass dies so sein könnte. Zum Beispiel Werner Herzogs Film "Grizzly Man", der das Leben des "Bärenverstehers" Timothy Treadwell schildert. Er wurde im Jahr 2003 von einem Bären getötet und verspeist. Treadwell glaubte an das Gute im Bären. Doch den Bären war das schnurz. Sie wussten schlicht und einfach nicht, dass einer an was glauben kann. Sie dachten, ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch - meistens uninteressant, manchmal gefährlich, aber notfalls immer auch schmackhaft. Herzogs Film thematisiert die Heiligung der Tiere durch Menschen wie Treadwell, der nur auf die Spitze trieb, was in Europa und Nordamerika längst Volksmeinung ist. Diesen Konsens repräsentiert Luc Jacquets Erfolgs-Film "Die Reise der Pinguine". Die Natur als moralische Anstalt, so haben wir es verinnerlicht seit uns Bernhard Grzimek in "Serengeti darf nicht sterben" erzählte, dass Löwen sich im Gegensatz zu Menschen nicht gegenseitig umbringen. Er konnte es nicht besser wissen, denn damals hatte noch kein Forscher beobachtet, wie ein neuer Rudelpascha die Junge seines Vorgängers auffrisst. Natürlich sind auch Jacquets Pinguine Engel und keine Tiere. Zoologen ist durchaus bekannt, dass das es im Sexualleben der Pinguine auch nicht manierlicher zugeht als bei VW-Managern.

Natur ist kein moralischer Maßstab. Die Idealisierung der Tierwelt durch Veganer ist zwar harmloser aber genauso falsch wie einst die Verklärung ihrer Rücksichtslosigkeit durch die Sozialdarwinisten. Wie sagte der britische Biologe Richard Dawkins so schön: "Wenn wir die Zukunft des Planeten sichern wollen, müssen wir zuallererst aufhören uns Rat in der Natur zu holen."

 

 

Erschienen in Die Welt vom 26.10.2005