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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Bundespräsidentenwahl
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Bundespräsidentenwahl

Hintergrund:
In den deutschen Medien wird heftig diskutiert, wer geeignet sei, bei der Wahl des Bundespräsidenten im Jahr 2004 zu kandidieren.

 

Revolutionäre gesucht

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

"Mein Leben ist meine Botschaft," sagte Mahatma Gandhi. Wir müssen in jüngster Zeit öfter an diesen Satz des indischen Freiheitskämpfers denken, wenn die Namen für das Amt des nächsten deutschen Bundespräsidenten gehandelt werden. Welche Botschaft haben sie gelebt? Die der meisten Kandidatinnen und Kandidaten lautet: Als Parteipolitiker kann man es in Deutschland weit bringen und im fortgeschrittenen Alter ganz oben ankommen. Man sollte Konflikte meiden, stets allseits abgesicherte Mittelpositionen einnehmen, und möglichst häufig das "Wahre, Schöne, Gute" im Munde führen.

Nun soll der nächste Bundespräsident, zumindest nach dem Willen der Regierungskoalition, eine Frau sein. Das ist wunderbar und überfällig. Aber reicht "Frau sein" alleine als "gelebte Botschaft"? Wir möchten an dieser Stelle mal zwei Zutaten ins Spiel bringen, aus denen überzeugende Lebensbotschaften entstehen. Erstens: Den Zustand der Bargeldlosigkeit und die daraus resultierenden alltäglichen Sorgen kennen gelernt zu haben. Und zweitens: Einmal für eine richtige Sache existenzielle Nachteile in Kauf genommen zu haben.

Prominente Beispiele von Menschen in höchsten Staatsämtern, auf die beides zutrifft, gibt es ja durchaus. Denken wir nur an Nelson Mandela. Er verbrachte für Freiheit und Gerechtigkeit einen großen Teil seines Lebens hinter Gittern. Und dennoch wurde er zum Motor der Versöhnung in Südafrika. Oder der tschechische Literat und Bürgerrechtler Václav Havel. Havels Leben kündet von Freiheitsliebe, vom kompromisslosen Bekenntnis zu Demokratie und westlichen Werten. Für seine Überzeugungen nahm er Publikationsverbot, sozialen Abstieg und Haft in Kauf. So etwas bringt einen Menschen um oder es macht ihn sehr stark.

Schade, dass die Deutschen keinen Mandela oder Havel haben. Den meisten Bürgern in unserem Land geht Sicherheit immer noch vor Freiheit. Aber halt: Haben wir wirklich keine Revolutionäre? Vergessen wir mal Amtierende, die es einst für revolutionär hielten, nach am Boden liegenden Polizisten zu treten. Wir meinen wirkliche Freiheitskämpfer, die einer diktatorischen Staatsmacht die Stirn boten. Auch wenn Ostalgieshows mittlerweile das Gegenteil suggerieren: Es gab auf deutschem Boden bis 1989 eine widerliche Diktatur, die über Leichen ging. Und es gab Menschen, die ohne Rücksicht auf ihr persönliches Schicksal gegen dieses Unrecht kämpften. Wer könnte geeigneter sein das vereinte Deutschland zu repräsentieren als eine dieser Heldinnen und Helden des gewaltlosen Widerstandes?

Ein Staatsoberhaupt aus dem Kreise der DDR-Bürgerrechtler könnte jungen Menschen (und nicht nur diesen) endlich etwas Vertrauen in Politik zurückgeben und via Biografie klare Überzeugungen und Werte vermitteln. Gelebte Botschaft statt anbiederndem Gutmenschentum. Frauen gibt es aus diesem Kreise genug. Beispielsweise die Bundestagsabgeordnete und ehemalige Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld. Eine Frau, die weiß wie eine Zwei-Zimmer-Mietwohnung mit Kohleofen von innen aussieht und auch die Arrestzelle eines totalitären Regimes. Sie konnte auf ihrem Engagement in der Friedens- und Umweltbewegung - anders als im Westen - keine Karriere aufbauen, sondern landete dafür im Stasiknast Hohenschönhausen. Heute gehört sie zum liberalen Flügel der CDU. Eine "Person der Zeitgeschichte" (DeutschlandRadio), für die Freiheit keine Floskel ist. Oder, wenn's auch ein Mann sein dürfte: Deutschlands größter lebender Lyriker, Wolf Biermann. Der kann besser singen als Walter Scheel, hat mehr Witz als Roman Herzog und besitzt mindestens soviel Zivilcourage wie Gustav Heinemann. Und er ist nicht glatt gebürstet und weich gespült, sondern sagt was er denkt, auch wenn der Applaus ausbleibt.

Die Revolution von 1989 überraschte östliche wie westliche Partei-Apparatschiks. Sie war der große, hoffnungsvolle Auf- und Ausbruch aus der langen Misere deutscher Staatsanbetung. Heute will kaum einer mehr etwas davon wissen. Die meisten Bürgerrechtler haben sich schmollend zurückgezogen, andere ihre Freiheitsliebe in Konsenswatte erstickt. Aber ein paar revolutionäre Köpfe sind dem Land geblieben. Würde eine oder einer aus ihren Reihen Präsident, könnte dies Deutschland zu neuem Schwung und demokratische Selbstverständnis verhelfen. Beides wird dringend gebraucht.

 

Erschienen in Die Welt vom 17.09.03