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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Aufbau-Ost
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Aufbau-Ost

Hintergrund:
Ganze 300.000 optimistische Isländer haben ihr kleines Land zu einem der wohlhabendsten der Welt gemacht. Ein Vorbild für Ostdeutschland.

 

Island-Hoch und Deutschland-Tief

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Ist dem Leser aufgefallen, dass im Wetterbericht der Ausdruck "Island-Tief" so gut wie nicht mehr verwendet wird? Die Isländer haben mächtig Lobby-Arbeit geleistet, weil der Terminus ihrer Meinung nach den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllt und dem Tourismus schadet. Nun, das berüchtigte Tief braut sich dort oben weiterhin zusammen, wir können zuverlässig davon berichten. Dennoch wird einem bei einer Reise nach Island warm ums Herz. Nicht wegen des Wetters, sondern wegen der Stimmung dort oben. Nennen wir sie mal Island-Hoch. Besucher, die aus dem mentalen Deutschland-Tief kommen, sind aufs angenehmste überrascht. Das Phänomen offenbart sich zum Beispiel auf einem Flug zu den vor gelagerten Westmänner-Inseln, er dauert nur sechs Minuten. Die winzige und meist Sturm umtoste Hauptinsel besteht aus einem vulkanischen Felsen im Nordatlantik. Der Anflug gleicht dem auf einen im Taifun stampfenden Flugzeugträger. Wer es schafft seinen Magen unter Kontrolle zu halten und aus dem Fenster zu schauen, sieht hinab auf eine bizarre Berglandschaft aus geronnenem Lava. Und mitten in den tiefschwarzen Strömen leuchtet weithin ein bunter Garten. Wie kommt der bloß dahin?

Eine blühende Landschaft inmitten verbrannter Erde! Genau das also, was wir uns auch für den von ökonomischen Stürmen heimgesuchten Osten Deutschlands wünschen. Die Geschichte des Gartens begann im Januar 1973 mit einer Katastrophe. Kein Freudenfeuerwerk wie 1989, als in Berlin die Mauer fiel. Statt dessen ein gewaltiger Vulkanausbruch. Unsere Bekannte Kristìn, die damals noch ein Kind war, sah nur noch eine Wand aus Feuer: "Der ganze Berg brannte". Der Hauptort Heimæy wurde zur Hälfte von Lava und Asche verschüttet. Es gab dennoch keine Toten, weil die zufällig anwesende Fischereiflotte innerhalb weniger Stunden über 5000 Bewohner evakuierte. Vulkan hin, Vulkan her, so was kann den Isländer nicht erschüttern: Die meisten wollten möglichst schnell zurück. Und als sie wieder da waren, stellten Sie fest, dass ihre Insel um beinahe ein Drittel größer geworden war. Woraufhin ein veritabler Inselkrach das Eiland erschütterte, denn jeder erhob sogleich Besitzansprüche auf die hinzugekommenen Flächen. Ein weiser Ratsspruch dekretierte dann: Wer es schafft, auf der Lava einen Garten anzulegen, darf den entsprechenden Grund behalten.

Das Gärtnereiwirtschaft nahm in Heimæy einen blühenden Aufschwung. Allerdings gaben viele wieder auf, weil Kälte und beißender Sturm den zarten Pflänzchen allzu sehr zusetzte. Ein pensioniertes Ehepaar aber hat es geschafft: Mitten im Niemandsland blühen heute Sträucher und wachsen Stauden. Die ganze Insel feiert die beiden hoch betagten Helden des Aufbaus, sie wurden gewissermaßen eine nationale Institution. Doch auch andere machten aus der Not eine Tugend. Unter der Oberfläche glüht noch immer das Gestein, warum nicht Rohre verlegen und Warmwasser für den Ort produzieren? Geht nicht, sagten die Fachleute. Geht doch, sagten die Insulaner und bauten ihre Anlage trotzdem. Und siehe da: Es ging.

Die Menschen sind den Kampf gegen Naturgewalten gewohnt. Der Leuchtturm von Heimæy ist fürsorglich fahrbar. Und der nächste Vulkanausbruch in der Region ist nur eine Frage der Zeit. Isländer wissen, dass im Leben oft kein Stein auf dem anderen bleibt. Das hindert sie nicht an die Zukunft zu glauben und mehr Kinder zu zeugen als alle anderen Europäer (nur Albanien kann mithalten). Viele Isländer gehen hinaus in die Welt und die meisten von Ihnen kommen wieder zurück. Ganze 300 000 optimistische Bewohner haben Island zu einer der reichsten Nationen der Welt gemacht. Beim deutschen Aufbau Ost gibt es zum Glück keine aktiven Vulkane, sondern nur eine passive Unlust. Entdecken wir also ein wenig den Isländer in uns. Deutschland ist 1989 wie die Westmänner-Inseln um ein Drittel größer geworden. Vergessen wir deshalb den Solidaritätszuschlag und machen uns ein anderes Aufbau-Rezept zu eigen: "Wer einen Garten anpflanzt, darf ihn behalten."

 

Erschienen in Die Welt vom 28.04.2004