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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Politische Moral
The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20080607024635/http://www.maxeiner-miersch.de:80/standp2004-07-07a.htm
Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Politische Moral

Hintergrund:
Obwohl sie über bessere Argumente verfügen, überlassen Liberale bei Themen wie Gerechtigkeit, Umwelt und Globalisierung die moralische Deutungshoheit anderen.

 

Liberales Defensivspiel

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Wer im Medienzirkus mitspielt bekommt früher oder später ein Etikett verpasst. Auf unserem steht so etwas wie "streitbar, kontrovers, polarisierend." Und solches muss in der deutschen Konsenskultur sorgfältig eingehegt werden. Aus Sorge um das Seelenheil von Lesern, Zuhörern oder Zuschauern, wird unsere Position fast immer präventiv von Gegenmeinungen eingerahmt. Wir sollen den polemischer Pfeffer einstreuen, der den gewohnten Einheitsbrei etwas würziger macht, aber keinesfalls Grundnahrungsmittel zugelassen werden darf. In Talkshows oder auf Podien finden wir meist Geschwader politischer Gouvernanten um uns herum, die sich nicht mit Fakten auseinandersetzen wollen, sondern nur einen Vorwand für reflexhafte Empörung suchen. Darüber nämlich, dass irgendjemand wagt ihre Meinungs-Hegemonie in Frage zu stellen. Doch zu unserer Freude (und zur Erbauung des Publikums) endet manche wohl geplante öffentliche Hinrichtung jedoch anders als geplant. Das kommt davon, wenn sich die Scharfrichter sich ihrer Position allzu sicher sind.

Unsere Rollenzuteilung ist kein skurriles Einzellschicksal, sondern symptomatisch. Wer den staatsgläubigen, fortschrittsfeindlichen, kulturpessimistischen Konsens durchbricht, der sollte vorzugsweise für jedes seiner Argument drei UN-Statistiken anführen und vier renommierte wissenschaftliche Studien auswendig rezitieren können. Jeder antiliberale Unsinn darf hingegen schlicht behauptet werden, nach kleinlichen Belegen für großartige Gesinnungsleistungen fragt kein Mensch.

Wie kommt das? Sind da mal wieder die legendären Achtundsechziger am Werk? Diejenigen, die Dutschkes Aufruf zum Marsch durch die Institutionen befolgten und Fernsehanstalten und Verlage erobert haben? Die Erklärung liegt nahe, erklärt aber nur einen Teil des Phänomens. Obwohl kaum gelesen, war Antonio Gramsci der wirkungsmächtigste Theoriespender der Siebziger-Jahre-Linken. Die von ihm empfohlene Eroberung der kulturellen Hegemonie hat jedenfalls rundum geklappt: Von den Illustrierten bis zur Oper, vom Privatradio bis zu den evangelischen Akademien. Dazu kommen grauhaarige Lichtgestalten aus dem christlich-konservativen Lager, die sich im Wohlwollen des medialen Juste-milieu sonnen möchten und sich mit politisch korrekten Anbiederungen ranschmeißen an, wo es nur geht. Der heute vorherrschende Typus ist jedoch viel jünger, viel unpolitischer, viel konformistischer. Die Herrschaften haben nicht nur Parteien sondern auch weite Kreise der Wirtschaft erobert. Sie sehen aus wie smarte Fondsmanager und ihre Moral ist stets genauso frisch gebügelt wie ihre weißen Hemden. Ihr höchstes Ziel ist es, die tadellose Gesinnung stets sauber und unbefleckt zu halten.

Dieses durch Argumente unerschütterliche Moral-Outfit ist das eigentliche Kampffeld aller politischen Debatten in Deutschland. Es geht nie wirklich um Fakten, es geht immer um die moralische Deutungshoheit. Und die ist bei Schlüsselthemen wie Gerechtigkeit, Umwelt, Frieden oder Globalisierung fest verankert in einem durch und durch staatsgläubigen und marktfeindlichen Milieu. Die umfassende Eroberung der kulturellen Vorherrschaft war jedoch nur möglich, weil die schwächelnden Liberalen das politische Terrain einst nahezu kampflos aufgaben. Sie haben schon vor Jahrzehnten akzeptiert, dass "Kapitalismus" ein schmutziges Wort sei. Sie haben nie den intellektuellen Kampf um die Köpfe uns Herzen der engagierten und eher "postmateriell" orientierten jungen Menschen aufgenommen. Dabei haben die Anhänger der Freiheit und der offenen Gesellschaft oftmals die besseren, die sozialeren, die ökologischeren Argumente: Umverteilung macht arm. Regulierung schafft Bürokratie. Wettbewerb nützt allen. Freihandel ist sozial. Westliche Werte sind besser. Wer glaubt, sich vor dem Aussprechen solcher Tatsachen entschuldigen zu müssen, hat allerdings schon verloren. Wann endlich klingelt der Wecker?

 

Erschienen in Die Welt vom 07.07.2004