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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Tsunami-Katastrophe 1
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Tsunami-Katastrophe 1

Hintergrund:
Eine Flutwelle in Folge eines Seebebens hat in Asien über 100.000 Menschen das Leben gekostet. In Deutschland herrscht große Hilfsbereitschaft - und Verwirrung.

 

Kläranlagen statt Demut

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Am Sylvester-Morgen klingelte das Telefon. Ein Jugendfreund meldete sich. Es folgte Erschrecken und Erleichterung zugleich. Der Freund hatte seinen Urlaub an der Küste Sri-Lankas verbracht (was wir nicht wussten) und die Katastrophe durch einen Zufall überlebt. Seine Schilderung glich dem, was die anderen Heimkehrer in den Medien berichten. Und doch ist es etwas anderes, wenn am anderen Ende der Leitung eine vertraute Person beim Erzählen ins Stocken gerät. Unwillkürlich beginnt das Durchzählen des weiteren Freundes- und Bekanntenkreises, reichlich Viel- und Dauerreisende darunter. Soll man jetzt rumtelefonieren? Und was würde es nützen?

Es gibt viele Fragen, die im Raum stehen. Hätten viele der Opfer nicht doch rechtzeitig gewarnt werden können? Klar, hinterher ist man immer klüger. Dennoch: Menschen lassen sich heute beinahe in jedem Winkel der Welt auf ihrem Handy erreichen. Wenn hierzulande ein Stau auf der Autobahn auftaucht, dann meldet das wenige Minuten später ein Freiwilliger übers Radio. Braucht es also wirklich die UN und viele Millionen um ein Warnsystem zu installieren? Wäre das nicht auch einfacher und beinahe umsonst zu haben gewesen? Hätte eine schlichte Telefonkette zwischen Seismologen und Radiostationen nicht zumindest ein Teil der Menschen erreichen können? Wir wollen uns hier nicht als die Neunmalklugen aufspielen, konnten aber bislang keine Antwort auf diese nahe liegende Frage finden. Es nicht um Schuldzuweisung, sondern darum, aus der Katastrophe wenn möglich etwas zu lernen.

Die Stimmung nach dem Beben wird ja gerade dadurch geprägt, dass die sonst üblichen schrillen Töne fehlen, die mittlerweile jeden Herbststurm und jedes Frühjahreshochwasser begleiten. Fast niemand (von ein paar Spinnern mal abgesehen) gibt den Treibhausgasen, dem westlichen Lebensstil, den USA oder George Bush die Schuld. Kaum jemand surft auf der Katastrophe um Windräder, Solarzellen, die Ökosteuer oder das Kioto-Protokoll als Gegenmaßnahme zu empfehlen. Mäßigung und Vernunft werden diesmal nicht von der politischen Agenda plattgewalzt.

Natürlich gibt es auch mahnende Worte. Kirchenvertreter und das deutsche Feuilleton bemühen schon mal Begriffe wie „menschliche Hybris“ und „Machbarkeitsglaube“. Das ist nicht böse gemeint, sondern entspringt dem Wunsch, angesichts des Trostlosen etwas Kluges sagen zu wollen. Bischof Wolfgang Huber beispielsweise hat von den Menschen „wieder mehr Demut gegenüber der Natur“ verlangt. Aber ist das wirklich unser Problem? Oder besteht es nicht ganz im Gegenteil darin, dass Natur immer mehr verklärt wird, als etwas sanftes, harmonisches im ewigen Gleichgewicht befindliches? Ist nicht viel zu sehr in Vergessenheit geraten, dass die Natur Zähne und Klauen hat? Die Menschheit verdankt ihr Überleben auf diesem Planeten nicht der Demut gegenüber der Natur, sondern einem zähen Stellungskampf gegen die bösen Überraschungen, die sie für uns parat hält. Wir sollten die Natur nicht ausplündern oder zerstören, aber es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als sie einzuhegen und wo möglich ihre Gefahren zu überwinden.

Das zeigt doch gerade die angelaufene Hilfsaktion: Das gesamte Arsenal der hierzulande oft gering geschätzten technischen Zivilisation kommt zum Einsatz: Hubschrauber und mobile Kliniken, wirksame Medikamente und Wasseraufbereitungsanlagen, Desinfektionschemikalien und Spritzmittel gegen Insekten. Der Mensch kann solche Katastrophen nicht verhindern, Wissenschaft und Technik ermöglichen es aber, deren Folgen zu lindern. Verseuchtes Wasser und Durchfallerkrankungen sind überdies keine Besonderheit der jetzigen Krisenregionen, sondern schlicht die häufigste Todesursache von Kindern in armen Ländern - mit Millionen von Opfern. Einfache Kläranlagen könnten Abhilfe schaffen. Die Menschen dort erwarten von uns keine Demut gegenüber der Natur, sondern entschlossene Hilfe mit den Errungenschaften der technischen Zivilisation.

 

 

Erschienen in Die Welt vom 5.1.2004