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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Luftsicherheitsgesetz
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Luftsicherheitsgesetz

Hintergrund:
Das neue Luftsicherheitsgesetz ermöglicht als letzten Ausweg den Abschuss von Passagierflugzeugen, die von Terroristen als Waffe benutzt werden. Bundespräsident Horst Köhler hält das Gesetz für verfassungsrechtlich bedenklich.

 

Ethisches Doppeldenk

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

„Sie spazieren nachts mit ihrer Freundin durch einen Park. Plötzlich erscheinen drei Männer mir Messern und wollen ihnen und ihrer Begleitung offenbar Gewalt antun. Sie haben zufällig eine Pistole dabei. Wie reagieren Sie?“ So lautete die klassische Frage, die alle ehemaligen Wehrdienstverweigerer kennen, die sich noch einer Gewissensprüfung unterziehen mussten. Die richtige Antwort musste heißen: Man würde aus Respekt vor dem Leben der Angreifer nicht zur Waffe greifen. Wer einräumte, in dieser Extremsituation womöglich zu schießen, war schon durchgefallen.

Extremsituationen kommen zum Glück äußerst selten vor. Doch Philosophen, Theologen, Juristen und Journalisten lieben solche existenziellen Fragen. Und deshalb werden Regierung und Parlament immer wieder gedrängt, auch die außergewöhnlichsten Fälle menschlicher Gewissensentscheidungen zu regeln. Vergangene Woche war es mal wieder so weit. Das so genannte „Luftsicherheitsgesetz“ trat in Kraft. Demnach ist es jetzt erlaubt, ein Passagierflugzeug samt Insassen abzuschießen, wenn es von Terroristen als Waffe eingesetzt wird. Der Bundespräsident unterschrieb das Gesetz unter Bauchschmerzen: „Leben wird zugunsten anderen Lebens geopfert.“

Denken wir einmal an den Fall des Frankfurter Vizepolizeichefs Wolfgang Daschner. Der wurde gerade verurteilt, weil er einem Kindesentführer Gewalt angedroht hatte, um das möglicherweise noch lebenden Kind zu finden. Daschner erwog also einem Menschen Schmerzen zufügen, um einen anderen Menschen zu retten. Das sei zwar ein ehrenhaftes Motiv, beschied etwa Innenminister Otto Schily, man dürfe das Folterverbot aber nicht relativieren. Der gleiche Minister hat aber nun ein Gesetz geschaffen, das es erlaubt, hunderte von Menschen zu töten, um andere Menschen zu retten. Wie passt beides zusammen? Beide Fälle sind äußerst vielschichtig und komplex und man kommt beim Nachdenken schnell an einen Punkt, den Wolf Biermannn einmal so ausdrückte: „Manchmal bin ich nicht mehr meiner Meinung.“

Die Daschner- und die Flugzeugdebatte haben viel gemeinsam. Und die unterschiedlichen Positionen dazu gehen oftmals über Kreuz. Menschen, die Androhung von körperlicher Gewalt gegen einen Entführer für einen unerträglichen Tabubruch halten, können sich die Opferung der Flugzeugpassagiere als finale Rettungsmaßnahme vorstellen – und umgekehrt. Es gibt keine Logik des Gewissens. Niemand ist bei der Bildung eigener ethischen Grundsätze frei von Gefühlen, persönlichen Vorlieben und Abneigungen. Was Orwell „Doppeldenk“ nannte ist in ethischen Fragen eher die Regel als die Ausnahme. In der Stammzellenforschung und der pränatalen Diagnostik plädiert die eine Seite für die Unantastbarkeit des Embryos auch im frühesten Stadium der Zellteilung. Teilweise die gleichen Personen akzeptieren die Abtreibungen bis zur zwölften Entwicklungswoche, und bei Behinderungen sogar darüber hinaus.

Sterbehilfe, Vaterschaftstests, Recht auf Geschlechtsumwandlung, Toleranz religiöser Intoleranz: Unsere sich immer mehr ausdifferenzierende Gesellschaft stößt allerorten an ethische Randbereiche, von denen unsere Großeltern nichts ahnten – und deren Relevanz sie vermutlich kaum verstanden hätten. Als Laien fühlen wir uns in manchen Debatten so rat- und hilflos wie bei der Gewissensprüfung im Kreiswehrersatzamt. Wir erlauben uns deshalb nur eine Vermutung: Vielleicht sollte der Gesetzgeber den Versuch aufgeben, letzte Fragen in Extremsituationen juristisch festzuzurren. Neue Paragraphen sind keine Versicherung gegen falsche Entscheidungen. Die Bürde der Verantwortung bleibt im konkreten Fall immer bestehen.

 

 

Erschienen in Die Welt vom 19.1.2004