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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Tschernobyl
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Tschernobyl

Hintergrund:
19 Jahre nach dem Unfall gilt der GAUえーゆー in der Ukraine immer noch als die technische Megakatastrophe schlechthin.

 

Der Gründungsmythos

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

In diesen Tagen jährte sich der Reaktorunfall von Tschernobyl. Er gilt als die bedeutsamste technische Katastrophe des 20. Jahrhunderts und wirkt bis heute als Menetekel für die Schattenseite des Fortschritts. Im kommenden Jahr ist das Unglück 20 Jahre her. Rückblicke dürften dann ähnlich Konjunktur haben, wie zur Zeit die Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges.

Will man die Ängste und Blockaden verstehen, die Deutschland derzeit zu schaffen machen, muss man sich an 1986 erinnern. Tschernobyl war der kraftvolle Gründungsmythos des öko-sozialen Projekts, dass zwölf Jahre später in Regierungspolitik umgesetzt wurde. Ohne die überdimensionale Atomangst wären die Osterunruhen von 1968 und die Gründung der Grünen historische Bagatellen geblieben, interessant für Diplomarbeiten über politische Randkulturen. Erst nach dem GAUえーゆー in der Ukraine diffundierte die grüne Idee zum beherrschenden Lebensgefühl der deutschen Mittelschicht.

Die Ängste der Bevölkerung nahmen damals noch rasanter zu als die Auflage der taz. Der Sand der Spielplätze wurde abgetragen. Niemand kaufte mehr Milch. Man sah Mütter, die dicke Decken über Kinderwägen legten, um Babys vorm Fallout zu schützen. Andere ließen ihre Kinder gar nicht mehr aus dem Haus. In einer eigens dafür errichteten Anlage wurde für 70 Millionen Mark die sogenannte „Strahlenmolke“ dekontaminiert. Niemanden interessierte es, dass sie weniger radioaktiv war, als es manche Lebensmittel von Natur aus sind. Zuvor hatte man das Molkepulver in 242 Eisenbahnwaggons unter Bewachung der Bundeswehr kreuz und quer durchs Land verschoben. Die Regierung Kohl versuchte die Menschen zu beruhigen, ohne den Wahrheitsgehalt der kursierenden Horrorszenarien jemals infrage zu stellen.

Tschernobyl glimmt bis heute tief im Seelenhaushalt aller Deutschen über dreißig. Noch immer kann nicht sachlich über Atomenergie diskutiert werde, obwohl Technik seither erheblich weiterentwickelt wurde und eine neue Ausgangslage entstanden ist. Das wäre ja durchaus angemessen, wenn Tschernobyl tatsächlich die Megakatastrophe gewesen wäre, für die sie hierzulande immer noch gehalten wird. 19 Jahre später lautet die Bilanz jedoch: Sie war es nicht.

Beim GAUえーゆー in der Ukraine starben weitaus weniger Menschen als bei anderen Desastern in Chemiefabriken, Düngemittelwerken und Kohlegruben, bei Zugunglücken und Flugzeugabstürzen des vergangnen Vierteljahrhunderts. Unfälle, an die sich kaum noch jemand erinnert. Die mit großem Abstand schlimmste Industriekatastrophe ereignete sich im indischen Bhopal, wo 1984 ein Chemiewerk explodierte. An die 3000 Menschen wurden dabei getötet, zehntausende gesundheitlich geschädigt. Aber fragen Sie mal im Freundeskreis nach Bhopal, mancher wird sich dunkel erinnern.

Nach einem Bericht von UNICEF und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) starben durch die Explosion des Reaktors, nachfolgende Unfälle und Verstrahlung etwa 125 Menschen. Infolge der freigesetzten Radioaktivität stieg die Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs bei Kindern an, auf insgesamt etwa 1800 Fälle an, die zu 95 Prozent geheilt werden konnten. Die UN-Organisationen fällten allerdings ein vernichtendes Urteil über die überstürzte Zwangsumsiedlung von 400 000 Menschen. Sie führte in vielen Familien zu sozialer Zerrüttung mit erheblichen gesundheitlichen Folgen.

Hierzulande zeigen die Statistiken weder einen Anstieg bei Krebserkrankungen noch bei Missbildungen von Neugeborenen. Aber starke Mythen brauche keine reale Grundlage mehr, wenn sie einmal ihre Wirkung entfaltet haben. Der Mythos von Tschernobyl wird weiterleben – wahrscheinlich länger als das rot-grüne Projekt.

 

 

Erschienen in Die Welt vom 4.5.2005