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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Intellektuelle
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Intellektuelle

Hintergrund:
Rechtzeitig zu Fußball-Weltmeisterschaft schwappt eine Welle patriotischer Bücher auf den Markt.

 

Volkssturm im Feuilleton

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Erschienen am 02.06.2006 in DIE WELT

Sozialismus, Pazifismus, Feminismus, Katastrophismus, Karrierismus, Zynismus: Wir dachten eigentlich, dass unsere Journalisten-Generation schon alles durch hätte. Aber einer geht immer noch: Rechtzeitig zur Fußball Weltmeisterschaft wurde Patriotismus zum Partytalk gekürt. Wir wollen da nicht zurückstehen und auch gute Patrioten sein. Das Angebot ist so günstig wie nie: Buchmarkt und Feuilletons bieten Patriotismus-Kurse für jeden Geschmack, Herr Langenscheidt hat einen patriotischen Einkaufsführer erstellt und bei Lidl gibt es schwarz-rot-goldene Socken. Goethe war voll krass, um die Brotsorten beneiden uns sogar Computer-Inder und selbst auf den Penicillin-Erfinder Alexander Fleming, sind wir mächtig stolz, seit ihn ein überschwänglicher Patriot eingemeindete.

Als erstes müssen wir uns mal entspannen, denn - da sind sich die Patriotismus-Experten einig - wir brauchen ein entspanntes Verhältnis zur Nation. Das ist gar nicht so leicht, denn andererseits wollen wir ja den Meisterdenkern des neuen patriotischen Diskurses lauschen. Es ist ein bisschen wie in Gruppensitzungen der evangelischen Sexualberatung. Alle sagen, man müsse sich nur entspannen, aber gerade dadurch wird man immer verkrampfter. Aber wir werden es schon noch hinkriegen. Es ist noch kein Patriot vom Himmel gefallen – außer vielleicht bei der Luftwaffe.

Im Stillen fragen wir uns nach der Herkunft der Erregung: Warum ist Patriotismus angesagt? Warum jetzt? Warum so einmütig? Eine Erklärung könnte sein, dass das Thema eine niedrige Mitspracheschwelle besitzt. Es gibt immer Inhalte, zu denen muss ein Teil der Anwesenden schweigen, weil sie einen gewissen Kenntnisstand voraussetzen und es schnell auffällt, wer diesen nicht besitzt. Anders bei Gesprächsgegenständen wie Kindererziehung, Hunde, Katzen, Wetter und Patriotismus. Da kann jeder seinen Senf dazugeben, denn irgendwie sind wir doch alle ein bisschen Goethe.

Böswillige könnten behaupten, der neue Nationalstolz der alternden Udo-Lindenberg-Generation sei ein letztes Aufgebot einer unentwegt plappernden Kaste, die intellektuell am Ende ist. Eine Art geistiger „Volkssturm“, bei dem auch der letzte hinkende Gedanke noch mitmachen darf. Man ist sich zu fein für die Niederungen der Ökonomie und redet lieber übers große Ganze. Die Dichter und Denker haben keine Vorstellung von Zukunft mehr, sie haben keine Ahnung, wohin die Reise gehen könnte, möchte sich aber ein gutes Gefühl haben dabei.

Es ist leider unübersehbar, dass unser schönes Land ein paar Probleme hat, die sehr profaner ökonomischer Natur sind. Auch jede andere stolze Nation hätte ein paar Probleme, wenn nur noch 39 Prozent der Bevölkerung ihren Lebensunterhalt mit Arbeit erwirtschaften (und innerhalb dieser Gruppe noch ein Teil nicht mit Wertschöpfung sondern Umverteilung befasst ist). Vielleicht sollten wir Patrioten uns mal Gedanken über die Funktion des Fortschritts, der Freiheit und des Unternehmertums für ein blühendes Gemeinwesens machen.

Dazu passt eine Nachricht dieser Woche: Die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, eine vornehme und zurückhaltende Institution, schlug mit der Faust auf den Tisch, weil eine ideologische Debatte die nächste Zukunftstechnik in Deutschland blockiert. „Die Kampagnen gegen Grüne Gentechnik entbehren wissenschaftlicher Grundlage,“ erklären die Experten. Doch niemand hört ihnen zu. Ihr Brandbrief ist nur ein paar Kurzmeldungen wert. Es wäre ein patriotischer Akt gewesen, die Stellungnahme der Wissenschaftler auf alle Titelseiten zu setzen. Damit aus dem Land der Bremser und Bedenkenträger wieder ein Land der Forscher und Erfinder werden möge. Aber wir reden lieber über unsere Gefühle, diesmal über die nationalen. Zumindest so lange bis die nächste Nebelschwade durchs Feuilleton zieht. Wetten, dass unsere Patrioten, wenn sie dann die Sechzig überschreiten, die Religion entdecken werden – natürlich anders als alle anderen vor ihnen.