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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Energiepolitik
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Energiepolitik

Hintergrund:
Der terroristische Angriff vom 11. September macht deutlich, wo der Westen eine gefährliche Schwachstelle hat: Seine Abhängigkeit vom Öl.

 

Operation grenzenlose Energie

von Dirk Maxeiner

Wenn derzeit über die Fundamente unserer Gesellschaft diskutiert wird, dann hebt dies meist in immateriellen Sphären ab. Die ganz profanen Grundlagen werden oft vergessen. Beispielsweise das Vorhandensein reichlicher und preiswerte Energie. Nahezu jeder der gigantischen Fortschritte im gesellschaftlichen Leben der letzten 200 Jahre wurde mit Energie erkauft. Landwirtschaftliche und industrielle Produktivitätssteigerung, höhere Lebenserwartung und bessere Nahrungsmittelversorgung, Wohlstand und Mobilität für immer mehr Menschen, selbst Freiheitsrechte und Gleichberechtigung: all dies hängt direkt oder indirekt mit Erleichterung des menschlichen Daseins durch Elektrizität und Verbrennungsmotoren, durch Geräte und Fahrzeuge zusammen. Komplexe, offene und arbeitsteilige Gesellschaften sind wunderbare Wohlstandsmotoren, aber sie brauchen viel Energie.

Das Wohlbefinden der westlichen Demokratien hängt deshalb heute mehr denn je von einer gesicherten Energieversorgung ab. Dem Erdöl kommt dabei nach wie vor eine herausragende Rolle zu. Doch wie wollen die westlichen Demokratien es künftig mit dem Erdöl halten? Der Stoff sprudelt zwar auch in absehbarer Zukunft reichlich aus dem Boden. Bedauerlicherweise aber meist am falschen Ort. Importierten die Vereinigten Staaten während der ersten Energiekrise 1973 nur 37 Prozent ihres Öls aus der Golf-Region, so sind es heute 56 Prozent.

Saudi-Arabien ist das derzeit mit Abstand ölreichste Förderland, gefolgt von Irak, Kuwait, den arabischen Emiraten und dem Iran. Gut zwei Drittel der nach heutigem Stand der Technik leicht zugänglichen Ölreserven befinden sich in diesen Ländern. Doch keines davon kann für sich in Anspruch nehmen demokratisch zu sein, in keinem gibt es eine abwählbare Regierung, in keinem herrscht Pressefreiheit. Und die einzige Opposition verspricht meist nichts besseres, sondern noch schlechteres: Islamischen Fundamentalismus.

Die saudiarabische Diktatur ist auch nicht viel besser als die Taliban. Was den Westen nicht daran hindert als Schutzmacht für die Prinzenbande aufzutreten und freundlich zu sein: Herzlich willkommen in der Allianz gegen den Terror! Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde. Das Bild vom abhängigen Junkie, der seinen Stoff beim kriminellen Dealer einkauft, ist so schief nicht. Bei allem Verständnis für Realpolitik und das damit verbundene Maß an Zynismus darf dies nicht das letzte Wort bleiben. Die westlichen Demokratien müssen dringend von dieser mörderischen Ölabhängigkeit wegkommen, je schneller desto besser. Alternative Öl oder Gaslieferanten, beispielsweise auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, sind politisch auch nicht gerade eine sichere Bank. Auch der Rückgriff auf alte Kohlevorkommen oder Ölbohrungen in Naturparks können nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Die Industrienationen in Asien, Europa und Nordamerika sind in der Pflicht für die künftige Energieversorgung auch der nachrückenden Länder wirklich zukunftsfähige Antworten bereit zu stellen. Der Energiehunger der Schwellenländer wächst rapide, weil es keinen anderen Weg aus der Armut gibt. Energie für die Welt heißt Brot für die Welt. Energieverbrauch an sich ist nichts schlechtes. Die in der Energiediskussion hierzulande beliebten Kategorien des Abschaltens, Begrenzens und Verbietens werden nicht weiter führen. Der brillante amerikanische Ökonom Julian Simon sagte einmal, dass die einzig relevanten Grenzen auf diesem Planeten, die des menschlichen Denkvermögens und Erfindungsgeistes sind. Als Beispiel für die Kraft menschlicher Kreativität mag das gigantische amerikanische Raumfahrtprogramm gelten, das in der Mondlandung gipfelte. Diese technische Glanzleistung entsprang nicht einem Denken in Grenzen, sondern dem genauen Gegenteil.

Die führenden Industrienationen sollten nach dem Vorbild des amerikanischen Raumfahrtprogramms gemeinsam zum Horizont einer besseren Energiezukunft durchstarten. Es gibt wohl kaum ein technologisches Vorhaben, für das sich mehr ökonomische, ökologische und moralische Gründe anführen ließen. Der Mensch kann die vorhandenen Möglichkeiten der Energiegewinnung verbessern und weitere hinzuerfinden. Nicht Ideologien, sondern eine zukunftsoffene Denkweise werden dabei der Schlüssel zum Erfolg sein. Niemand weiß heute sicher, ob Solarenergie, Fusionsenergie oder inhärente Hochtemperaturreaktoren künftig die Lösung sein werden. Die Antwort könnte durchaus in der Kombination zahlreicher verschiedener und teilweise schon bekannter Technologien liegen. Sonnenlicht und Erdwärme, Algen und optimierte Energiepflanzen, Wind, Wellen und Wasserkraft, Wasserstofftechnologie und Brennstoffzelle: Fortschritte addieren sich nicht, sie multiplizieren sich. Auch die Atomenergie muss eine Option bleiben. Es ist ja richtig, dass Atomkraftwerke seit dem Anschlag des 11. September gefährlicher sind, als je zuvor. Bedauerlicherweise sind wir seit diesem Tag auf Atomstrom aber auch angewiesener als jemals zuvor. An die Stelle kurzsichtiger nationaler Alleingänge im Energiesektor sollte deshalb ein in sich schlüssiges und weltweites Zukunftsprogramm treten: Operation grenzenlose Energie.

 

Erschienen in Die Welt vom 30.10.2001