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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Toleranz
The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20080607024822/http://www.maxeiner-miersch.de:80/standp2004-12-01a.htm
Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Toleranz

Hintergrund:
Konservative Kommentatoren äußern Verständnis dafür, dass sich Muslime vom Liberalismus provoziert fühlen.

 

Fromme Wünsche

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Wie die meisten Deutschen haben wir von Theo van Gogh erstmals gehört als er tot war. Inzwischen konnte man einiges über ihn lesen, was nicht gerade sympathisch klingt. Man gewinnt den Eindruck, er sei süchtig nach öffentlichen Knalleffekten gewesen und habe auf menschlichen Gefühlen herumgetrampelt, um ein paar laue Pointen zu landen. Es wäre falsch, aus dem Toten jetzt eine liberale Lichtgestalt zu konstruieren, die er offenbar nicht war und nicht sein wollte.

Der Umstand, dass van Gogh geschmacklose Kalauer von sich gab, ist für die Tat jedoch völlig unerheblich. Doch so denken nicht alle. Wer solche üblen Spöttereien verzapft, so die andere Interpretation, muss sich nicht wundern, wenn fromme Moslems sich davon tief verletzt fühlen und nach blutiger Rache dürsten. Selbst schuld: Diese Worte wurden zwar nie klar ausgesprochen, klangen aber unüberhörbar an. Mit Christen kämen die Moslems ja gut zurecht, nur die schamlosen Provokationen der Ungläubigen könnten sie halt nicht ertragen. Seltsame Begriffsungetüme wurden dafür konstruiert, beispielsweise "libertär liberaler Fundamentalismus", der in seiner schlimmsten Ausprägung obendrein noch "libertin" sei. Wir reiben uns die Augen schauen aus dem Fenster. Man könnte meinen, jeden Moment komme eine Horde nackter Bacchanten ums Eck, die die Kirche anzünden wollen. Aber alles bleibt ruhig.

Das Verständnis für die Verletztheit militanter Moslems dient verschnupften Christen als Ventil, die sich von den Respektlosigkeiten mancher Künstler und Satiriker selbst provoziert fühlen. Sie wünschen sich eine halboffene Gesellschaft mit verbindlicher Etikette für den Gebrauch von Wort, Bild und Ton. Ein wenig lästerlicher Scherz soll ja erlaubt sein, aber nicht so schrill, so laut und so öffentlich. Dies wäre aber keine freie Gesellschaft mehr.

In der Vergangenheit haben Satiriker in den Augen der Gläubigen immer wieder Grenzen überschritten. Das Magazin Titanic zeigte den Papst in lustvoller Umarmung mit einem Schaf und versah ein Blechkruzifix mit dem Recycling-Slogan "Ich war eine Dose". Das hat ein paar Leute empört, ein paar Juristen beschäftigt und die Titanic-Leser köstlich amüsiert. Weiter nichts. "Das Leben des Brian" von Terry Jones ist wesentlich deftiger als van Goghs Kurzfilm "Submission" und endet mit einer Kreuzigung, bei der die Delinquenten ein frohes Liedchen pfeifen. Die Jesusparodie wurde in vielen christlichen Ländern zum Kultfilm unter Jugendlichen, ist aber wohl kaum für die Austrittswellen bei den christlichen Kirchen verantwortlich.

Deutschland kann stolz auf diese Kultur der Gelassenheit sein. Wir wollen nicht dahinter zurück, in eine vermeintlich intakte Welt von Tradition, Gefügigkeit und festem Glauben. Eine freie Gesellschaft muss auch hässliche Clowns ertragen können. Toleranz - das vergessen manche frommen Geister recht gern - funktioniert auf Gegenseitigkeit. Die Nichtreligiösen bilden in Deutschland die zweitgrößte weltanschauliche Gruppe nach den Christen, in manchen Großstädten bereits die größte. Sie belästigen niemanden und haben keine Lobby. Tagtäglich bringen sie gegenüber religiösen Gruppen aller Art eine Menge Toleranz auf. Mancher Titanic-Titel mag für einen frommen Christen starker Tobak sein. Auf der anderen Seite bleiben die weitaus meisten Agnostiker und Atheisten gleichmütig, wenn sie Glaubensbekenntnisse über Jungfrauengeburt, Wasserlaufen oder Totenerweckung vernehmen. Und so soll es bleiben.

Christliches Verständnis für beleidigte Moslemfanatiker ist auf jeden Fall die falsche Antwort. Besser wäre klares Bekenntnis zur Verteidigung der Freiheit. Denn das Gift der Angst wirkt bereits. Bewusste und unbewusste Selbstzensur finden statt. Vor einiger Zeit wurde der Kabarettist Kaya Yanar gefragt, warum er Witze über den Islam aus seinem Programm genommen hat. "Ich möchte ja noch älter werden als 30 Jahre," antwortete er.

 

Erschienen in Die Welt vom 01.12.2004