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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Angstindustrie
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Angstindustrie

Hintergrund:
In den üblichen Jahresrückblicken wird ein selektiv negatives Bild der Entwicklungen in Deutschland und der Welt gezeigt – positive Trends werden meist ausgeklammert.

 

Gute Nachrichten

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Die Jahresrückblicke wurden bereits gedruckt und gesendet, gelesen, gehört, gesehen und abgehakt. Was bleibt im Gedächtnis? 2005 war das Jahr des Terrors und der Katastrophen. Das Jahr der Pleiten, Entlassungen und sozialer Härten. Und das Jahr der Schande von Abu Ghraib. Wer könnte behaupten 2004 sei ein gutes Jahr gewesen?

Wir natürlich. Zumindest war 2004 nicht nur ein schlechtes Jahr. Für viele Menschen auf der Welt ist das Leben besser geworden. Beispielsweise wurde eine große Zahl von Armen reicher. Der Weltbank-Jahresbericht über die globale ökonomische Lage bescheinigt den Entwicklungsländern für 2004 ein Wirtschaftswachstum von 6,1 Prozent, sie liegen damit deutlich über dem Welt-Durchschnitt (4,0 Prozent). Millionen von Menschen schafften 2004 den großen Sprung aus der nackten Not. Sie leben jetzt – verglichen mit deutschen Standards - immer noch sehr bescheiden, aber ohne die Sorge, woher morgen das Essen herkommen soll. In den letzten vier Jahren seien viele Länder schneller vorangekommen, als in den gesamten Neunzigerjahren. Die Weltbank spricht von einem „spektakulären“ Rückgang der Armut. Dies gilt nicht nur für Schwellenländer wie China oder Indien, sondern für die meisten armen Länder rund um den Globus. Leider gehören viele afrikanische Staaten (noch?) nicht dazu. Nicht nur der Wohlstand auch die Freiheit nahm zu. Zuletzt in der in der Ukraine. Und sogar an manchen Stellen des arabisch-islamischen Kulturraums ist ein zartes Freiheitslüftchen zu spüren.

Ein beliebiger Griff in unser Handarchiv fördert ein Sammelsurium ebenso erfreuliches wie wenig kolportierter Nachrichten der vergangnen zwölf Monate zutage. Die Zahl der Selbstmorde sank weiterhin und liegt nun 40 Prozent unter dem Niveau der achtziger Jahre. Das Statistische Bundesamt verkündete einen historischen Tiefststand der Verkehrstoten seit Beginn der Zählung vor einem halben Jahrhundert. Das Bundesamt für Naturschutz zählte auf deutschem Boden 4000 Arten mehr als vor zwanzig Jahren. Bei der Auswertung von Sattelitenaufnahmen stellte sich heraus, dass der Thüringer sich Wald fünf Prozent weiter ausgedehnt hat als angenommen (um ca. 30 000 Hektar). Und globale Naturschutzorganisationen meldeten stolze Zuwächse bei drei seit Jahren vom Aussterben bedrohten Tierarten: Berggorillas, Spitzmaulnashörner, Amurtiger.

Dies ist nur eine kleine, zufällige Auswahl erfreulicher Trends des zu Ende gehenden Jahres. Sie haben davon kaum etwas gehört und gelesen, weder in den Jahresrückblicken noch sonst irgendwo? Kein Wunder: Auch in den großen Qualitätszeitungen finden sich solche Meldungen meist versteckt auf den hinteren Seiten. In wesentlichen Teilen der Medien geht es unentwegt um die Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen. Informationen werden so inszeniert, wie es der Erwartungshaltung der Konsumenten entspricht. Dies geschieht in guter Absicht, unabhängig vom parteipolitischen Standort und besonders beharrlich in Hörfunk und Fernsehen. Eine Studie des Instituts Medien Tenor brachte 2004 an den Tag, das Deutschlands öffentlich-rechtlichen Sender noch geringschätziger über die Amerikaner im Irak berichten als Al Dschasira. Die Demokratisierung muss einfach schief gehen, damit die eigene Weltsicht unbeschadet bleibt.

Bedauerlicherweise kommt von den intellektuellen Kommunikationseliten kaum Kritik an den Anmaßungen dieser Angst-Industrie. Im Gegenteil: die meisten Intendanten, Regisseure, Schriftsteller, Künstler, Kabarettisten und Journalisten machen begeistert mit. So wird die Welt von Jahr zu Jahr schlechter, obwohl Lebenserwartung, Wohlstand, Freiheit und Bildung weltweit zunehmen. Selbst die Tatsache, dass die Menschen ein immer höheres Alter erreichen, gilt inzwischen als schlechte Nachricht. Das Resultat ist ziemlich skurril: Hierzulande blicken nur noch 13 Prozent der Menschen optimistisch in die Zukunft. Im Irak – so eine weitere unbeachtete Nachricht des Jahres 2004 – tun dies 71 Prozent.

 

 

Erschienen in Die Welt vom 29.12.2004