(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Aufsteiger
The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20080607024941/http://www.maxeiner-miersch.de:80/standp2005-03-16a.htm
Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Aufsteiger

Hintergrund:
Das Bürgertum zeigt immer offener seien Verachtung der niederen Schichten.

 

Die bildungsnahen Schichten

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Deutschlands hochbegabte Sprachschöpfer haben einen neuen Begriff geschaffen: „bildungsferne Schichten“. Gemeint ist jener Teil der Bevölkerung, der sich hartnäckig weigert arte zu gucken, Bier statt Bordeaux trinkt und alle drei Berliner Opernhäuser störrisch boykottiert. Der Ton, in dem über ihre als peinlich empfundene Lebensart geredet wird, verschärft sich. Das böse amerikanische Wort vom „white trash“ ist auch bei Leuten salonfähig geworden, die sonst mit korrekt gereinigter Diktion glänzen.

Nun, wir wollen nicht abstreiten, dass es Grund zur Sorge gibt, wenn Eltern ihre Kinder ausschließlich mit Super-RTL, Ego-shooter-Spielen und Schokoriegeln großziehen. Bedauerlicherweise ist niemand in Sicht, der den einst verblichenen Arbeiterbildungsvereinen neues Leben einhauchen könnte - weder bei den Sozialdemokraten noch beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Und die Volkshochschulen kümmern sich lieber um arbeitslose Kunsthistorikerinnen als um Hilfsarbeiter.

So weit, so schlecht - doch da ist noch etwas anderes, was uns beim einträchtigen Lamento über die Unkultur des „Prolls“ stört. Es ist der Gestus geistig-moralischer Überlegenheit derjenigen, die mit ausgestrecktem Finger auf die da unten zeigen. Etwas weniger Selbstgewissheit wäre wirklich angebracht. Denn nicht die schlichten Gemüter sind oft das Problem, sondern die Hybris akademisch kultivierter Kreise.

Während der letzten Buchmesse in Frankfurt verirrten wir uns in den ganz frühen Morgenstunden in eine Döner-Bude im Bahnhofsviertel. Der junge Bosnier hinter dem Tresen hatte garantiert keine höhere Schulanstalt von innen gesehen, die Marktwirtschaft jedoch genau verstanden. Die Gründe für die Wirtschaftsflaute in Deutschland konnte er aufgrund seiner empirischen Studien an Gästen und Behörden überaus treffend schildern. Bei Verlagsempfängen hatten wir stattdessen meist abgestandene Kapitalismuskritik gehört.

Wir wollen hier keinen sozialromantischen Proletkult betreiben. Wenig gebildet zu sein, erhöht nicht automatisch die Urteilskraft. Aber hoher Bildungsgrad eben auch nicht. Denken wir nur an die wechselnden Hysterien, die Deutschland in den letzten Jahrzehnten heimsuchten. Das Waldstreben wütete in Redaktionsbüros. Waldarbeiter fassten sich nur an den Kopf. Auch um einen strengen Winter als Zeichen globaler Erwärmung zu deuten, muss man dialektisch geschult sein. Erst dann leuchtet einem auch ein, warum hohe Benzinpreise gut und billige Lebensmittel schlecht sind.

Nach dem 11. September 2001 dauerte es nicht lange, bis Angehörige der talkenden Klasse das Geschehen zur irgendwie gerechten Rache erklärte oder die phallische Dimension der Doppeltürme hervorhoben. Ein Freund von uns hatte den Tag zufällig bei seiner elterlichen Familie in Niederbayern verbracht. Als er wieder im Kulturbetrieb ankam, war er fassungslos über all das dialektische Verbal-Ikebana, das er dort zu hören kriegte. Seine dörflichen Verwandten waren einfach nur entsetzt und voller und Mitleid, als sie sahen, wie Menschen aus Hochhausfenstern sprangen.

Auch dass Europa ein Problem mit islamischen Zuwanderern kriegen könnte, galt in den neunziger Jahren unter Café-Latte-Trinkern in den Uni-Vierteln noch als quasi-faschistisches Ressentiment. Diejenigen, die mit Einwanderern das Wohnquartier teilten, sahen das viel früher viel klarer.

Dünkel ist wieder erlaubt. Man strebt nach Höherem und verachtet die schnöden materiellen Wünsche der Unterschicht. Und für den distinguierten Arbeitslosen hat soeben ein leibhaftiger deutscher Graf ein hilfreiches Buch geschrieben. Sein Titel: „Die Kunst des stilvollen Verarmens“.

 

 

Erschienen in Die Welt vom 16.3.2005