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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Thema Lebensmitteltechnik
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Lebensmitteltechnik

Hintergrund:
Eine amerikanisches Forschungsgruppe arbeitet daran aus Muskelzellen von Tieren essbares Fleisch zu erzeugen.

 

Die Bouletten-Revolution

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Es hat sich eingebürgert, die Zukunft grundsätzlich durch einen Horizont niedriger Erwartungen zu betrachten. Alles wird weniger oder schlechter. Die vorhandenen Ressourcen müssen deshalb gestreckt und möglichst gleichmäßig verteilt werden. In diesem geschlossenen Weltbild wird erst gar nicht mehr in Betracht gezogen, dass neue Entdeckungen unser Leben grundlegend verändern können.

Denken wir doch nur einmal daran, wie das Automobil in den vergangenen 100 Jahren Umwelt, Gesellschaft und Kultur umgewälzt hat. Oder die Anti-Baby-Pille, oder das Internet. Nun deutet sich ein technischer Durchbruch an, der unser tägliches Leben noch viel stärker verändern könnte: Künstliches Fleisch, das vom tierischen Produkt nicht mehr unterscheidbar ist und im Labor erzeugt wird. Wir hatten in dieser Zeitung vor fünf Jahren erstmals sehr spekulativ darüber berichtet, jetzt treibt eine interdisziplinäre Gruppe amerikanischer Wissenschaftler (www.new-harvest.org) die konkrete Entwicklung voran. Die Forscher nehmen an, dass sie in weniger als einem Jahrzehnt qualitativ akzeptable Würste und Hackfleisch aus Zellkulturen herstellen können (mit Steaks und Braten wird es wohl länger dauern).

Um die Bedeutung einzuschätzen, muss man sich vor Augen führen, welch ungeheure Auswirkungen die Tierhaltung hat: Auf der Welt leben heute fast 20 Milliarden Nutztiere. Die Viehhaltung belastet den Planeten weitaus mehr als Industrie und Verkehr. Während die Siedlungsfläche nicht einmal 0,5 Prozent der Kontinente ausmacht, benötigt die Landwirtschaft etwa 40 Prozent der eisfreien Fläche des Planeten - und davon zwei Drittel als Weideland. Außerdem werden 40 Prozent der globalen Getreideernte und 20 Prozent des Fischfanges nicht direkt zu Lebensmitteln, sondern zu Futtermitteln verarbeitet. In den nächsten Jahren wird die Fleischerzeugung wegen des steigenden Bedarfs der Schwellenländer weiter ansteigen.

Sollte es in den nächsten Jahrzehnten gelingen Fleisch industriell zu produzieren sähe die Welt in vielfacher Hinsicht anders aus. Es wäre der größte derzeit denkbare ökologische Fortschritt. Die letzten Wildnisgebiete müssten nicht für Viehherden oder Futtermittelanbau weichen, sondern könnten sich sogar wieder ausdehnen. Viele Milliarden Kubikmeter Wasser würden gespart, gewaltige Mengen des Treibhausgases Methan ebenfalls. Gewässer würden weniger verschmutzt, Felder weniger überdüngt. Tiere fielen als Herde für Krankheiten wie BSE oder Vogelgrippe weg. Überall auf der Welt könnten Menschen besser ernährt werden, ohne dass dies auf Kosten der Umwelt ginge. Allerdings würden in der Landwirtschaft noch mehr Jobs verloren gehen als ohnehin schon. Es wäre eine technische Revolution, die den gesamten Planeten verändert.

Hinzu kommt der ethische Aspekt: Das Ende der beengten Tierhaltung und der Schlachthäuser wäre absehbar. Der Gedanke an Millionen Tiere, die für den menschlichen Verzehr getötet werden, wird künftigen Generationen vielleicht genauso steinzeitlich erscheinen, wie uns die Vorstellung, in der Küche einem lebenden Huhn den Kopf abzuhacken. Und es wird überraschende neue Koalitionen und Konflikte geben: Diejenigen, die bei jeder Gelegenheit vor Gentechnik oder "Frankenfood" warnen, werden sich plötzlich mit ebenso ethisch argumentierenden Vegetariern oder Tierrechtlern auseinandersetzen müssen. Unser Leben wird in jedem Fall sehr viel spannender sein als der deutsche Zukunftsdiskurs, der sich derzeit in Debatten über Mehrwertsteuerprozente oder Lohnnebenkosten erschöpft.

 

 

Erschienen in Die Welt vom 03.08.2005