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Appell an Glaubensbrüder: Setzt dem Terror ein Ende! (Kultur, Aktuell, NZZ Online)
The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20091206002014/http://www.nzz.ch:80/nachrichten/kultur/aktuell/appell_an_meine_glaubensbrueder_setzt_dem_terror_ein_ende_1.522722.html
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  • 5. Juli 2007, Neue Zürcher Zeitung

    Appell an Glaubensbrüder: Setzt dem Terror ein Ende!

    Appell an Glaubensbrüder: Setzt dem Terror ein Ende!

    Ein ehemals radikaler britischer Islamist stellt sich gegen die Ideologie des Glaubenskriegs

    Islamisten demonstrieren in Pakistan gegen die Regierung Islamisten demonstrieren in Pakistan gegen die Regierung (Bild: Reuters)
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    Der 27-jährige Hassan Butt wurde als Sohn pakistanischer Eltern in Manchester geboren und war in der radikalen islamistischen Gruppierung Al-Muhajiroun aktiv. Letztes Jahr wandte er sich vom religiösen Extremismus ab. Jetzt reagierte er im «Observer» mit dem folgenden Aufsatz auf die jüngsten Attentate in Grossbritannien.


    Von Hassan Butt

    Vor nicht allzu langer Zeit war ich noch ein Mitglied jener losen Formation halbautonomer und primär durch ihre Ideologie verbundener Gruppen, die sich wohl am besten als Netzwerk des britischen Jihad beschreiben lässt. Da pflegte ich jeweils mit meinen Gefährten in triumphierendes Gelächter auszubrechen, wenn am Fernsehen wieder einmal behauptet wurde, dass islamistische Terrorakte wie die Anschläge vom 11. September oder die Bombenattentate in Madrid und London einzig durch die Aussenpolitik des Westens verursacht seien.

    Indem sie ihren Regierungen die Schuld für unser Handeln zuschoben, nahmen uns diese Kommentatoren gleich die Propagandaarbeit ab. Und wichtiger noch, sie lenkten die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Triebfeder unseres Handelns ab – der islamistischen Theologie.

    Nach den jüngsten Versuchen, in London und Glasgow mit strategisch eingesetzten Autobomben Tod und Zerstörung herbeizuführen, rückte einmal mehr die Aussenpolitik als Hauptursache ins Rampenlicht. Im Radio kommentierte der Londoner Bürgermeister, Ken Livingstone: «Unsere Nachforschungen über die Meinungen und Motivationen entfremdeter junger Muslime haben ergeben, dass nicht Afghanistan, sondern der Irak im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit steht.»

    Dualistisches Weltmodell

    Ich verliess das Jihad-Netzwerk im Februar 2006, aber wenn ich ihm noch verbunden wäre, dann würde ich heute wieder lachen. Mohammed Siddique Kahn, der führende Kopf der Londoner Attentate vom 7. Juli 2005, gehörte wie ich dem Netzwerk an – wir sind uns zwei Mal begegnet; und obwohl viele islamische Extremisten in Grossbritannien tatsächlich Zorn über den Tod ihrer Glaubensbrüder in anderen Ländern verspüren, ist dies doch nicht die wichtigste Ursache ihres Handelns. Was mich und viele meiner Gefährten dazu antrieb, in Grossbritannien – unserer Heimat – und in anderen Ländern Terroranschläge zu planen, war das Gefühl, für die Erschaffung eines revolutionären Staates zu kämpfen, der am Ende der ganzen Welt die Gerechtigkeit des Islam bringen würde.

    Aber wie kam es dazu, dass diese (fragwürdige) Utopie mit anhaltender Gewalt durchgesetzt werden sollte? Wie rechtfertigen radikale Islamisten solchen Terror im Namen ihrer Religion? Der Platz reicht hier für eine umfassende Darstellung nicht aus, aber ich kann zumindest auf das dualistische Weltmodell hinweisen, das dem Raisonnement der Extremisten zugrunde liegt. Auf individueller Ebene mögen Muslime dem Säkularismus zustimmen oder ihn ablehnen, aber zumindest gegenwärtig erlaubt die formelle islamische Theologie – im Gegensatz zur christlichen – keine Trennung von Staat und Religion; diese werden als ein und dasselbe verstanden. Die jahrhundertealte islamische Rechtstradition deckt auch das Verhältnis und die Interaktion zwischen dem Dar ul-Islam («Haus des Islam», den muslimischen Ländern) und dem Dar ul-Kufr (den Ländern der Ungläubigen) ab und hält Verhaltensregeln für den Handel, für Krieg und Friedenszeiten bereit.

    Die Radikalen führen diese Grundsätze nun zwei Schritte weiter. Im ersten Schritt argumentieren sie, dass derzeit kein wahrer islamischer Staat existiere und dass demzufolge die gesamte Welt «Dar ul-Kufr» sein müsse. Schritt zwei heisst dann: Da der Islam den Unglauben bekämpfen muss, erklärt man der ganzen Welt den Krieg. Wie ich selbst wurden viele meiner einstigen Weggefährten von extremistischen Predigern in Pakistan und Grossbritannien belehrt, dass diese Neuklassifizierung der Welt als Dar ul-Harb («Haus des Krieges») es jedem Muslim gestatte, die fünf geheiligten Rechte zu verletzen, die jedem unter der Herrschaft des Islam lebenden Menschen garantiert sind: Leben, Besitz, Land, Geist und Glaube. Im Haus des Krieges ist alles erlaubt, auch feige, verräterische Anschläge auf Zivilisten.

    Die Imame schweigen

    Dieses dualistische Weltverständnis hat Englands Muslime in einen Konflikt gestürzt. Über Jahrzehnte hin nutzten radikale Islamisten die Spannung zwischen islamischer Theologie und dem modernen säkularen Staat für ihre Zwecke aus, indem sie etwa typischerweise ein Gespräch mit der Frage «Bist du Brite oder Muslim?» begannen. Aber die Hauptursache für den Erfolg der Radikalen ist die Tatsache, dass die meisten islamischen Institutionen in England schlicht und einfach nicht über Theologie reden wollen. Sie weigern sich, die schwierige und oft komplexe Frage nach dem Stellenwert der Gewalt im Islam anzugehen; stattdessen wiederholen sie das Mantra, dass der Islam eine friedvolle Religion und der Glaube eine persönliche Angelegenheit sei, und hoffen, dass sich diese ganze Debatte irgendwie in nichts auflösen wird.

    Das hat den Radikalen auf dem Territorium religiösen Denkens freies Spiel gelassen. Als einer, der einst selbst neue Anhänger für die extremistische Lehre rekrutierte, muss ich es wissen: Jedes Mal, wenn wir aus einer Moschee verwiesen und verbannt wurden, fühlte sich das an wie ein moralischer und religiöser Sieg.

    Ausserhalb Grossbritanniens gibt es Denker, die diesen Zwei-Schritt-Revisionismus rückgängig machen wollen. Eine Handvoll Gelehrte aus der arabischen Welt haben versucht, dem Radikalismus mit einer historischen Argumentation einen Riegel zu schieben: Die islamischen Juristen seien beim Aufsetzen der Regeln für einen Krieg stets von der Vorstellung eines existierenden islamischen Staatswesens ausgegangen, welches den Krieg in einer verantwortungsbewussten und mit den islamischen Glaubensregeln konformen Weise handhaben würde. Mit anderen Worten: Als Individuen haben die Muslime nicht das Recht, im Namen des Islam der Welt den Krieg zu erklären.

    Schritt in die Gegenwart

    Es gibt aber noch ein weiteres Argument, das mir und anderen vormaligen Radikalen, die sich inzwischen vom Islamismus abgewandt haben, grundlegender und schlagkräftiger scheint; denn es impliziert den Schritt hinaus aus dem dogmatischen Paradigma und hinein in die heutige Realität: Die Muslime leben ganz einfach nicht mehr in der bipolaren Welt des Mittelalters.

    Tatsache ist, dass die britischen Muslime Bürger dieses Landes sind. Wir sind nicht mehr Einwanderer im Land der Ungläubigen. Meine Generation wurde hier geboren, ist hier aufgewachsen, hat hiesige Schulen besucht, arbeitet hier und wird hier bleiben. Und mehr als das: In einem noch nie da gewesenen Mass wird es den Muslimen in Grossbritannien heute zugestanden, dass sie ihre religiöse Identität durch ihre Kleidung, den Bau von Moscheen, die Einrichtung von Friedhöfen und nicht zuletzt im Genuss gleicher Rechte vor dem Gesetz gestalten können.

    Aber es reicht nicht zu sagen, dass die Muslime, weil sie sich hier nun einmal zu Hause fühlen, die Passagen im Koran einfach überblättern sollen, die zum Töten der Ungläubigen aufrufen. Wenn man sich um die Auseinandersetzung mit diesen jahrhundertealten theologischen Postulaten drückt, dann wird die Kluft zwischen der islamischen Theologie und der modernen Welt jeden Tag tiefer. Es mag eine unangenehme Tatsache sein: aber der Grund dafür, dass Abu Qatada – der fundamentalistische Religionsgelehrte, den palästinensische Militante unlängst im Tausch gegen den BBC-Journalisten Alan Johnston freibekommen wollten – eine grosse Gefolgschaft hat, liegt darin, dass er hochgelehrt ist und dass seine religiösen Interpretationen und Rechtssprüche auf einer soliden argumentativen Basis stehen. Auch wenn ich seine Ansichten mittlerweile in keiner Weise mehr teile, kommt ihnen innerhalb des islamischen Kanons doch Gültigkeit zu.

    Seitdem ich das Netzwerk des britischen Jihad verlassen habe, bin ich von vielen Muslimen des Verrats angeklagt worden. Wüsste ich von irgendeinem geplanten Anschlag, dann würde ich nicht zögern, dies zu melden; aber im Gegensatz zu dem, was mancherorts behauptet wird, bin ich kein Überläufer und Informant.

    Land der Koexistenz

    Ich glaube, dass das Thema Terrorismus entmystifiziert werden könnte, wenn erst einmal Muslime und Nichtmuslime offen über die Ideen diskutieren würden, die den Terror alimentieren. Die britischen Muslime müssten sich zu diesem Zweck aus ihrer Starre der Abwehr und Verneinung lösen und sich gewahr werden, dass es keine Schande ist, wenn man das Vorhandensein extremistischer Strömungen innerhalb der islamischen Gemeinschaften hier und weltweit eingesteht. Aber diese Entmystifizierung kann nicht geleistet werden, solange die einzigen Brücken der Interaktion diejenigen zwischen den radikalen Islamisten und den Sicherheitsdiensten sind.

    Wenn unser Land sich den radikalen und gewalttätigen Extremisten tatsächlich stellen will, dann müssen die islamischen Religionsgelehrten zunächst einmal über die Bücher gehen. Wir brauchen neue, zeitgemässe Regeln, ein revidiertes Verständnis für die Rechte und Verantwortlichkeiten von Muslimen, deren Häuser und Seelen fest in dem verwurzelt sind, was ich das Land der Koexistenz nennen möchte. Und wenn dieses neue theologische Terrain erschlossen ist, dann werden Muslime im Westen sich von längst obsoleten Weltbildern befreien und die Regeln des Zusammenlebens neu formulieren können; dann werden wir vielleicht entdecken, dass das Konzept des Tötens im Namen des Islam nur mehr ein Anachronismus ist.

    Aus dem Englischen von as.
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