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 Heft 02/2009 | Heruntergewirtschaftet | Seite 12 - 13

Ralf Herzig

Bitterfeld – Beschreibung einer Traurigkeit

Ein Foto-Essay

Niemals werde ich mein erstes Ankommen vergessen. Es war das Jahr 1987. Die Jahreszeit habe ich vergessen. Das Licht war angemessen grau. Noch auf den Stufen des Reichsbahnwaggons, selbst von einem passenden Schmutzfilm überzogen, erwisch­te mich die erste Ladung Dreck, flog mir, von gnadenlosen Winden getrieben, mitten hinein ins Gesicht, hinterließ schmerzhafte Flecken auf der Hornhaut meiner Augen und stopfte mir die Nasenlöcher zu. Mein Gaumen registrierte einen faulig-ätzenden Geschmack. Bitterfeld ist das Elend, dachte ich und mein erster Impuls war es umzukehren, um den eben verlassenen Eisenbahnwagen erneut zu entern und in der relativen Sicherheit meines Abteils unterzutauchen. Ich widerstand und wagte erste Schritte in eine Urbanität, die als Synonym galt für das, was Menschen der Natur antaten, wenn sie sich dem Primat der Ökonomie beugten.

Die Stadt selbst war ein Mischwesen. Nirgendwo sonst sah ich bisher diese nahtlose Verzahnung von Industrie- und Wohngebieten. Die Leute wohnten praktisch inmitten von Schmutz speienden Fabriken. Zwischen den Häusern schlängelten sich endlose Rohrleitungen, aus denen es zischte und kleine graue Wolken puffte. Am Ende eines Fußballplatzes tat sich eine zehnstöckige Grube auf, die bis zum Horizont reichte: Die Braunkohle fraß sich in die Stadt hinein, näherte sich bis auf 500 Meter dem Zentrum. Und über allem ragten unzählige Formen von Industrieschloten, die schwarzen, gelben, grauen Qualm von sich stießen.

Das erste, was mir auffiel, war die dicke, klebrige Kruste an den Fassaden der Häuser und die vielen blinden Fenster. Die Luft war gleichfalls klebrig, so dass die windgetriebenen Partikel einfach an mir haften blieben. Als zweites wurde mir die eigentümliche Färbung Bitterfelds bewusst. Wie durch einen speziellen Farbfilter betrachtet, lag eine monochrome, graubraungrünliche Lasur über Häusern, Landschaft und Fabriken. Obwohl ich ursprünglich einen Schwarzweißfilm in die Kamera eingelegt hatte, erkannte ich schnell, dass diese Farbigkeit ein wesentliches Kennzeichen des Ortes war. Leuchtende Farben gab es auch, vereinzelt, als Kleidung oder auf Plaste-Tüten, wie eine Trotzreaktion der Bewohner zelebriert.

Ich wanderte durch die Straßen, fotografierte heimlich und versuchte mich einem Ort anzunähern, der seinen  Schrecken hemmungslos vor mir ausbreitete, auch wenn noch hie und da die ehrwürdig-bürgerliche Historie Bitterfelds durchschimmerte. Eine Bürgerlichkeit, die vor über hundert Jahren endete, als Kohle gefunden wurde und die Chemieindustrie die Region für sich entdeckte.

Es gab Straßenzüge, die einen so desolaten Eindruck hinterließen, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass ein Mensch freiwillig in diesem Umfeld sein Leben einrichtete. Später einmal, als ich Bitterfeldern diese Frage stellte, bekam ich immer dieselbe, resignative Antwort: "Wo sollen wir denn hin, hier ist doch unsere Heimat." Ich beobachtete Frauen, die einen heroischen Kampf  gegen die permanente Blindheit der Fenster führten – eine Anstrengung, die vielleicht für eine Woche genügte, dann hatten Staub und Dreck den kurzen Durchblick wieder verschleiert. Wie ich hörte, bekamen die Bewohner einmal jährlich die Farben für einen Fensterneuanstrich vom Chemiekombinat Bitterfeld ersetzt, was ich schon damals für blanken Zynismus hielt.

Ich sah samstagnachmittags Leute ihr Auto waschen oder im Garten arbeiten – was sie ernteten, sollte nicht gegessen werden, hieß es. Es gab eine Sehnsucht nach dem normalen, kleinbürgerlichen Leben, so wie überall in diesem Land. Was mich immer ein wenig irritierte, weil ich es anders erwartet hatte, war, dass niemand aggressiv auf meine Fragen reagierte. Die Antworten, die ich erhielt, waren meist freundlich und traurig. Die Bitterfelder waren sich ihrer Lebenssituation durchaus bewusst und sie machten, was Menschen immer machen: sie versuchten sich den Verhältnissen anzupassen, um zu überleben.

Dass dies über lange Zeiten ein Trugschluss war, konnte man an den Statis­tiken, die nach dem Ende der DDR veröffentlicht wurden, ablesen. Da war die Rede von 40 000 Tonnen Staub und 90 000 Tonnen Schwefeldioxyd, welche jährlich auf die Stadt herabrieselten und einen permanenten, penetranten Gestank in den Straßen erzeugten. Und es gab natürlich die vielen Deponien, Lagerstätten dessen, was übrig blieb von der Produktion und was hundert Jahre lang achtlos abgekippt wurde – nach uns die Sintflut – und nun den Boden kontaminierte.

Als Symbol galt immer der Silbersee, an der Chaussee zwischen Bitterfeld und Wolfen gelegen. Hier haben die Filmfabrik AGFA-Wolfen, später dann ORWO, Abfälle, Restschlämme und Abwässer seit den dreißiger Jahren in das Restloch des Tagebaus "Grube Johannes" eingeleitet. Der Volksmund sagte, dass man in diesem See Filme entwickeln könne, was aber nicht zutraf, da vor allem Reste der Kunstfaserproduktion eingeleitet wurden. Die stark schwefelhaltigen Rückstände sorgten allzeit für intensive Geruchsbelästigungen und, je nachdem wie der Wind stand, hatten die Bewohner der Eigenheimsiedlung an der Carl-von-Ossietzky-Straße in Wolfen diesen oder aber die "Düfte" der andererseits ihrer Häuser gelegenen Chlorfabrik in der Nase. Der Silbersee dokumentierte zu jeder Jahreszeit seine gefährliche Besonderheit. Innerhalb eines fünf bis zehn Meter breiten Uferstreifens war alles tot, was sich dem Gewässer zu sehr genähert hatte. Die Skelette abgestorbener Bäume waren von fahlgrauer Färbung und den Boden bedeckte eine hellgraue Kruste getrockneter Abfallschlämme.

Manches Mal habe ich darüber nachgedacht, wie es mit Bitterfeld enden könnte, und die einzige Idee, welche mir einfiel, hieß, alles radikal zuzuschütten und eine große Mauer mit überdimensionierten Warntafeln zu errichten. Umso überraschter war ich, als ich vor wenigen Jahren für eine Reportage erneut in Bitterfeld weilte. Eine saubere Stadt empfing mich, manches war saniert, vieles abgerissen und der geflutete Tagebau Goitzsche mit akkurater Uferpromenade vermittelte den Anschein eines kleinen idyllischen Meeres. Bitterfeld warb allen Ernstes um Touristen.

Natürlich waren die blühenden Landschaften nicht ohne Opfer zu haben. Von den ehemals über 95 000 Beschäftigten haben viele die Region verlassen oder sind von Arbeitslosigkeit betroffen. Und auch die Bedrohung ist noch längst nicht beendet, denn unterirdisch bewegt sich die riesige, 220 000 Kubikmeter große Wasserblase eines hochgiftigen Cocktails aus all den verantwortungslos abgelassenen Abwässern der letzten hundert Jahre in Richtung Mulde.