Kanu fahren, Kanu schleppen – so sucht der Schotte Alexander Mackenzie in Nordamerika eine Passage zum Pazifik. Beim ersten Mal landet er am Eismeer. Aber beim zweiten Mal hat er Erfolg. Die Indianer halten ihn für einen Zauberer.
Was soll er nun davon wieder halten? Viele Monster, sagen die Indianer, lauerten weiter unten am Fluss. Es werde mehrere Winter dauern, bis er an die Mündung komme. Und bis er gar wieder von dort zurück sei, werde er ein alter Mann sein. Die Geschichten, die die Ureinwohner erzählen, können stimmen oder auch nicht. Andere Informanten aber gibt es nicht.
Die paar Indianer in seiner Crew sind nur zu geneigt, die Horrorlegenden zu glauben. Sie wollen ohnehin schon lange nicht mehr weiter, sondern wieder nach Hause zu Frau und Kind. Alexander Mackenzie kennt das Gejammer nun schon seit Tagen. Wieder einmal bleibt er hart. Und beschließt, kein Wort von dem zu glauben, was er hört. Wer etwas entdecken will, was noch keiner kennt, muss ab und zu auch mal stur sein.
Der Schotte von der Isle of Lewis, die zu den Äußeren Hebriden gehört, hat sich vorgenommen, einen Weg durch Kanada zum Pazifik zu finden. Nicht auszudenken, was das für die North West Company, deren Teilhaber er ist, bedeuten würde. Am Pazifik haben die Russen Handelsstationen, droben in Alaska wie auch drüben auf der Halbinsel Kamtschatka. Da ließen sich die Pelzgeschäfte bis nach St. Petersburg ausdehnen. Und Alexander Mackenzie, der Entdecker des Weges, stünde vielleicht eines Tages als großer Pionier vor der Zarin Katharina der Großen...
Mackenzie weiß, der Weg bis dahin ist noch weit. Aber große Entfernungen haben ihn noch nie geschreckt. Mit zwölf Jahren ist er 1774 mit seinem Vater nach New York ausgewandert. Mit 17 trat er dort in das Kontor eines Pelzhandelsunternehmens ein. Mit 23 begann er, für die 1779 gegründete North West Company in den kanadischen Westen zu ziehen – Tausende Kilometer, bis in die Nähe des Athabasca River. Dort hat der Amerikaner Peter Pont das Fort Chipewyan errichtet, den westlichsten Pelzhandelsposten vor der großen Barriere namens Rocky Mountains.
Gut einen Monat ist Mackenzie nun schon auf dem riesigen, unerforschten Fluss unterwegs. Er ist am 3. Juni 1789 von dem Fort aus aufgebrochen, hat mit seinen Kanus den Großen Sklavensee durchfahren und mehrere Katarakte überwunden. Der Fluss strömt seit einiger Zeit zwar nicht mehr nach Westen, sondern allenfalls nach Nordwesten. Zu seinem Schrecken sieht Mackenzie nun auch schneebedeckte Gipfel im Westen. Wie soll der Fluss, wenn er denn überhaupt dorthin strebt, dieses Gebirge überwinden?
Wie auch immer, Mackenzie gibt noch nicht auf. Er bringt einen der fabulierenden Indianer dazu, als Führer mitzukommen. Damit endlich Frieden in seinen Kanus ist, verspricht er allen Begleitern, dass er auf jeden Fall umkehren werde, wenn sie nach sieben Tagen immer noch nicht an ein Meer gekommen seien. Dann greifen sie wieder zu den Paddeln.
Der Fluss wendet sich jetzt geradewegs nach Norden. Die letzte Hoffnung, an den Pazifik zu gelangen, stirbt. Am 12. Juli weiten sich die Ufer, eine große, von dünnen Eisschollen bedeckte Wasserfläche breitet sich vor der Gruppe aus. Weiße Wale, die aussehen wie Eisstücke, tauchen ab und zu aus den Tiefen auf. Die Männer schlagen ein Lager auf einer Insel auf. In der Nacht beginnt das Wasser zu steigen, sie müssen das Gepäck ein Stück weiter an Land ziehen. Mackenzie glaubt zunächst, die Ursache sei der Wind. In den folgenden Tagen steigt und fällt das Wasser jedoch in einem regelmäßigen Rhythmus. Nun weiß der Schotte, dass es sich um die Tide handelt. Er ist auf dem Fluss, der bald seinen Namen tragen wird, in 40 Tagen bis ans Nördliche Eismeer gefahren.
Auf dem Rückweg flussaufwärts fragt Alexander Mackenzie wieder Indianer nach einem Weg nach Westen. Wieder hört er Legenden von unheimlichen Wesen, die Menschen angeblich mit ihren Blicken töten. Er versucht die Einheimischen mit Perlen und Metallgegenständen zum Reden zu bringen. Alles vergeblich, er kriegt keinen Führer. Nach insgesamt 102 Tagen ist die Reise am Fort Chipewyan zu Ende. Mackenzie hat als Erster den Nordwesten Kanadas durchquert, fast 4 800 Kilometer mit dem Kanu. Aber was soll er mit diesem Triumph? Für die North West Company hat er keinen praktischen Nutzen. Kein Wunder also, dass kaum ein Mensch davon redet. Das Einzige, was zählt, ist die Route zum Pazifik. In einem Brief an seinen Vetter Roderick schreibt der Schotte die bittere Erkenntnis aufs Papier. Er nennt den Strom, den er erforscht hat, den „Fluss der Enttäuschung“.
Aber Mackenzie will es noch einmal versuchen. Im Winter 1791/92 geht er nach London, um sich dort bessere Kenntnisse der Astronomie und Navigation anzueignen. Im Herbst 1792 ist er wieder am Fort Chipewyan in Kanada. Alexander Mackenzie weiß schon, dass James Cook auf seiner dritten Weltreise vom Pazifik aus erfolglos eine Schiffspassage quer durch Kanada gesucht hat. Er weiß noch nicht, dass George Vancouver gerade unterwegs ist, um von See aus einen neuen Versuch zu unternehmen. Mackenzie glaubt nur fest daran, dass es irgendeinen Weg geben muss – sei es zu Wasser, sei es zu Land.
Alexander Mackenzie hat ein Boot von gut sieben Meter Länge bauen lassen. Es kann bis zu anderthalb Tonnen Gepäck, Proviant und Munition aufnehmen und ist im Leerzustand trotzdem so leicht, dass zwei Männer es auf einem halbwegs guten Pfad fünf bis sechs Kilometer ohne Rast tragen können. Der Weg führt nun den Peace River aufwärts direkt nach Westen. Nach 900 Kilometern, an der Einmündung des Smoky River, richten die Männer ein Winterlager ein. Im Frühjahr kämpfen sich Mackenzie, weitere sieben Weiße und zwei Indianer an die Rocky Mountains heran. Stromschnellen zwingen sie zu Umwegen über Land. Sie hauen sich Wege durch den dichten Wald, schleppen das Boot über Berghänge, ziehen es an Steilstücken mit einem Tau nach oben, das sie um Baumstümpfe schlingen. Der härteste Test ist ein 15 Kilometer langer Katarakt kurz vor der großen Wasserscheide. Mackenzie klettert aus dem Boot, dann über Felsen hoch, um einen Weg für das lange Umtragen zu suchen.
Indianer vom Stamm der Sekani erzählen, sie hätten Kontakt mit einem Volk, das ab und zu an einen großen See mit „stinkendem Wasser“ ziehe. An dessen Küste landeten gelegentlich Schiffe mit Menschen an Bord, die so aussähen wie Mackenzie. Sie würden Eisen, Messing, Kupfer und Perlen gegen Pelze tauschen. Um dorthin zu kommen, müsse die Expedition das Boot an drei Seen vorbeitragen, dann komme ein kleiner, dann ein großer Fluss ... Der Schotte vollendet den Gedanken für sich allein: Der Fluss mündet irgendwann ins Meer.
Am 12. Juni überwindet Alexander Mackenzie mit seinem Trupp den Kamm des Felsengebirges. Nun fließen die Flüsse nicht mehr nach Osten, sondern nach Westen. In einer besonders gefährlichen Stromschnelle zerbirst das Kanu an einem Felsen. Einer der Führer flüchtet aus Angst vor den Wasserfällen, die noch kommen. Mackenzie lässt ein neues, neun Meter langes Boot aus Birkenrinde bauen. Wieder droht eine Meuterei im Team. Doch der Schotte ist wild entschlossen. Sie könnten ja hier warten, sagt er seinen Leuten, notfalls werde er sich eben ganz allein bis zum Pazifik durchschlagen. Da wollen sie doch lieber mit.
Ein alter Häuptling, den sie treffen, zeichnet ihnen auf ein Stück Rinde den weiteren Weg. Der Fluss, dem sie zunächst folgen sollen, fließt aber Richtung Südosten. Der Landweg zum Meer, sagen die Indianer, sei erheblich kürzer. So laden sich die Expeditionsteilnehmer ihre Fracht auf den Rücken, Mackenzie trägt 35 Kilo, plus Waffen und Fernrohr über der Schulter, seine Leute 45 Kilo. Seit dem Aufbruch vom Winterlager sind sie 1500 Kilometer auf den Flüssen gefahren. Nun folgen 420 Kilometer zu Fuß. Sie stapfen durch morastiges Land, sehen die schneebedeckten Spitzen des Küstengebirges.
An einem indianischen Siedlungsplatz steigen sie ein letztes Mal in ein Boot. Das Gewässer, das sie befahren, ist ein Meeresarm. Tags darauf steht der Schotte triumphierend am Pazifik. In einen Felsen meißelt er die Nachricht von dem historischen Ereignis: «Alexander Mackenzie, von Kanada über Land, 22. Juli 1793». Die Einheimischen an der Küste halten ihn für einen Geist, weil sie sehen, wie Sterne von seinem Körper ausstrahlen – es sind Lichtstrahlen, die sein Sextant reflektiert. Sie rennen zu ihrem Häuptling und berichten von den seltsamen Zeichen auf den Felsen. Der Häuptling befiehlt ihnen, sich den Symbolen nicht zu nähern, es könne den Göttern missfallen.
Der Rückweg, auf nunmehr bekannter Route, dauert nur 33 Tage. Mackenzie hat sein Ziel erreicht. Von nun an widmet er sich nur noch seinen Pelzgeschäften. 1808 kehrt er als „Sir“ nach Schottland zurück. Für seinen Pionierweg zum Pazifik hat ihn die Queen geadelt. Die Route taugt zwar nicht gerade für Handelsschiffe. Aber zur Ehre gereicht hat sie allemal.
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