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Einführung in die Psychosomatik und Somatopsychologie 4
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Gerald Mackenthun, Berlin

Einführung in die Psychosomatik und Somatopsychologie

4. Geschichte der Psychosomatik II und Psychosomatik heute

(Folie 5)

Einer der wichtigsten Konzepte in der Psychosomatik ist das Streßkonzept, basierend auf Cannon und Selye. Der amerikanische Physiologe Walter Bradford Cannon (1871-1945) begann 1914 mit Hundeexperimenten und stellte fest, daß deren Blutgerinnungszeit sich verkürzte, wenn sie wütend waren, nachdem man ihnen dicke drohende Katzen vor die Nase gesetzt hatte. Der in Wien geborene Kanadier Physiologe Hans Selye (1907-1982), der Entdecker des Streß-Syndroms, formulierte Thesen zum Einfluß von Stressoren schon ab 1926 und verfolgte dieses Thema bis weit in die 70er Jahre hinein. "Streß" ist heute ein Allerweltsbegriff, wobei die Auslöser, der Zustand und die Reaktion darauf (der eigentliche Streß) umgangssprachlich nicht getrennt werden. Streß im eigentlichen Sinne ist die Reaktion des Körpers auf jede Anforderung, die an ihn gestellt wird. Die Auslöser werden in der Fachsprache Stressoren genannt. (Horst Mayer, "Das Streßmodell als Erklärungsprinzip", in: Kindlers Psychosomatik, Bd.1, 227 ff)

Streß ist nicht nur einfach eine nervöse Spannung vor einer Aufgabe und ist nicht etwas, was unter allen Umständen vermieden werden muß. Selye differenzierte zwischen "gutem" Eu-Streß und "schlechtem" Dis-Streß. Streßsituationen sind vielmehr bestimmte Belastungen von unterschiedlicher Art und Dauer - psychisch, interpersonal und sozial, Als Stressoren sind die verschiedenartigsten traumatischen, toxischen, infektiösen und emotionellen Umweltreize anzusehen. Allgemein wird angenommen, daß das soziale Umfeld der dichtbevölkerten hochtechnisierten Länder mit ihrer räumlichen Enge, Zeitdruck, Hetze, optische und akustische Überreizung, Ängste, Zwänge, Leistungsdruck und Konflikte Streßreaktionen verursachende Faktoren sind.

Stressoren setzen Streßmechanismen in Gang, die die blitzschnelle Vorbereitung und Bereitstellung der notwendigen Körperenergie für einen Kampf oder für eine Flucht zur Aufgabe haben. Sie lösen in dem Organismus eine Alarmreaktion aus. Sie fordern den Organismus heraus etwas zu tun, die Situation zu bewältigen oder zu meistern. Streß setzt ein, wenn Routinemethoden bei der Bewältigung von Bedrohung versagen.

Die Streßreaktion unterteilte Selye in drei Phasen. Die erste nannte er Alarmreaktion; sie ist charakterisiert durch arteriellen Unterdruck, Temperaturabsenkung, Unterzuckerung des Blutes, verminderte Harnabsonderung, Abnahme des Chloridgehaltes des Blutes, des Natrium- und des Kaliumgehalts und Vermehrung der Lymphozyten im Blut. Das ist die Schockphase. Diese Phase wird abgelöst durch eine Widerstandsphase. Hierbei erfolgt, vermittelt über das sympathische Nervensystem, eine rasche Ausschüttung von Adrenalin aus dem Nebennierenmark. Adrenalin mobilisiert die notwendigen Betriebsstoffe wie Glucose und freie Fettsäuren aus den Energiereserven aus Leber und aus Muskulatur und Fettgewebe. Weiterhin stimuliert es die Herztätigkeit und die Atmung, erhöht den Blutdruck und verlagert das Blut in die Muskulatur. Zugleich mit der Adrenalinausschüttung, wenngleich auch etwas langsamer, werden via Hypothalamus auch andere streßabhängige Hormone wie Wachstumshormone und Cortisol freigesetzt. Sie bewirken eine Stabilisierung der streßinduzierten Stoffwechselvorgänge, insbesondere wenn eine länger andauernde Reizeinwirkung besteht.

Wenn aber nun die so vorbereitete Leistung nicht erfolgt, wirken die im Überschuß mobilisierten Hormone und Stoffwechselprodukte ungenutzt im Körper weiter und können insbesondere bei wiederholtem Ablauf zu psychischen und somatischen Schäden führen (Erschöpfungsphase). Im allgemeinen kehren allerdings nach kurz wirksamen Reizen die veränderten vegetativen Funktionen immer wieder in ihr Gleichgewicht zurück. Wirken die Stressoren jedoch fortlaufend ein, werden auch die Störungen der betroffenen vegetativen Funktionen chronifiziert. Als Folge der gestörten Funktionen können sie schließlich auch organische Läsionen entwickeln. (Neubauer und Jürgensen, in: Kindlers Psychosomatik, Band 1, 487/488)

Das Vorhandensein von Streß wurde lange Zeit diagnostiziert und gemessen an der Katecholamin-Ausschüttung. Katecholamin ist der Sammelname für einer Reihe von biogenen Aminen, die zur Signalübermittlung im Körper dienen. Sie tragen Namen wie Azetychlorin, Serotonin, Dopamin und Histamin. Viele von ihnen werden in der Nebenniere gebildet, wie beispielsweise der blutdrucksteigernde Neurotransmitter Noradrenalin, der zu Adrenalin umgesetzt wird. Im Streßkonzept wird folgender psychosomatischer Mechanismus angenommen: Aus dem Mensch-Umwelt-Bezug heraus wirken Stressoren auf den Menschen, die dieser kognitiv aufnimmt und verarbeitet, was wiederum neuronale Mechanismen in Gang setzt. Das verändert einerseits das Verhalten, andererseits das vegetative (unwillkürliche) Nervensystem. Über das Vegetativum werden Organe in ihrer Funktion beeinflußt, was sich zu funktionellen Störungen und schließlich Strukturveränderungen auswachsen kann. Streß ist so gesehen identisch mit dem Erregungspegel von Neurotransmittern und einer leistungssteigernden Aktivierung.

Streß ist vor allem im Berufsleben untersucht worden. Dort nehmen die körperlichen Belastungen ständig ab, die psychomentalen Belastungen jedoch nehmen zu. Bei immer weniger Kraftaufwand können kleinste Fehler verheerende Folgen haben. Die Unterforderung einerseits und die Überforderung andererseits entfernen sich von natürlichen Lebensbedingungen. Ein weiteres Problem ist, daß viele Menschen nicht mehr zwischen positiver, herausfordernder Belastung und krankmachender Überlastung unterscheiden können. Es fehlt ein gesunder Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung; viele Menschen leiden unter einem Verlust ihrer Erholungsfähigkeit aufgrund von Freizeitstreß.

Es ist mit das Ziel des Streß-Ansatzes, herauszufinden, welche Faktoren den Menschen helfen, die Belastungen zu bewältigen. Wenn man nicht dazu in der Lage ist oder die Hilfe der anderen nicht annehmen kann, kommt es zu tiefgreifenden Veränderungen, zu starken Gefühlen der Unfähigkeit und der Niederlage. Angst und Ungewißheit sind der Nährboden für Stressoren. Ein ideales Einfallstor für Stressoren ist die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben, mit Ehe, Familie oder Beruf. Die Folgen sind erlebte Überforderung, Zunahme von Fehlhandlungen, Leistungsabnahme, verstärkte Kommunikationsprobleme und Fehleranfälligkeit, häufiges Kranksein und Zunahme von Unfällen.

Wie auch in anderen Bereichen der Psychosomatik sind die Mediatoren, die Verbindungsglieder dieses Prozesses noch weitgehend unbekannt. Die Streßforschung war jahrelang darauf fixiert, die Theorie von der exogenen, von außen kommenden Krankheitsverursachung zu verfolgen, die den Vorteil hatte, einfach, direkt und linear zu sein. Aber die tatsächliche Realität zeigte dann doch, daß Krankheit das Produkt des Zusammenwirkens der äußeren Umwelt und der Reaktion des Betroffenen darauf ist. Ein solches interaktives Modell ist komplex und nicht linear (Bräutigam 69f). Die ungeheure Komplexität des Gegenstandes wird daran deutlich, daß kein individuelles Reaktionsschema dem anderen gleicht. So konnte bis heute ein umfassendes Verständnis der Rolle von Streß bei der Entstehung von Krankheit nicht erreicht werden. Eindeutig nachzuweisen ist nur, daß Menschen unter Streß häufiger über körperliche und seelische Beschwerden klagen und zu Fehlverhalten und Unfällen neigen. Streß und Krankheit sind zudem in einem Rückkopplungsprozeß zusammengeschweißt: Streß erleichtert die Entstehung von Krankheiten und viele Krankheiten erzeugen Streß.

Nicht so weit entfernt davon ist das Konzept der Lerntheorie. Dieses Konzept besagt, daß die gemeinsame Ursache aller psychosmatischen Störungen in einer lang anhaltenden erhöhten Aktivierung des Organismus liegt. "Langanhaltende Aktivierung" wird gleichgesetzt mit langanhaltender emotionaler Stimulierung. Emotion ist in diesem Modell im Prinzip der schon bekannte Streß. In Tierversuchen ab Ende der 50er Jahre führten Belastungen (Hunger, Enge, Elektroschocks) zu Bluthochdruck und ulzerativen Magenläsionen. Aber es muß noch etwas hinzukommen, nämlich Kontrollverlust (Weiss 1972, Ader 1973). Der Verlust der Kontrolle über sein Lebensschicksal ist ein krankheitserzeugender Faktor im Tierexperiment. Die nicht erfolgreiche Vermeidung von Stressoren wie Bedrängung und Schmerz führt zu Verzweiflung und Resignation und überproportional zu Magenschädigungen.

Die Übertragung dieser Ergebnisse auf den Menschen wird als schwierig angesehen oder gar als unmöglich abgelehnt. Das Konzept der erlernten Hilflosigkeit (Martin Seligman 1969; Seligman war früher Direktor für Klinische psychologische Forschung der University of Pennsylvania und bis vor kurzem Präsident der American Psychological Association) kommt den Tierexperiment-Ergebnissen aber sehr nahe. Der Kern der Seligman-These besteht in der Beobachtung, daß einige Menschen auf Belastung nicht mit aktiven Bewältigungsversuchen antworten, sondern in einen Zustand der Hilf- und Hoffnungslosigkeit geraten und so einem Dauerstreß ausgesetzt sind. Pulsfrequenz und Blutdruck steigen und führen zu funktionellen und später auch zu strukturellen Organschäden. Die Reaktionen auf Stressoren können ganz individuell sein, doch ist die Auswahlmöglichkeit nicht besonders groß: Flucht, Depression, Selbstbestrafung, Aggression, Gegenwehr. Einige lernen schnell um, andere langsam und einige machen gar keine Versuche, ihre Situation zu verbessern. Chronische psychosomatische Beschwerden sind in einem nicht geringen Umfang erlerntes Verhalten und können durch Konditionierung ausgelöst und verlängert werden. Mit Hilfe einer Umkonditionierung wird in einigen Therapierichtungen versucht, den Kreislauf zu durchbrechen.

Was macht krank? Pathogenese der psychosomatischen Krankheiten

Wir haben mit dem bisher Gesagten eine ganze Palette von krankheitsfördernden und krankheitsauslösenden Faktoren kennengelernt, die bei einer individuellen Erkrankung eine mehr oder minder große Rolle spielen. Sie sollen im Folgenden noch einmal rekapituliert werden.

Zu den auslösenden Einzelfaktoren können schwere Krisen und Traumata gehören, ebenso unbewußte Konflikte und nicht adäquat verarbeitete Stressoren. Psychoanalyse und die Streßforschung liegen in ihren Grundannahmen erstaunlich dicht beieinander, wenn man Neurose als unspezifische Anpassungsreaktion auf frühkindliche "Stressoren" auffaßt. Die positive Bedeutung einer tragenden und kontinuierlichen Mutter-Kind-Bindung wird heute nicht mehr angezweifelt. Wo sie fehlte, liegen Neurosen und Psychosomatosen nahe. Andererseits ist in der modernen Tiefenpsychologie die ursprünglich fast ausschließliche Betonung frühkindlicher Entwicklungskonflikte zugunsten einer umfassenderen Entwicklungslehre (z. B. Erik Erikson "Identität und Lebenszyklus" 1950) des Individuums mit seiner Umwelt erweitert worden. In jeder Lebensstufe kann es zu Krisen und Konflikten kommen, die altersadäquat gelöst sein wollen.

Intellektuell ehrliche Ärzte wie Alexander Mitscherlich mußten in ihren Studien feststellen, daß ihre Theorie nicht auf alle Patienten anwendbar war. Seine These von der doppelten Verdrängung und die eines simultanen psycho-somatischen Geschehens konnte nicht immer beobachtet werden. Besonders bei chronischen somatischen Erkrankungen fehlte häufig ein für Außenstehende nachvollziehbarer Konflikt, eine existentielle Erschütterung oder eine psychosoziale Versagungssituationen, die eine körperliche Reaktion wie etwa Übersekretion von Magensäure verständlich werden lassen. (Rattner/Danzer 1998, 114) Die vor 15 Jahren erkannte Tatsache, daß unabhängig von seelischen Faktoren Bakterien (Helicobakter pylori) wesentlich mit an der Entstehung von Magengeschwüren beteiligt sind, relativiert die These, Magengeschwüre seien eine psychosomatische Erkrankung, zusätzlich.

Aber der gesamte Lebensstil eines Menschen kann doch auf Dauer zu psychosomatischen Beschwerden führen, wenn ungesunde und selbstschädigende Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden, die den Körper belasten und ihn "reif" machen für eine somatische Erkrankung. Krankheit kann auch als falscher Lebensvollzug auf der Grundlage eines "Lebensirrtums" aufgefaßt werden (Alfred Adler). Vorurteile, Verdrängungen und Rationalisierungen lassen uns falsche Wege einschlagen, die uns von den Mitmenschen entfernen. Es wurde schon angedeutet, daß damit immer auch eine Einschränkung der freien Kommunikation verbunden ist. Man trennt die Verbindungen zu innerpsychischen Anteilen, die uns unangenehm oder peinlich sind, ebenso wie die lebensnotwendigen Beziehungen zu den Mitmenschen gelockert werden. Auf Dauer eingeübt, werden alte oder schlechte Gewohnheiten zu verfestigten Konditionierungen.

Nicht nur der mehr oder minder bewußt gewählte Lebensstil hat Wirkung, auch die Lebensumstände sind in der Ätiologie von ausschlaggebender Bedeutung. Eine Überforderung durch unempathische, harte oder verwöhnende Eltern oder durch Armut, Arbeitslosigkeit, Behinderung und quälende Krankheiten können den Menschen zermürben und ihn anfällig machen für Krankheiten. Die unteren Sozial- und Bildungsschichten erkranken häufiger und schwerer.

Psychosomatische Beschwerden tauchen beispielsweise überproportional häufig bei Arbeitslosen auf. Wenn Arbeitslosigkeit nicht Ausdruck psychischer Problemlagen bei Einzelnen ist, handelt es sich um gesellschaftlich verursachte Erkrankungen. Zu den besonders Gefährdeten gehören arme Menschen und Ausländer. Sie müssen schwerere und schmutzigere Arbeiten verrichten, ihnen droht stärker Arbeitslosigkeit. Dieser psychische Druck strapaziert zusätzlich die Gesundheit, wie überhaupt die zahlreichen Bekundungen der Ausländerfeindlichkeit eine zusätzliche tiefe Kränkung bedeuten. Männer wiederum verhalten sich oft Werten entsprechend, die einseitig auf Leistung, Konkurrenz, Arbeitspensum, Tempo und Wettbewerb ausgerichtet sind. Dieses supermännliche Leistungsideal ist gekennzeichnet durch technokratischem Sachzwangdenken, scheinbarer Angstfreiheit und Gefühlsabgespaltenheit.

Ein umfassend ausgebildeter Therapeut wird deshalb immer mit bedenken, daß die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse den Menschen unterstützen können, gesund zu werden, oder krankmachend sein können. Es gehört deshalb mit zu den therapeutischen Aufgaben eines Analytikers, daran mitzuwirken, die Verhältnisse menschlicher zu gestalten. Wie dies im einzelnen zu geschehen hat, kann hier nicht erörtert werden, doch die Aufklärung über die großen gesellschaftlichen Probleme (wie Aufrüstung, Patriarchat, entwertende Kritik, Übervorteilung, Eigennutz) werden mit dazugehören. Die psychosomatische Störung kann in diesem Sinne manchmal auch als Aufbegehren der Vernunft gegen eine unvernünftige, sozial bedrängende Destruktion aufgefaßt werden und ihren Ursprung haben. Die Erkrankung ist dann ein Signal, das den Weg von der psychosomatischen Störung in die Richtung des kritisch sozialen Handelns weist (Beispiel bei Singer 1988, 194 f).

Die Verantwortung des psychosomatisch Kranken für seine organische Erkrankung ist nach wie vor umstritten. Die Symptome psychosomatischer Krankheiten gelten vielen als vom Subjekt hervorgebracht, ähnlich wie Lachen und Weinen, Scham und Ekel. (Kindlers Psychosomatik Band 1, 278) Es sind vor allem die tiefenpsychologischen Schulen, die annehmen, daß der Patient mit der Bildung psychosomatischer Symptome eine unbewußte Intention verwirklicht. Bis zum Vorwurf des Simulantentums oder der Rentenneurose ist es dann nicht mehr weit. Die Vorstellung von einer "Organwahl" darf dabei nicht zu wörtlich genommen werden; dem Körper und seinen inneren Prozessen haftet stets etwas Fremdes an: er ist immer anwesend, bleibt aber geheimnisvoll. Auf der anderen Seite steht die wissenschaftliche Medizin, die Krankheiten als durch Kausalfaktoren verursacht sieht, was die Kranken von sozialen Sanktionen ihres Verhaltens entlastet und aus der Verantwortung für seine Krankheit entlassen.

Viel ist über die Frage gestritten worden, ob eine Krankheit auf Umwelt oder auf Vererbung beruht. Dies wird in der Öffentlichkeit in der Regel noch als Alternative verfochten. In der modernen psychosomatischen Pathogenese wird jedoch eine multifaktorielle Verursachung und Aufrechterhaltung psychosomatischer Erkrankungen vertreten. Körperliches und Seelisches, Anlage und Umwelt, faktische Auslöser und subjektive Verarbeitung, familiäre und gesellschaftliche Verhältnisse treten in eine Wechselwirkung und in ein Ergänzungsverhältnis (Bräutigam et al, 15) und können zu einem einzigartigen individuellen Krankheitsbild führen. Andererseits werden Krankheiten als Wesenheiten angesehen, die einen charakteristischen Verlauf nehmen, unabhängig von der einzelnen Person (Kraiker/Peter 1998, 32). Eine ausgefeilte Zwillingsforschung an eineiigen und zweieiigen Zwillingen hat starke und, wie ich meine, kaum widerlegbare Beweise für den Einfluß von Erbfaktoren auf Krankheiten erbracht, deren Gewicht sogar prozentual ausgerechnet wurde (Bräutigam et al, 15 f). Es kann für die Erbfaktoren, die frühkindliche Genese und für den Bereich späterer lebensgeschichtlicher Einflüsse einschließlich der stützenden oder verweigernden Reaktion der Umwelt jeweils mit ungefähr einem Drittel angegeben werden.

Niemand sollte auf dieser Gewichtung bestehen. Das Verhältnis von Anlage-Lebensereignis-Umwelt-Verarbeitung läßt sich nicht in mathematischen Relationen ausdrücken, weil die Lebenssituationen zu unterschiedlich sind. Frühe Todesfälle, Partnerverlust und andere Trennungserlebnisse schlagen stark zu Buche, ebenso negative Umwelteinflüsse sowie sozialer Druck und räumliche Enge. Umwelt bedeutet unter anderem, daß die Symptome und Syndrome kulturgebunden sind und vom Individuum aus einem Symptompool ausgewählt werden, der in seinem Umfang begrenzt und kulturell determiniert ist. (Dies läßt sich an der Hysterie und ihren im Laufe der Zeit sich wandelnden Symptomen und Definitionen ersehen.) Freud ging weitgehend reduktionistisch vor, ihn interessierten die innerpsychischen Vorgänge; die Reize kommen aber aus sozialen Situationen, wie die Neopsychoanalyse erkannte und würdigte. Die Gesellschaft sozialisiert die Individuen, und die Individuen stellen selbst mit ihren körperlichen Gebrechen sozial etwas dar. Innere und äußere Reize sind für das Individuum allerdings gleichwertig, beides hat gleich große Relevanz in Bedeutung und Verarbeitung.

Die Schwierigkeiten, über Psychosomatik zu sprechen, potenzieren sich, wenn man einen konkreten psychosomatischen Patienten vor sich hat. Das hat mehrere Gründe (Bräutigam et al, 20 f.): So ist die körperliche Krankheitsinterpretation nach wie vor die herrschende. Die Rolle des somatisch Kranken ist den meisten vertraut, sowohl über die Medien, als auch über die Art und Weise wie man in Krankenhäusern und Arztpraxen behandelt wird. Dabei ist auffällig, daß der Patient wie selbstverständlich in eine passive Rolle gedrängt wird, die er gern annimmt, weil sie Entlastung bedeutet. Auch hundert Jahre nach Freud fühlen sich Patienten erleichtert, wenn eine organische Ursache ihrer Beschwerden greifbar ist, für deren Behandlung der Arzt - und nur er - zuständig ist. Schon Freud erkannte und beschrieb detailliert den Widerstand, den psychosomatische Patientinnen entwickelten, wenn sie sich ihrer Lebensgeschichte erinnern sollten. In psychosomatischen Abteilungen beeindrucken nach wie vor die Schwierigkeiten, die das Personal mit den psychosomatischen Patienten hat, die sich nur ungern mit ihren Gefühlen auseinandersetzen wollen, die kaum Phantasien entwickeln und die äußerste Mühe haben, ihr die Krankheit aufrechterhaltendes Verhalten zu sehen, geschweige denn, es zu verändern. Ihre sprachliche Ausdrucksfähigkeit ist gering, so daß sie manchmal als "emotionale Analphabeten" tituliert wurden. Sie sind selten bereit, sich in eine Psychotherapie zu begeben.

Andererseits zeigt sich, daß chronisch Kranke nicht immer hilflos einem überwältigenden Geschehen ausgeliefert sind. Natürlich greifen viele zu unreifen oder fehlangepaßten Mechanismen, die der Umwelt unangenehm auffallen, aber andere reagieren auf ihr Schicksal mit Verhaltensweisen, die ihrer Krankheit angemessen sind, auch wenn sie Gesunden nicht einleuchten oder unverständlich bleiben. Dabei spielen mit hinein Bewertungsprozesse und Adaptationen an die Erkrankung und ihre Folgen. Krankheitsbewältigung wird mit dem englischen Wort Coping bezeichnet und ist abgeleitet von dem englischen bewältigen, meistern. Eine Voraussetzung dafür scheint die Überwindung der Abwehr zu sein, mit anderen Worten die Enttabuisierung und Kommunizierung der Erkrankung. Das wiederum befähigt zur Mobilisierung von sozialen Ressourcen, die Hilfe und Unterstützung leisten können. Manchmal kann die Verleugnung von Krankheit eine anpassungsfördernde Funktion haben, dürfte aber in der Regel eher zur Prolongierung beitragen.

Compliance ist das Annehmen und Befolgen des medizinischen Regimes in der Therapie. Compliance allein kann nicht den hohen Anforderungen der personalen Psychosomatik genügen, weil damit das zwar vernünftige und einsichtsvolle Mitmachen des Patienten bei einer Therapie gemeint ist, die aber allein vom Arzt bestimmt und vorgegeben wird. Vielmehr muß das Übertragungsgeschehen zwischen Arzt und Patient beachtet werden, das eine entscheidende und ausschlaggebende Bedeutung für den Verlauf des Gesprächs und der Erkrankung hat.

Psychosomatik heute

Trotz vieler Beteuerungen der Ärzte, sie würden sich um den "ganzen Menschen" kümmern, ist die Spaltung in einen naturwissenschaftlich-technischen und einen eher psychosozialen und die subjektiven Bedürfnisse des Menschen berücksichtigenden Medizinteil nicht überwunden. Der allergrößte Teil der Ausgaben fließt bekanntlich in den naturwissenschaftlich-technischen Teil, während die "sprechende Medizin", wie sie beispielsweise Heilpraktiker und Psychologen anbieten, zunehmend privat bezahlt werden. Die Psychosomatik scheint sogar auf dem Rückzug zu sein. Viele der in diesem Jahrhundert als "klassische" psychosomatische Krankheiten wie Magengeschwüre, Bluthochdruck und Asthma sind inzwischen in den Bereich der Medizin abgewandert, weil eine körperliche Prädisposition oder ein Bakterium als notwendige Bedingung zur Entwicklung des Krankheitsbildes gefunden wurde. Möglicherweise findet man bald auch in den letzten Domänen der Psychosomatik, den Schmerzstörungen und bestimmten Herzstörungen beispielsweise, eine organische Erklärung.

Auf der anderen Seite haben Psychologie und Psychosomatik den Blick dafür geschärft, daß jede körperliche Erkrankung von einer psychischen Reaktion begleitet wird und jegliche körperliche Störung Anlaß ist, sich Fragen zu stellen wie: Warum wurde ich krank? Warum erkranke ich gerade an dieser Krankheit? Was bedeutet diese Krankheit für mich? Wo gehe ich über mich hinweg? Wo kommt etwas bei mir zu kurz? Was kann ich in meinem Leben verändern oder verbessern? So gesehen läßt sich jede körperliche Krankheit einordnen in den großen Bereich der Somatopsychologie. Die Unterscheidung in psychische und physische Krankheiten ist kaum noch möglich, da alle Störungen als psychosomatisch bzw. somatopsychisch bzw. biopsychosozial angesehen werden können. Dieser Ansatz erlaubt es, mit Gegenmaßnahmen und Maßnahmen zur Prävention zu beginnen, noch ehe der letzte Kausalfaktor aufgeklärt ist. Die Psychosomatik als Fach hat dabei mit die Aufgabe, unter Berücksichtigung der biologischen, psychischen und sozialen Bedingungen die Selbstheilungskräfte des Erkrankten soweit als möglich zu stärken. (Kraiker/Peter 1998, 33)

Die gegenwärtige Medizin befindet sich dabei in einer seltsamen Situation: Den großen Fortschritten und Behandlungserfolgen steht gegenüber ein Unbehagen bei vielen Menschen an der Art und Weise, wie Ärzte mit ihnen umgehen, und nicht wenige konsultieren zusätzlich zu den Angeboten der gesetzlichen Krankenversicherung und Krankenversorgung paramedizinische Heiler oder gar Quacksalber.

Selbst in der Psychosomatik gibt es nur selten echte Zusammenarbeit. "In Deutschland stehen sich heute einerseits psychoanalytisch ausgebildete Ärzte und Psychologen in psychosomatischen Universitätskliniken bzw. psychoanalytischen Instituten und andererseits Psychologen gegenüber, die an den Universitäten ihre wissenschaftliche Orientierung und daneben eine verhaltens- oder gesprächstherapeutische Ausbildung erhalten haben, ohne daß es bisher zu einer Kooperation und zu einem intensiveren Austausch gekommen ist." (Bräutigam et al, 11)

Der Normalfall ist, daß ein Patient mit einem Symptom zunächst einmal den Allgemeinarzt oder seinen Hausarzt aufsucht. Untersuchungen von Wolfgang Wesiack beziffern den Anteil von Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen im engeren und weiteren Sinne auf 40 bis 60 Prozent. Wünschenswert wäre es, wenn der Allgemeinmediziner als Erstanlaufstelle über eine solide Kenntnis auf dem Gebiet der Psychosomatischen Medizin und Neurosenpsychologie verfügen würde, damit eine psychotherapeutische Behandlung gleich im Anfang einsetzen kann und eine Chronifizierung vermieden wird. Die größere Nähe von Arzt und Patient in der Allgemeinpraxis ist ein Vorteil, die wenige Zeit, die der Allgemeinmediziner für den einzelnen Patienten hat, ein Nachteil. Der Zeitdruck, unter dem der niedergelassene Arzt arbeitet, ist fast schon sprichwörtlich geworden. Die umfassende psychische und physische Anamneseerhebung in der Allgemeinpraxis bleibt wohl ein Wunschtraum, der nie zu verwirklichen sein wird. Die Überweisung in eine Fachklinik oder zu einem Facharzt erfolgt entweder zu schnell (der Hausarzt will den Patienten loswerden) oder zu spät (der Hausarzt erkennt die psychosomatische Genese nicht) und ist ein ständiger Zankapfel zwischen den Fachdisziplinen. (Beispiel bei Wesiack, Kindlers Psychosomatik, Band 1, 334 f.) Die Notwendigkeit einer adäquaten Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen wird also erkannt, doch nur ein Bruchteil der Patienten kommt bei der derzeitigen Struktur des Gesundheitswesens in deren Genuß. Der niedergelassene Allgemeinarzt ist in ganz besonderer Weise dazu berufen, psychosomatische Medizin zu betreiben, und ist doch am wenigsten darauf vorbereitet und technisch in der Lage. (Kindlers Psychosomatik, Band 1, 321 - 340)

Trotzdem ist Psychosomatik, genauer gesagt die philosophisch orientierte "personale Psychosomatik", nach wie vor die Antithese gegen die herrschende Medizinauffassung, die den Menschen auf seine Krankheit oder ein krankhaftes Organ reduziert und ihn von seinem innerpsychischen Erleben und seiner Umwelt trennt. Es bleibt die grundsätzliche Skepsis, ob über das Verständnis der Abläufe im Körperinnern auf molekularer Basis der Mensch als Individuum und Person erkannt und gewürdigt werden kann. Die personale Psychosomatik verfolgt pragmatisch die Tendenz, einerseits bei körperlichen Krankheiten die psychische Seite mitzuverstehen und in die Behandlung mit einzubeziehen, andererseits Neurosen zu behandeln, die auch eine physische Manifestationsseite haben. Nur langsam öffnen sich Mediziner diesen Aspekten über die Konzepte von Coping und Compliance, die allerdings nur Teilaspekte eines umfassenderen Zugangs zum Menschen als bio-psycho-soziales System darstellen.

Ganz wesentlich für die Zurückhaltung spielt eine Rolle der Kostendruck in der Medizin, der vom Zeitdruck nicht zu trennen ist. Den kranken Menschen als erlebendes und handelndes Wesen in seiner Umwelt und in der Wechselwirkung mit seinen kulturellen Werten und Normen zu sehen bedeutet, viel Zeit mit ihm zu verbringen. Es ist die Frage, wo in der Praxis des niedergelassenen Arztes oder im Klinikbetrieb die Zeit hergenommen werden soll, um die Wahrheit einer Erkrankung oder eines Leides zu verbalisieren und ans Licht zu heben. Diese Aufmerksamkeit zu geben wird in der Medizin den Ärzten kaum zugestanden; eher schon sind Psychotherapeuten in der Lage, in ausführlichen Gespräche diese Zusammenhänge aufzuhellen.

Andererseits stellt sich die Frage, ob bei jeder Erkrankung die Tiefenstruktur und das personale Element in ihrem ganzen Umfang erkannt werden kann? Und sollte wirklich jedes Symptom und jede noch so banale Krankheit problematisiert werden? Ist die intensive Beziehungsaufnahme und das Durchsprechen der Lebenssituation eines Patienten notwendig und sinnvoll, wenn dieser gut mit seiner Krankheit umgehen kann, vernünftig mit den Ärzten zusammenarbeitet und hoffnungsvoll auf die Überwindung und erneute Gesundung hinlebt? Wie im Bereich der technischen Medizin kann es auch in der Psychosomatik eine Überdiagnostik und ein verkrampftes Suchen nach dem vermeintlich geheimen Sinn einer Erkrankung in bezug auf die Gesamtperson des Patienten geben. Vor allem Infektionskrankheiten und Unfälle, die einem geschehen, können völlig sinnlos und ohne einen wirklichen Bezug zum eigenen Leben stattfinden. Ihr Grund liegt im Zufall und in sonst wenig mehr, wenngleich das Psychologische dann wieder in der Verarbeitung dieser Zufälle und des Zugestoßenen liegt.

Anders sieht es bei den chronischen und langanhaltenden Erkrankungen aus, die das eigentliche Feld der Psychosomatiker sind. Hier gibt erst das gemeinsame Verstehen der Lebensgeschichte, die sich im ärztlichen Gespräch oder in der Psychotherapie erweist, dem Krankheitsgeschehen eine Bedeutung. Heute ist der Ansatz weit gefaßt. Man würdigt die Bedeutung von Anlagefaktoren und die damit gegebene individuelle körperliche Disposition sowie die auslösenden und krankheitserhaltenden psychologischen Faktoren. Zu den unter Umständen angeborenen Krankheitsbereitschaften müssen herausgearbeitet werden lebensgeschichtliche Belastungssituationen sowie die Dynamik zwischen innerpsychischer Verarbeitung und sozialem Umfeld, die eine Krankheit oder Störung am Leben erhält und in chronische Verläufe einmünden läßt. Das Meistern der Krankheit (Coping) und das Annahmen des medizinisch Erforderlichen (Compliance) muß oft erst erlernt werden.

Heilung oder Linderung ist möglich, wenn die Krankheit, das auf den ersten Blick Sinnlose, in sinnvolle Beziehung zur Biographie des Erkrankten gesetzt wird und wenn sich aus den alten Gestalten der Pathologie neue Formen und Ordnungen der Gesundheit ergeben. Die nur technisch orientierte Medizin läßt Arzt und Patient diesbezüglich ins Leere laufen. Es ist mit Recht beklagt worden, daß die biographische Medizin, die Erfassung psychosozialer Dimensionen sowie die personale Beziehungsaufnahme zu dem Patienten an den Rand gedrängt werden und in der Hand von jungen Ärzten oder konsiliarisch tätigen Psychosomatikern liegen. Die Zukunft wird deshalb der engen und gleichberechtigten Zusammenarbeit von Psychologen und Ärzten in Krankenhäusern und Praxen gehören, wenn nicht sogar dem philosophischen Arzt, der neben seinem medizinischen und tiefenpsychologischen Wissen auch philosophische Lebenskenntnisse mit einbringt und der auch zeitlich in die Lage versetzt wird, das Gespräch darüber zu führen.

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(19. November 1997)