Deutschland-Analyse des "Economist": Vormacht ohne Mumm
Deutschland ist unangefochtene Vormacht in Europa - aber das Land will die Rolle bisher nicht annehmen. So sieht es der "Economist", das einflussreichste Wirtschaftsmagazin der Welt in einem Länderreport. Die Prognose der Briten ist überraschend optimistisch.
Hamburg/London - Wenn sich der "Economist" in der Vergangenheit intensiv mit Deutschland befasste, bewies das Leitmedium der Weltwirtschaft meist erstaunlich treffsichere Weitsicht. So etwa, als es das Land 1999 zum "kranken Mann Europas" ernannte - und Deutschland in den folgenden Jahren bei Wachstum und Jobs scheinbar hoffnungslos von den Nachbarländern überholt wurde.
2005 dann, wenige Monate vor der Bundestagswahl und kurz nach der Einführung von Hartz IV, setzte das Londoner Blatt einen muskelbepackten Bundesadler auf die Titelseite und pries "Deutschlands überraschende Wirtschaft" - obwohl das Heer der Arbeitslosen weiterhin riesig und das Wachstum mau war. Die folgenden Jahre entwickelte sich die Bundesrepublik zur wirtschaftlichen Vormacht Europas.
Nun veröffentlicht der "Economist" erneut ein Deutschland-Spezial - und bildet auf dem Cover wieder den Bundesadler ab, der einen Flügel abwehrend vor den Kopf hält. Das Blatt zeichnet das Bild eines Landes, das weiter sehr gute Aussichten auf wirtschaftliche Prosperität hat, zugleich aber Probleme, die eigene Stärke und Bedeutung anzuerkennen. Ein Großteil der 15 Seiten befasst sich mit den Schwierigkeiten, die das Land mit der Rolle als dominierende europäische Wirtschaftsmacht hat - mit Folgen für alle Europäer: "Die Frage ist nicht mehr, ob Deutschland Europa in eine bessere Zukunft führen kann - sondern ob es den Willen dazu hat", bringt es das Magazin aus London auf den Punkt.
Die Antwort darauf ist eine zweigeteilte: Kurzfristig wird sich die Haltung Deutschlands kaum ändern, denn sie sei über alle Partei- und gesellschaftlichen Grenzen hinweg Konsens. Aber mittel- und langfristig stünden die Chancen gut, dass Deutschland zu einem "willigen Hegemon" werde.
Das Land müsse und werde sich wegen der wachsenden Überalterung und dem absehbaren Arbeitskräftemangel ohnehin stark wandeln: Viele Fachkräfte würden vor allem aus dem europäischen Ausland einwandern, zudem würden Frauen wesentlich mehr arbeiten als bislang. Das - so schließt das Blatt - würde Deutschland zu einem "modernen europäischen Schmelztiegel" machen - und allein dadurch die Selbstfixiertheit der Deutschen aufbrechen.
Deutschland hatte vor allem Glück
Zurzeit pflege Deutschland noch mit Vorliebe das Selbstbild einer ziemlich großen Ausgabe der Schweiz: wirtschaftlich erfolgreich, aber politisch ein Zwerg. Das sei historisch nachvollziehbar, aber gefährlich. Denn es verhindere, dass die deutsche Politik einen wirklich europäischen Blick entwickele.
Das sei vor allem an dem Euro-Krisenmanagement der Regierung von Angela Merkel zu erkennen. Deutschland versuche, den Krisenländern die eigenen Erfolgsrezepte aufzuzwingen - habe aber selbst ein verschwommenes Bild davon, welche Faktoren zum eigenen Erstarken geführt hätten. So seien die Agenda-Reformen, die Lohnzurückhaltung und der starke Export nicht allein dafür verantwortlich gewesen. Einiges sei schlicht auch auf pures Glück zurückzuführen - nämlich, dass durch den Aufstieg der Schwellenländer wie China oder Brasilien in den vergangenen zehn Jahren just jene Produkte gefragt waren, in denen Deutschland Spitze ist: Autos, Chemie, Maschinen.
Aber auch die Energiewende bewerten die Londoner Wirtschaftsjournalisten als Ausdruck für die Unfähigkeit der Deutschen, im europäischen Ausmaß strategisch zu denken. Dabei hebt das Blatt durchaus die Chancen hervor - etwa die Marktführerschaft bei grünen Zukunftstechnologien. Es kritisiert aber die Umsetzung, die für einen Teil der Wirtschaft und für die Privathaushalte zu horrenden Energiepreissteigerungen führten, während große Teile der Industrie kaum an den Kosten beteiligt werden.
Vor allem sei die Energiewende aber ein nationaler Alleingang, nicht abgestimmt mit den europäischen Nachbarn, obwohl diese durch den grenzüberschreitenden Stromhandel durchaus betroffen sind.
Deutschland könne sich daher für sein Rollenverständnis ein Beispiel an den USA nehmen. Die Amerikaner hätten noch in den dreißiger Jahren jede Verantwortung für den Rest der Welt abgelehnt - nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch einen institutionellen Rahmen für den ganzen Globus geschaffen. Das müsse Deutschland gar nicht tun, es reiche, wenn es federführend darüber nachdenke, wie die verschiedenen Volkswirtschaften der Euro-Zone besser zusammenpassen.
Eine Hoffnung setzt der "Economist" dabei auf einen Wahlsieg Angela Merkels. Die Kanzlerin werde in ihrer dritten Amtszeit auf ihren Platz in den Geschichtsbüchern schielen - und danach trachten, als Retterin Europas darin einzugehen. Und nicht als diejenige, die Europa erlaubte zu scheitern.
fdi
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