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Reinhard Jirgl "Oben das Feuer, unten der Berg": Mörder unter uns | Literatur - Frankfurter Rundschau
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Literatur

19. Februar 2016

Reinhard Jirgl "Oben das Feuer, unten der Berg": Mörder unter uns

 Von Jürgen Verdofsky
Endlose Jahre in Bautzen.  Foto: epd-bild

Das Land von seinen Verbrechen her verstehen: Reinhard Jirgls Roman „Oben das Feuer, unten der Berg“.

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Den Mördern wird viel aufgeladen. Reinhard Jirgls Roman „Oben das Feuer, unten der Berg“ ist das Wagnis, hinter einer Staatsauflösung abgründige Mordsgeschichten aufblitzen zu lassen. Die Verbrechen sind näher, als man glaubt – sie sind gegenwärtig. Stark verdichtete Fallgeschichten, jede für sich nicht auszudenken. Und Jirgl bleibt Jirgl: Algebraische Textbilder, trigonometrische Interpunktion als retardierende Störungen im Erzählgewebe. Kalkulierte Regelverletzungen. Ein semantischer Aktivismus, Leser achtsam zu halten: „in=Angst&furcht saßen 2 Menschen die Ganzenacht, wachend auf Dasunglück das kommen soll : !Jetzt ist Es soweit : …“ Die allegorische Zerstückelung rafft das Geschehen: Angst ist sozusagen ganz Richtung geworden.

Nicht nur sprachlich weht bei diesem Büchner-Preisträger ein anderer Wind. Jirgl verlässt häufiger den realistischen Sektor und wird auch Rosenholz spalten. Hervorgehoben bleiben dunkle Stirnseiten der Geschichte und Gegenwart. Verschattete Lebensläufe spannen sich wie Hängebrücken. Lebensbeichten, Anschuldigungen, Geständnisse fallen herab wie Hagel. Und ein Ende, das kein Verzeihen oder Erlösen kennt.

Vier Frauen wurden ermordet, Leichenbilder mit zugenähten Augen. Einem Kripo-Mann aus Hannover, schon lange kopfüber in den Routinen des vereinten Berlin, wird eine Vermisste gemeldet. Der fünfte Fall? Ein alter Mann sucht seine Adoptivtochter Theresa. Sein Bekenntniszwang kennt keine Besinnung. Der Kommissar glaubt die Welt zu kennen, besonders die alten Geschichten. Ein Trugschluss bis zum Ende, „jeder Schritt seiner Erfolge führte ihn tiefer ins=Verderben“. Die Wahrheit liegt woanders.

Das Buch

Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg. Roman. Hanser Verlag, München 2016. 288 Seiten, 22,90 Euro.

Zum Anlass für den Fluch dreier Generationen wird die „Bodenreform“ der Nachkriegszeit in der Altmark. Ein enteigneter Bauernsohn und seine Frau geben Nachrichten von der Nazi-Vergangenheit des örtlichen SED-Gewaltigen weiter, bis sie sich einfügen in westliche Zeitungsberichte über den Anteil ehemaliger NSDAP-Pgg. unter Volkskammer-Abgeordneten. Sie hätten 1956 Fraktionsstärke gehabt: 42 Prozent. Die Ahndung des Gesichtsverlustes liest sich wie Klartext aus dem Lehrbuch des Stalinismus. Verhaftung und Verurteilung des Ehepaares zu je 15 Jahren Zuchthaus „wegen Spionage Staatsfeindlicherhetze & Verunglimpfungführenderpersönlichkeiten“.

Die dreijährige Tochter Theresa kommt zu staatstreuen Adoptiveltern. Ein Sohn wird im Zuchthaus geboren und von Heim zu Heim gereicht: „Willfried-mit-2-L“. Endlose Jahre in Bautzen, zwei entrissene Kinder – ein Scheitern vieler Leben ist von diesem Verhängnis umschlossen, das den Menschen die Luft nimmt, alles kleine Leute. Nur für Theresa beginnt es anders. Eine Karriere als Historikerin schafft die Fallhöhe, bis sie sich bei ihren Forschungen in „bodenloser Naivität“ die Gesinnung lädiert an Staatspraktiken, die so geheim sind, dass sie selbst als Dementis unaussprechbar bleiben.

Aber auch nach der Wende, der Jirgl das Begriffsungeheuer „Großer-Bürokratischer-Umbau“ als Kainsmal aufbrennt, bleiben Theresas Entdeckungen tabuisiert, wie es für gewisse Manöver im deutsch-deutschen Abgleich zu gelten scheint. Untaten größeren Stils werden so lange beschwiegen, bis sie keine Schatten mehr werfen. Theresa wird suspendiert, gekündigt, jede Bewerbung hintertrieben. Eine auf Grund laufende Ost-Intellektuelle: „1 Deg-Radierte mit ausgelöschtem Forschungsgebiet.“ Abstieg der promovierten Partei-Historikerin zur promiskuitiven Klofrau.

In einer bis zum Verschwinden reifen Einsamkeit sucht sie den Ort auf, an dem der Adoptivvater ihr einst die wahre Herkunft enthüllte: Kind von „Spionen“ zu sein, die unmittelbar nach dem Knast „unter-ungeklärten-Umständen“ starben. Die Grabstelle dieser Eltern wird zum mythischen Ort für Theresas Flucht vor diesem Leben. Während sie hier im Frost unter den gestaltlosen Umrissen ihrer Angst zu verdämmern scheint, gilt sie als vermisst. Der getriebene Kommissar rettet sie in letzter Minute. Ihre einzigen Worte: „Ich weiß es schon.“ Doch was weiß sie? Dass der ihr unbekannte Bruder Willfried ein gesuchter Mörder sei? Am Fundort gibt es Spuren eines Mannes, „wie ein Wolf auf seiner Pirsch“. Die Fahndung belebt sich.

Im Zuchthaus geboren

Aber wie ein Lupus in fabula stellt sich der verdächtigte Willfried selbst: Sein falsch geschriebener Name im Fahndungsaufruf hatte genügt. Im Zuchthaus geboren, nach einer Tour de Force durch Heime und Jugendwerkhöfe, implodierter Adoption, gescheiterter Ausbildung: Das böse Kind schlechthin und jederzeit! Fremdling und Außenseiter. „1 × richtig gekillt, Herr Kommissar, & Sie wissen, was Ficken fürn schäbiger Ersatz is.“ Aber Frauenmörder will er nicht sein, im Verhör redet er sich in eine andere Killer-Liga, gründlich im Detail. Der Kripo-Mann staunt, „ich wollte dieses Land von seinen=Verbrechen her verstehen“, und erkennt die Falle nicht. Willfried wurde bei seinem Wehrdienst von einem Infamulus quasistasi für die „KOZERO GmbH – die ,Kommerzielle Zersetzung der Opposition‘ in der DeDeR“ angeworben. Im tiefsten Stollen aller Staatsgeheimnisse: „Aus-Bildung=zum-Berufsmörder“.

Mit der werbenden Aufbereitung eines Stasi-Killers gelingt Jirgl eine Ur-Szene. Das war so noch nicht zu lesen. Durch Unmenschlichkeit zur Gerechtigkeit – uferloser Zynismus in der Mechanik der Macht. Zielpersonen des ersten Auftragsmordes sind Willfrieds leibliche Eltern, die aus Bautzen entlassen, hinter sein Berufsgeheimnis kamen. Willfried entzieht sich diesem Auftrag, fällt seinem Co-Killer, „immer-zu-zweit“, aber auch nicht in den Arm. Seitdem folgt ihm die Schwarmlinie der Jäger.

Die Kern-Stränge dieses „Amoklaufs im Erzählen“ werden nicht um ihrer selbst willen gestrafft. Jirgls narrativer Feuerstrahl ist nicht durch Deutung abzukürzen, abzumildern oder abzubremsen. Sein Romangebäude bleibt ein Stolper-Labyrinth, auch weil seine Erzählmaschine keinen Gleichlauf kennt. Sie tourt und bebt ununterbrochen. Ihr permanenter Fortlauf ist eine große Denk- und Empathie-Leistung. Ja, eine Maschine, deren Fortbewegung mit „Baggerschaufeln Abraum aus dem Erd-Reich, um All-Tag aus Rache & Vergeltung ans=Licht“ befördert. Dabei werden Teilgeschichten und Nebensachen ebenso freigelegt, wie große archaische Zerrüttungsbilder einer untergegangenen, aber nicht bewältigten Zeit. Dazu gehören eindringliche Gefängnisszenen: Geburt hinter Gittern, Hierarchie und Regelwelt, Zellenspitzel und Selbstjustiz.

Auch wenn Jirgl sich in seinen diskursiven Allegorien jeder moralischen Zuordnung enthält, die Unterscheidung in „Gut und Böse“ flieht, nicht zuletzt auf polare Urkräfte setzt, bleibt der Klappentext-Hinweis auf das altchinesische Orakel I-Ging für Leser eine Beschwichtigung. Selbst das offene Ende im Jahr 2020, wenn tribalistische Gruppen in den Randbezirken Berlins den Rest erledigen, ist ein literarischer Ausflug, kein Orakel. Aber: Wen es danach verlangt, Jirgl zu einem Neo-Konservativen zu vereinfachen, sollte von den Fluchtszenen indonesischer Schutzsuchender in diesem Buch gelesen haben: „Diewassermassen der Meere, aufgestemmt die blanken Wellenrücken … Regenfluten dreschen … auf die Flüchtenden in windsigen Booten.“

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